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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Die Naturforscherversammlung und das Gymnasium.

vositüt und Blutarmnt, die so oft sich als traurige Gefährten der in den
Städten aufwachsenden Jugend zugesellen, werden nicht bloß auf den Schul¬
bänken herangezogen, sie entstehen schon im Elternhause in den dunkeln, dicht¬
bewohnten und schlechtgelüfteten Zimmern, zumal wenn es noch an geeigneter
Nahrung und Körperpflege fehlt. Und sind nicht anderseits die Frühreife
unsrer Jugend, der weitverbreitete und schon oft beklagte Hang zur Zerstreuung,
die in zahlreichen begüterten Familien geduldete Genußsucht ärgere Feinde des
heranwachsenden Geschlechts als die Ansprüche, welche von seiten des Unterrichts
an Geist und Körper gestellt werden? Noch vor zwanzig, ja vor zehn Jahren
mußte man die Klage über die Vernachlässigung der Gesundheit durch die
Schule einschließlich des Gymnasiums berechtigt nennen. Seitdem aber das Thema
der Überbürdung in der Presse und in Versammlungen so vielfach behandelt
worden ist, hat denn doch ein merklicher Umschwung zum Bessern stattgefunden,
und die Gesundheitspflege, vor Jahrzehnten in der Schule so gut wie unbe¬
kannt, beginnt eine wesentliche Macht im Leben unsrer Unterrichtsanstalten
zu werden. Freilich stehen wir erst am Anfange der Bahn. Bis sich alle
Wünsche erfüllt habe", wird noch mancher Tropfen Wasser zum Meere gehen.
Aber gerade von der letzten Naturforscherversammlung sind wieder zahlreiche
Anregungen ausgegangen, von denen manche sicherlich ans fruchtbaren Boden
fallen werden. Ist die Kurzsichtigkeit des jetzt lebenden Geschlechtes sicherlich
zum größten Teile eine Folge der Unterlassungssünde", welche unsre Väter und
Vorväter an der Schule und ihren Einrichtungen freilich mehr unwissentlich
und gezwungen als wissentlich und freiwillig begangen haben, so muß es die
Sorge der Gegenwart sein, den Nachkommen die Gesundheit des Auges zurück¬
zugeben.

Noch eines aber muß gesagt werden. Wenn wirklich -- wie behauptet
wird -- auch jetzt noch in den Gymnasien Geist und Körper der Zöglinge
überladen werden, tragen denn einzig und allein die alten Sprachen die Schuld
daran? Sie sind und bleiben den Männern der exakten Wissenschaft ein Dorn
im Auge und ein Pfahl im Fleische. Aber mutet denn die Mathematik, das
Schoßkind unsrer Zukunftspädagogen, dem Kopf und dem Auge nicht gleiche,
ja größere Anstrengungen zu als das Lateinische und das Griechische? Herr
Preyer hat von dem Götzendienst gesprochen, der mit den toten Sprachen ge¬
trieben werde. Er weiß nicht oder will es nicht wissen, daß die Zeit bereits
gekommen ist, wo dem Abgotte der modernen Wissenschaft, der Mathematik,
ganze Hekatomben geopfert werden. Die Zeiten, wo man zufrieden war, wenn
ein halbes Dutzend Schüler dem mathematischen Unterrichte mit voller Teil¬
nahme und vollem Verständnis bis zur Primn hinauf zu folgen vermochte,
sind längst vorüber. Heute ist die Mathematik den alten Sprachen als "gleich¬
berechtigt" an die Seite getreten, und zahlreich sind die Knaben und Jünglinge,
welche ihr dienen mit Furcht und mit Zittern. Wir wollen das Wort des


Die Naturforscherversammlung und das Gymnasium.

vositüt und Blutarmnt, die so oft sich als traurige Gefährten der in den
Städten aufwachsenden Jugend zugesellen, werden nicht bloß auf den Schul¬
bänken herangezogen, sie entstehen schon im Elternhause in den dunkeln, dicht¬
bewohnten und schlechtgelüfteten Zimmern, zumal wenn es noch an geeigneter
Nahrung und Körperpflege fehlt. Und sind nicht anderseits die Frühreife
unsrer Jugend, der weitverbreitete und schon oft beklagte Hang zur Zerstreuung,
die in zahlreichen begüterten Familien geduldete Genußsucht ärgere Feinde des
heranwachsenden Geschlechts als die Ansprüche, welche von seiten des Unterrichts
an Geist und Körper gestellt werden? Noch vor zwanzig, ja vor zehn Jahren
mußte man die Klage über die Vernachlässigung der Gesundheit durch die
Schule einschließlich des Gymnasiums berechtigt nennen. Seitdem aber das Thema
der Überbürdung in der Presse und in Versammlungen so vielfach behandelt
worden ist, hat denn doch ein merklicher Umschwung zum Bessern stattgefunden,
und die Gesundheitspflege, vor Jahrzehnten in der Schule so gut wie unbe¬
kannt, beginnt eine wesentliche Macht im Leben unsrer Unterrichtsanstalten
zu werden. Freilich stehen wir erst am Anfange der Bahn. Bis sich alle
Wünsche erfüllt habe», wird noch mancher Tropfen Wasser zum Meere gehen.
Aber gerade von der letzten Naturforscherversammlung sind wieder zahlreiche
Anregungen ausgegangen, von denen manche sicherlich ans fruchtbaren Boden
fallen werden. Ist die Kurzsichtigkeit des jetzt lebenden Geschlechtes sicherlich
zum größten Teile eine Folge der Unterlassungssünde», welche unsre Väter und
Vorväter an der Schule und ihren Einrichtungen freilich mehr unwissentlich
und gezwungen als wissentlich und freiwillig begangen haben, so muß es die
Sorge der Gegenwart sein, den Nachkommen die Gesundheit des Auges zurück¬
zugeben.

Noch eines aber muß gesagt werden. Wenn wirklich — wie behauptet
wird — auch jetzt noch in den Gymnasien Geist und Körper der Zöglinge
überladen werden, tragen denn einzig und allein die alten Sprachen die Schuld
daran? Sie sind und bleiben den Männern der exakten Wissenschaft ein Dorn
im Auge und ein Pfahl im Fleische. Aber mutet denn die Mathematik, das
Schoßkind unsrer Zukunftspädagogen, dem Kopf und dem Auge nicht gleiche,
ja größere Anstrengungen zu als das Lateinische und das Griechische? Herr
Preyer hat von dem Götzendienst gesprochen, der mit den toten Sprachen ge¬
trieben werde. Er weiß nicht oder will es nicht wissen, daß die Zeit bereits
gekommen ist, wo dem Abgotte der modernen Wissenschaft, der Mathematik,
ganze Hekatomben geopfert werden. Die Zeiten, wo man zufrieden war, wenn
ein halbes Dutzend Schüler dem mathematischen Unterrichte mit voller Teil¬
nahme und vollem Verständnis bis zur Primn hinauf zu folgen vermochte,
sind längst vorüber. Heute ist die Mathematik den alten Sprachen als „gleich¬
berechtigt" an die Seite getreten, und zahlreich sind die Knaben und Jünglinge,
welche ihr dienen mit Furcht und mit Zittern. Wir wollen das Wort des


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[0131] Die Naturforscherversammlung und das Gymnasium. vositüt und Blutarmnt, die so oft sich als traurige Gefährten der in den Städten aufwachsenden Jugend zugesellen, werden nicht bloß auf den Schul¬ bänken herangezogen, sie entstehen schon im Elternhause in den dunkeln, dicht¬ bewohnten und schlechtgelüfteten Zimmern, zumal wenn es noch an geeigneter Nahrung und Körperpflege fehlt. Und sind nicht anderseits die Frühreife unsrer Jugend, der weitverbreitete und schon oft beklagte Hang zur Zerstreuung, die in zahlreichen begüterten Familien geduldete Genußsucht ärgere Feinde des heranwachsenden Geschlechts als die Ansprüche, welche von seiten des Unterrichts an Geist und Körper gestellt werden? Noch vor zwanzig, ja vor zehn Jahren mußte man die Klage über die Vernachlässigung der Gesundheit durch die Schule einschließlich des Gymnasiums berechtigt nennen. Seitdem aber das Thema der Überbürdung in der Presse und in Versammlungen so vielfach behandelt worden ist, hat denn doch ein merklicher Umschwung zum Bessern stattgefunden, und die Gesundheitspflege, vor Jahrzehnten in der Schule so gut wie unbe¬ kannt, beginnt eine wesentliche Macht im Leben unsrer Unterrichtsanstalten zu werden. Freilich stehen wir erst am Anfange der Bahn. Bis sich alle Wünsche erfüllt habe», wird noch mancher Tropfen Wasser zum Meere gehen. Aber gerade von der letzten Naturforscherversammlung sind wieder zahlreiche Anregungen ausgegangen, von denen manche sicherlich ans fruchtbaren Boden fallen werden. Ist die Kurzsichtigkeit des jetzt lebenden Geschlechtes sicherlich zum größten Teile eine Folge der Unterlassungssünde», welche unsre Väter und Vorväter an der Schule und ihren Einrichtungen freilich mehr unwissentlich und gezwungen als wissentlich und freiwillig begangen haben, so muß es die Sorge der Gegenwart sein, den Nachkommen die Gesundheit des Auges zurück¬ zugeben. Noch eines aber muß gesagt werden. Wenn wirklich — wie behauptet wird — auch jetzt noch in den Gymnasien Geist und Körper der Zöglinge überladen werden, tragen denn einzig und allein die alten Sprachen die Schuld daran? Sie sind und bleiben den Männern der exakten Wissenschaft ein Dorn im Auge und ein Pfahl im Fleische. Aber mutet denn die Mathematik, das Schoßkind unsrer Zukunftspädagogen, dem Kopf und dem Auge nicht gleiche, ja größere Anstrengungen zu als das Lateinische und das Griechische? Herr Preyer hat von dem Götzendienst gesprochen, der mit den toten Sprachen ge¬ trieben werde. Er weiß nicht oder will es nicht wissen, daß die Zeit bereits gekommen ist, wo dem Abgotte der modernen Wissenschaft, der Mathematik, ganze Hekatomben geopfert werden. Die Zeiten, wo man zufrieden war, wenn ein halbes Dutzend Schüler dem mathematischen Unterrichte mit voller Teil¬ nahme und vollem Verständnis bis zur Primn hinauf zu folgen vermochte, sind längst vorüber. Heute ist die Mathematik den alten Sprachen als „gleich¬ berechtigt" an die Seite getreten, und zahlreich sind die Knaben und Jünglinge, welche ihr dienen mit Furcht und mit Zittern. Wir wollen das Wort des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/131>, abgerufen am 22.07.2024.