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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Dichterfreundinnen.

und dünkelhafter Vornehmthuerei führte. Merkwürdigerweise verband sich mit
dieser Geistesaristokratie keineswegs eine sittlich vornehme Haltung. Selbst in
den Universitätskreisen herrschte eine auffallende Nachlässigkeit der Aufführung.
Die Professorentöchter verkehrten in so ungezwungener Weise mit den Studenten,
daß ihr guter Ruf öfter in Gefahr kam, und die jungen Herren gefielen sich
in lockern Sitten. Es scheint sogar, als ob die Gelehrtesten unter den Ge¬
lehrten sich am wenigsten mit der Überwachung ihrer Familie befaßt hätten.
Die Häuser Michaelis und Hahne waren glänzende Mittelpunkte des geselligen
Verkehrs, aber viel zu geräuschvoll für stille Ehrbarkeit. Ein Bruder Karo-
linens war in die Skandalgeschichte der dritten Ehe des Dichters Bürger tief
verwickelt, und der alte betrogene Ehemann spricht nicht in den glimpflichsten
Ausdrücken von der Familie Michaelis. Auch ihre beiden Schwestern waren
sinnliche, leichtfertige Naturen. Heynes zweite Frau galt für eine Kokette, die
sich von Zeit zu Zeit lächerlich machte, und über die Tochter Mariane schreibt
Forster an seinen Freund Sömmering am 16. Januar 1783: "Das weiß ich
und sage es dir im engsten Vertrauen: die Hofrätin iHehne^ schrieb an Therese:
sie Warianej sei nicht gesund, aber Gott sei Dank nicht schwanger." Was in
dieser leichtlebigen Zeit bei gewöhnlichen Naturen als grobe Sinnlichkeit zu
Tage trat, nahm bei geistig beweglicheren die Form des freien Tones, der
genialen Emanzipation an. "Meine Lage -- sagt Therese Heyne von sich --
war von der Lage andrer Mädchen so verschieden wie meine Erziehung, und
mein Schicksal, Unschuld und Stolz verhinderten mich, je einen Schritt heimlich
zu thun; was ich für unsträflich hielt, that ich öffentlich, ließ mir die Cour
machen, lachte, lärmte, und heimlich lästerte man mich für meine öffentliche
Unbefangenheit. Mein Verdienst als ein interessantes Mädchen und der Eigen¬
sinn, das Schicksal brachten mich in Lagen, die man gewöhnlich nur in Ro¬
manen findet, wo ich nur mit geradem Menschensinn, ohne Intrigue handelte
und also wieder unbegreiflich ward. Um wirkliches Übel zu vermeiden, opferte
ich das Pi'su äiiA-t-on? auf und ward falsch beurteilt. Ich habe in Gegen¬
wart meines Mannes über keinen Augenblick meiner Jugend zu erröten und
kann stolz sein auf die Augenblicke, wo Frau Gevatterinnen gerade ein Kreuz
machten." Ganz genau so dachte und handelte Karoline Michaelis als Mädchen,
aber was Therese an sich lobt, tadelt sie an der Freundin. In einem Briefe
aus dem Jahre 1784 nennt sie Karoline Michaelis ein sehr kluges Mädchen,
das klügste, das sie in Göttingen kenne. Dann fährt sie fort: "Sie hat aber
.zu viel Eitelkeit, um ohne Falsch zu sein, und zu wenig Welt und Erfahrung,
um Toleranz zu besitzen. Vor wenigen Jahren geriet sie durch Unerfahrenheit
und die Gesellschaft eines unnützen Mädchens in sehr zweideutigen Ruf und
beging aus Eitelkeit und Neid (die natürliche Folge der Eitelkeit, wenn nicht
Stolz und inneres Gefühl seines Wertes sie überwinden) einige wirklich bos¬
hafte und unvorsichtige Streiche; dieses giebt ihr jetzt den Anschein von Prü-


Dichterfreundinnen.

und dünkelhafter Vornehmthuerei führte. Merkwürdigerweise verband sich mit
dieser Geistesaristokratie keineswegs eine sittlich vornehme Haltung. Selbst in
den Universitätskreisen herrschte eine auffallende Nachlässigkeit der Aufführung.
Die Professorentöchter verkehrten in so ungezwungener Weise mit den Studenten,
daß ihr guter Ruf öfter in Gefahr kam, und die jungen Herren gefielen sich
in lockern Sitten. Es scheint sogar, als ob die Gelehrtesten unter den Ge¬
lehrten sich am wenigsten mit der Überwachung ihrer Familie befaßt hätten.
Die Häuser Michaelis und Hahne waren glänzende Mittelpunkte des geselligen
Verkehrs, aber viel zu geräuschvoll für stille Ehrbarkeit. Ein Bruder Karo-
linens war in die Skandalgeschichte der dritten Ehe des Dichters Bürger tief
verwickelt, und der alte betrogene Ehemann spricht nicht in den glimpflichsten
Ausdrücken von der Familie Michaelis. Auch ihre beiden Schwestern waren
sinnliche, leichtfertige Naturen. Heynes zweite Frau galt für eine Kokette, die
sich von Zeit zu Zeit lächerlich machte, und über die Tochter Mariane schreibt
Forster an seinen Freund Sömmering am 16. Januar 1783: „Das weiß ich
und sage es dir im engsten Vertrauen: die Hofrätin iHehne^ schrieb an Therese:
sie Warianej sei nicht gesund, aber Gott sei Dank nicht schwanger." Was in
dieser leichtlebigen Zeit bei gewöhnlichen Naturen als grobe Sinnlichkeit zu
Tage trat, nahm bei geistig beweglicheren die Form des freien Tones, der
genialen Emanzipation an. „Meine Lage — sagt Therese Heyne von sich —
war von der Lage andrer Mädchen so verschieden wie meine Erziehung, und
mein Schicksal, Unschuld und Stolz verhinderten mich, je einen Schritt heimlich
zu thun; was ich für unsträflich hielt, that ich öffentlich, ließ mir die Cour
machen, lachte, lärmte, und heimlich lästerte man mich für meine öffentliche
Unbefangenheit. Mein Verdienst als ein interessantes Mädchen und der Eigen¬
sinn, das Schicksal brachten mich in Lagen, die man gewöhnlich nur in Ro¬
manen findet, wo ich nur mit geradem Menschensinn, ohne Intrigue handelte
und also wieder unbegreiflich ward. Um wirkliches Übel zu vermeiden, opferte
ich das Pi'su äiiA-t-on? auf und ward falsch beurteilt. Ich habe in Gegen¬
wart meines Mannes über keinen Augenblick meiner Jugend zu erröten und
kann stolz sein auf die Augenblicke, wo Frau Gevatterinnen gerade ein Kreuz
machten." Ganz genau so dachte und handelte Karoline Michaelis als Mädchen,
aber was Therese an sich lobt, tadelt sie an der Freundin. In einem Briefe
aus dem Jahre 1784 nennt sie Karoline Michaelis ein sehr kluges Mädchen,
das klügste, das sie in Göttingen kenne. Dann fährt sie fort: „Sie hat aber
.zu viel Eitelkeit, um ohne Falsch zu sein, und zu wenig Welt und Erfahrung,
um Toleranz zu besitzen. Vor wenigen Jahren geriet sie durch Unerfahrenheit
und die Gesellschaft eines unnützen Mädchens in sehr zweideutigen Ruf und
beging aus Eitelkeit und Neid (die natürliche Folge der Eitelkeit, wenn nicht
Stolz und inneres Gefühl seines Wertes sie überwinden) einige wirklich bos¬
hafte und unvorsichtige Streiche; dieses giebt ihr jetzt den Anschein von Prü-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/138>, abgerufen am 22.07.2024.