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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Hinter ihm in wesenlosen Scheine
Lag, was uns alle biindigt, das Gemeine!

Und Goethes Leoiwre, Adelheid, Gretchen u. s. w., es sind Frauen, wie sie leben,
mit allen ihren Vorzügen und Fehlern; der große Realist verleugnet sich auch
hier uicht, uur daß er ebeu ein Dichter ist und kein -- Nihilist! Und daß
deshalb die römischen Elegien anders klingen als die Werke der neuen "jung¬
deutschen Apostel." Dagegen Herrn Conradis Frauen? Es sind einfach Dirnen,
und soweit sie es etwa noch nicht sind, befinden sie sich auf dem besten Wege,
es zu werden. Was soll ein junger Mensch wie Conradi bei solchen Weibern
(Kellnerinnen, Chansonetten und ähnlichen: Gelichter seines "Meisters" Bleib¬
treu!) lerne"? "Was sich ziemt," lernt er dort ganz gewiß nicht, und es thäte
ihm doch so sehr not; seiner Phantasie konnte eine Abwendung vom Raffinirt-
Sinnlichen nur zum Segen gereichen. Ist denn wirklich das Geschlechtliche das
Einzige am Weibe, was es dem Manne wert macht? Ist es denn lediglich
das Interesse egoistischer Wollust, was wir am Weibe nehmen? Herr Con¬
radi hat -- wie ist er zu bedauern! -- bisher in seinem Lebenslaufe sitten¬
reine Frauen überhaupt uicht oder uur sehr oberflächlich kennen gelernt. Dann
soll er uns aber auch seine Ansicht uicht als ein neues großes Evangelium auf¬
tischen! Anmaßlich sagt die Vorrede: "Man lese mein Buch ... in Stunden,
da Flammen in der Seele lodern!" Ja wohl, Flammen der Sinnlichkeit! Aber
schwerlich werden vernünftige Menschen ihre besten Stunden an ein solches
Buch wenden, das Zeitungen aus ersichtlichen Gründen zurückgeschickt habe",
das Väter vor ihren Kindern verschließen müssen.

Aus jeder Zeile der "Phrasen" blickt eine unleidliche Anmaßung des Ver¬
fassers hervor. Er wirft sich von einer Pose so heftig in die andre, daß man
es förmlich knacken hört. Da ist mehr als "eine Unze" (S. 2) Komödicmterie
und Koketterie dabei! Der "Held" des Romans Heinrich Spalding, ein durch¬
aus unwahrscheinlich geschilderter, feuchtohriger, ganz uninteressanter junger
Bursche ("grüner Junge"), müht sich schon Jahre lang ab, über sich selbst ins
Klare zu kommen, und er findet immer wieder neue Züge, die das Bild ver¬
ändern, ergänzen; über andre Leute aber, mit denen er zusammentrifft, ist er
stets schon mit sich im Klaren, wenn er sie kaum flüchtig keimen gelernt hat,
und sein absprechendes Urteil fällt er meist gleich nach der ersten flüchtigen
Begegnung, nicht nach gründlichem Studium des andern, sondern nach "starken
Antipathien" (S. 263) und dergleichen. Seine Muse ist sozialistisch, selbst
anarchistisch; wagt aber einmal ein Menschenkind, dem "gottbegnadeter" Geistes-
heroen anders als bewundernd zu nahen, so gerät er aus Zorn und Wut ius
Delirium. Held Spalding benimmt sich öfter (siehe die Szene mit dem Wirt
Schraube, die Szene im Tingeltangel mit dem Unteroffizier) "einfach brutal."
Ist das anch ein Kennzeichen der "Geistesgröße"?

Was soll man ferner von den Aufzeichnungen über den Tod sagen? Mehr



Hinter ihm in wesenlosen Scheine
Lag, was uns alle biindigt, das Gemeine!

Und Goethes Leoiwre, Adelheid, Gretchen u. s. w., es sind Frauen, wie sie leben,
mit allen ihren Vorzügen und Fehlern; der große Realist verleugnet sich auch
hier uicht, uur daß er ebeu ein Dichter ist und kein — Nihilist! Und daß
deshalb die römischen Elegien anders klingen als die Werke der neuen „jung¬
deutschen Apostel." Dagegen Herrn Conradis Frauen? Es sind einfach Dirnen,
und soweit sie es etwa noch nicht sind, befinden sie sich auf dem besten Wege,
es zu werden. Was soll ein junger Mensch wie Conradi bei solchen Weibern
(Kellnerinnen, Chansonetten und ähnlichen: Gelichter seines „Meisters" Bleib¬
treu!) lerne»? „Was sich ziemt," lernt er dort ganz gewiß nicht, und es thäte
ihm doch so sehr not; seiner Phantasie konnte eine Abwendung vom Raffinirt-
Sinnlichen nur zum Segen gereichen. Ist denn wirklich das Geschlechtliche das
Einzige am Weibe, was es dem Manne wert macht? Ist es denn lediglich
das Interesse egoistischer Wollust, was wir am Weibe nehmen? Herr Con¬
radi hat — wie ist er zu bedauern! — bisher in seinem Lebenslaufe sitten¬
reine Frauen überhaupt uicht oder uur sehr oberflächlich kennen gelernt. Dann
soll er uns aber auch seine Ansicht uicht als ein neues großes Evangelium auf¬
tischen! Anmaßlich sagt die Vorrede: „Man lese mein Buch ... in Stunden,
da Flammen in der Seele lodern!" Ja wohl, Flammen der Sinnlichkeit! Aber
schwerlich werden vernünftige Menschen ihre besten Stunden an ein solches
Buch wenden, das Zeitungen aus ersichtlichen Gründen zurückgeschickt habe«,
das Väter vor ihren Kindern verschließen müssen.

Aus jeder Zeile der „Phrasen" blickt eine unleidliche Anmaßung des Ver¬
fassers hervor. Er wirft sich von einer Pose so heftig in die andre, daß man
es förmlich knacken hört. Da ist mehr als „eine Unze" (S. 2) Komödicmterie
und Koketterie dabei! Der „Held" des Romans Heinrich Spalding, ein durch¬
aus unwahrscheinlich geschilderter, feuchtohriger, ganz uninteressanter junger
Bursche („grüner Junge"), müht sich schon Jahre lang ab, über sich selbst ins
Klare zu kommen, und er findet immer wieder neue Züge, die das Bild ver¬
ändern, ergänzen; über andre Leute aber, mit denen er zusammentrifft, ist er
stets schon mit sich im Klaren, wenn er sie kaum flüchtig keimen gelernt hat,
und sein absprechendes Urteil fällt er meist gleich nach der ersten flüchtigen
Begegnung, nicht nach gründlichem Studium des andern, sondern nach „starken
Antipathien" (S. 263) und dergleichen. Seine Muse ist sozialistisch, selbst
anarchistisch; wagt aber einmal ein Menschenkind, dem „gottbegnadeter" Geistes-
heroen anders als bewundernd zu nahen, so gerät er aus Zorn und Wut ius
Delirium. Held Spalding benimmt sich öfter (siehe die Szene mit dem Wirt
Schraube, die Szene im Tingeltangel mit dem Unteroffizier) „einfach brutal."
Ist das anch ein Kennzeichen der „Geistesgröße"?

Was soll man ferner von den Aufzeichnungen über den Tod sagen? Mehr


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[0096] Hinter ihm in wesenlosen Scheine Lag, was uns alle biindigt, das Gemeine! Und Goethes Leoiwre, Adelheid, Gretchen u. s. w., es sind Frauen, wie sie leben, mit allen ihren Vorzügen und Fehlern; der große Realist verleugnet sich auch hier uicht, uur daß er ebeu ein Dichter ist und kein — Nihilist! Und daß deshalb die römischen Elegien anders klingen als die Werke der neuen „jung¬ deutschen Apostel." Dagegen Herrn Conradis Frauen? Es sind einfach Dirnen, und soweit sie es etwa noch nicht sind, befinden sie sich auf dem besten Wege, es zu werden. Was soll ein junger Mensch wie Conradi bei solchen Weibern (Kellnerinnen, Chansonetten und ähnlichen: Gelichter seines „Meisters" Bleib¬ treu!) lerne»? „Was sich ziemt," lernt er dort ganz gewiß nicht, und es thäte ihm doch so sehr not; seiner Phantasie konnte eine Abwendung vom Raffinirt- Sinnlichen nur zum Segen gereichen. Ist denn wirklich das Geschlechtliche das Einzige am Weibe, was es dem Manne wert macht? Ist es denn lediglich das Interesse egoistischer Wollust, was wir am Weibe nehmen? Herr Con¬ radi hat — wie ist er zu bedauern! — bisher in seinem Lebenslaufe sitten¬ reine Frauen überhaupt uicht oder uur sehr oberflächlich kennen gelernt. Dann soll er uns aber auch seine Ansicht uicht als ein neues großes Evangelium auf¬ tischen! Anmaßlich sagt die Vorrede: „Man lese mein Buch ... in Stunden, da Flammen in der Seele lodern!" Ja wohl, Flammen der Sinnlichkeit! Aber schwerlich werden vernünftige Menschen ihre besten Stunden an ein solches Buch wenden, das Zeitungen aus ersichtlichen Gründen zurückgeschickt habe«, das Väter vor ihren Kindern verschließen müssen. Aus jeder Zeile der „Phrasen" blickt eine unleidliche Anmaßung des Ver¬ fassers hervor. Er wirft sich von einer Pose so heftig in die andre, daß man es förmlich knacken hört. Da ist mehr als „eine Unze" (S. 2) Komödicmterie und Koketterie dabei! Der „Held" des Romans Heinrich Spalding, ein durch¬ aus unwahrscheinlich geschilderter, feuchtohriger, ganz uninteressanter junger Bursche („grüner Junge"), müht sich schon Jahre lang ab, über sich selbst ins Klare zu kommen, und er findet immer wieder neue Züge, die das Bild ver¬ ändern, ergänzen; über andre Leute aber, mit denen er zusammentrifft, ist er stets schon mit sich im Klaren, wenn er sie kaum flüchtig keimen gelernt hat, und sein absprechendes Urteil fällt er meist gleich nach der ersten flüchtigen Begegnung, nicht nach gründlichem Studium des andern, sondern nach „starken Antipathien" (S. 263) und dergleichen. Seine Muse ist sozialistisch, selbst anarchistisch; wagt aber einmal ein Menschenkind, dem „gottbegnadeter" Geistes- heroen anders als bewundernd zu nahen, so gerät er aus Zorn und Wut ius Delirium. Held Spalding benimmt sich öfter (siehe die Szene mit dem Wirt Schraube, die Szene im Tingeltangel mit dem Unteroffizier) „einfach brutal." Ist das anch ein Kennzeichen der „Geistesgröße"? Was soll man ferner von den Aufzeichnungen über den Tod sagen? Mehr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/96>, abgerufen am 23.07.2024.