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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Belgien und die sozialpolitische Frage.

erfolgt war, in höhnischen Worten dem Monarchen schuld gab, und als darauf
durch königliches Dekret die Absetzung über ihn verhängt wurde, brachten ihm
Vertreter der meisten liberalen Vereine des Landes begeisterte Huldigungen dar.
Viel ernster und bedenklicher war, daß die Soldaten bei der großen Versammlung
der Arbeiter, die einige Tage später in Charleroi stattfand, mit den Sozialisten
fraternisirten, was den vielen Gründen, welche für Umgestaltung des belgischen
Heerwesens sprachen, einen wichtigen neuen hinzufügte. Die belgische Rekrutirung
ist eine Ungerechtigkeit und zugleich eine Gefahr. Jeder Militärpflichtige zieht
dabei eine Nummer, und wenn dies vorüber ist, werden die, welche die nie¬
drigsten Nummern gezogen haben, bis zur Ausfüllung der erforderlichen Zahl
zurückbehalten. Wer von ihnen nicht dienen will, befreit sich, wenn er kann,
von der Militärpflicht durch Zahlung von 1600 Franken. Infolge dieses Systems
entzieht sich jeder Besitzende der Ableistung der Wehrpflicht, und nur das länd¬
liche und städtische Proletariat ergänzt, teils, weil es sich eine niedrige Nummer
gezogen hat, teils weil es sich für 1600 Franken zur Stellvertretung anbietet, die
Reihen der Armee, die somit wenigstens zum Teil ein Söldnerheer ist und wegen
ihrer Zusammensetzung aus Proletariern, wie Vandersmissen berichtete, wenig
Vertrauen verdienen würde, wenn es einen neuen Proletaricraufstand niederzu¬
werfen gelten sollte.

Die Abgeordnetcnwahlen vom 8. Juni hatten die Reihen der Klerikalen
verstärkt, sodaß die Kammer von jetzt an 98 Mitglieder von dieser Partei
und nur 40 Liberale zählte. Am 9. November eröffnete der König die Kammern
mit einer Thronrede, welche mehrere soziale Gesetzentwürfe ankündigte, die Ne-
krutirungsfrage hervorhob und Ausübung des königlichen Begnadigungsrechtes
verhieß. Nach dieser Rede war in sozialer Hinsicht folgendes ins Auge ge¬
faßt: Begünstigung der freien Bildung von Berufsgruppen, Herstellung neuer
Verhältnisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern durch Einrichtung von
Schieds- und Einigungsämtern, Regelung der Frauen- und Kinderarbeit, Be¬
seitigung der Mißbräuche bei Lohnzahlungen, Erleichterung der Wvhnungs-
zustäude, endlich Einführung der Unfallversicherung und Altersversorgung. Mit
der Zusage einer Begnadigung der Märzverbrechcr ging es ziemlich rasch vor¬
wärts. Zwar sprach sich der Ministerpräsident am 18. November im Senat
gegen den Erlaß einer Amnestie aus, teilte aber mit, daß die bei weitem größere
Hälfte der eingereichten Gnadengesuche bewilligt sei und die übrigen noch geprüft
würden. Die Militärfrage dagegen nahm nicht den von vielen gewünschten
Ausgang. Allerdings wurde von der Kammer einstimmig beschlossen, den
Antrag Oultremonts auf Einführung der persönlichen Dienstpflicht in Erwägung
zu ziehen, aber in der Frage, wie weit in der Reform zu gehen sei, ob man
nur das Recht, sich von der Wehrpflicht loszukaufen, abschaffen oder letztere
geradezu auf alle wehrfähigen jungen Leute erstrecken sollte, schieden sich die
Ansichten. Die Liberalen waren für, die Klerikalen, Beernaert und der Kriegs-


Belgien und die sozialpolitische Frage.

erfolgt war, in höhnischen Worten dem Monarchen schuld gab, und als darauf
durch königliches Dekret die Absetzung über ihn verhängt wurde, brachten ihm
Vertreter der meisten liberalen Vereine des Landes begeisterte Huldigungen dar.
Viel ernster und bedenklicher war, daß die Soldaten bei der großen Versammlung
der Arbeiter, die einige Tage später in Charleroi stattfand, mit den Sozialisten
fraternisirten, was den vielen Gründen, welche für Umgestaltung des belgischen
Heerwesens sprachen, einen wichtigen neuen hinzufügte. Die belgische Rekrutirung
ist eine Ungerechtigkeit und zugleich eine Gefahr. Jeder Militärpflichtige zieht
dabei eine Nummer, und wenn dies vorüber ist, werden die, welche die nie¬
drigsten Nummern gezogen haben, bis zur Ausfüllung der erforderlichen Zahl
zurückbehalten. Wer von ihnen nicht dienen will, befreit sich, wenn er kann,
von der Militärpflicht durch Zahlung von 1600 Franken. Infolge dieses Systems
entzieht sich jeder Besitzende der Ableistung der Wehrpflicht, und nur das länd¬
liche und städtische Proletariat ergänzt, teils, weil es sich eine niedrige Nummer
gezogen hat, teils weil es sich für 1600 Franken zur Stellvertretung anbietet, die
Reihen der Armee, die somit wenigstens zum Teil ein Söldnerheer ist und wegen
ihrer Zusammensetzung aus Proletariern, wie Vandersmissen berichtete, wenig
Vertrauen verdienen würde, wenn es einen neuen Proletaricraufstand niederzu¬
werfen gelten sollte.

Die Abgeordnetcnwahlen vom 8. Juni hatten die Reihen der Klerikalen
verstärkt, sodaß die Kammer von jetzt an 98 Mitglieder von dieser Partei
und nur 40 Liberale zählte. Am 9. November eröffnete der König die Kammern
mit einer Thronrede, welche mehrere soziale Gesetzentwürfe ankündigte, die Ne-
krutirungsfrage hervorhob und Ausübung des königlichen Begnadigungsrechtes
verhieß. Nach dieser Rede war in sozialer Hinsicht folgendes ins Auge ge¬
faßt: Begünstigung der freien Bildung von Berufsgruppen, Herstellung neuer
Verhältnisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern durch Einrichtung von
Schieds- und Einigungsämtern, Regelung der Frauen- und Kinderarbeit, Be¬
seitigung der Mißbräuche bei Lohnzahlungen, Erleichterung der Wvhnungs-
zustäude, endlich Einführung der Unfallversicherung und Altersversorgung. Mit
der Zusage einer Begnadigung der Märzverbrechcr ging es ziemlich rasch vor¬
wärts. Zwar sprach sich der Ministerpräsident am 18. November im Senat
gegen den Erlaß einer Amnestie aus, teilte aber mit, daß die bei weitem größere
Hälfte der eingereichten Gnadengesuche bewilligt sei und die übrigen noch geprüft
würden. Die Militärfrage dagegen nahm nicht den von vielen gewünschten
Ausgang. Allerdings wurde von der Kammer einstimmig beschlossen, den
Antrag Oultremonts auf Einführung der persönlichen Dienstpflicht in Erwägung
zu ziehen, aber in der Frage, wie weit in der Reform zu gehen sei, ob man
nur das Recht, sich von der Wehrpflicht loszukaufen, abschaffen oder letztere
geradezu auf alle wehrfähigen jungen Leute erstrecken sollte, schieden sich die
Ansichten. Die Liberalen waren für, die Klerikalen, Beernaert und der Kriegs-


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[0068] Belgien und die sozialpolitische Frage. erfolgt war, in höhnischen Worten dem Monarchen schuld gab, und als darauf durch königliches Dekret die Absetzung über ihn verhängt wurde, brachten ihm Vertreter der meisten liberalen Vereine des Landes begeisterte Huldigungen dar. Viel ernster und bedenklicher war, daß die Soldaten bei der großen Versammlung der Arbeiter, die einige Tage später in Charleroi stattfand, mit den Sozialisten fraternisirten, was den vielen Gründen, welche für Umgestaltung des belgischen Heerwesens sprachen, einen wichtigen neuen hinzufügte. Die belgische Rekrutirung ist eine Ungerechtigkeit und zugleich eine Gefahr. Jeder Militärpflichtige zieht dabei eine Nummer, und wenn dies vorüber ist, werden die, welche die nie¬ drigsten Nummern gezogen haben, bis zur Ausfüllung der erforderlichen Zahl zurückbehalten. Wer von ihnen nicht dienen will, befreit sich, wenn er kann, von der Militärpflicht durch Zahlung von 1600 Franken. Infolge dieses Systems entzieht sich jeder Besitzende der Ableistung der Wehrpflicht, und nur das länd¬ liche und städtische Proletariat ergänzt, teils, weil es sich eine niedrige Nummer gezogen hat, teils weil es sich für 1600 Franken zur Stellvertretung anbietet, die Reihen der Armee, die somit wenigstens zum Teil ein Söldnerheer ist und wegen ihrer Zusammensetzung aus Proletariern, wie Vandersmissen berichtete, wenig Vertrauen verdienen würde, wenn es einen neuen Proletaricraufstand niederzu¬ werfen gelten sollte. Die Abgeordnetcnwahlen vom 8. Juni hatten die Reihen der Klerikalen verstärkt, sodaß die Kammer von jetzt an 98 Mitglieder von dieser Partei und nur 40 Liberale zählte. Am 9. November eröffnete der König die Kammern mit einer Thronrede, welche mehrere soziale Gesetzentwürfe ankündigte, die Ne- krutirungsfrage hervorhob und Ausübung des königlichen Begnadigungsrechtes verhieß. Nach dieser Rede war in sozialer Hinsicht folgendes ins Auge ge¬ faßt: Begünstigung der freien Bildung von Berufsgruppen, Herstellung neuer Verhältnisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern durch Einrichtung von Schieds- und Einigungsämtern, Regelung der Frauen- und Kinderarbeit, Be¬ seitigung der Mißbräuche bei Lohnzahlungen, Erleichterung der Wvhnungs- zustäude, endlich Einführung der Unfallversicherung und Altersversorgung. Mit der Zusage einer Begnadigung der Märzverbrechcr ging es ziemlich rasch vor¬ wärts. Zwar sprach sich der Ministerpräsident am 18. November im Senat gegen den Erlaß einer Amnestie aus, teilte aber mit, daß die bei weitem größere Hälfte der eingereichten Gnadengesuche bewilligt sei und die übrigen noch geprüft würden. Die Militärfrage dagegen nahm nicht den von vielen gewünschten Ausgang. Allerdings wurde von der Kammer einstimmig beschlossen, den Antrag Oultremonts auf Einführung der persönlichen Dienstpflicht in Erwägung zu ziehen, aber in der Frage, wie weit in der Reform zu gehen sei, ob man nur das Recht, sich von der Wehrpflicht loszukaufen, abschaffen oder letztere geradezu auf alle wehrfähigen jungen Leute erstrecken sollte, schieden sich die Ansichten. Die Liberalen waren für, die Klerikalen, Beernaert und der Kriegs-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/68>, abgerufen am 23.07.2024.