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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Line Berliner Faustanfführung.

sie, ermißt, Sie ist ein Geschöpf der Notwendigkeit, er ein Vertreter der Frei¬
heit. Sie leidet menschlich unter der unseligen Verkettung der Folgen, doch
alles, was sie dazu trieb, ach war so gut, ach war so lieb, d. h. sie hat nur
ihr Schicksal erfüllt, sie mußte -- und erst das Leiden bringt ihr mit den Ge¬
wissensbissen den "bösen Geist" der höheren Menschlichkeit, der nicht ihr guter
sein konnte. Er aber fühlt vom ersten Anfang die Verantwortlichkeit, er muß
ihren Fluch erfahren, und als er sieht, was er angerichtet hat, faßt ihn der Mensch¬
heit ganzer Jammer an. Sie büßt daher in kurzen Leiden und wird im Tode
erlöst, ihn muß ein ganzes Leben läutern. So ist der Thatbestand, so jedem
denkenden Deutschen vertraut. Doch ach, auf unsern deutschen Bühnen kehrt
man ihn um, macht Fausten zum Galan, und Gretlein zum Ersatz zu einer
Julia, Leonore, Hero und Gott weiß welchem tiefsinnigen, seltenen Frauenbilde.
Das mag ja damit zusammenhängen, daß die Darstellerinnen des Gretchens,
wie z. B. diejenige des Deutschen Theaters, meist im kleinen Finger mehr Sinn
und Temperament zeigen, als ihre Fauste im Ganzen. Wir müssen aber ge¬
stehen, daß die mehr tiefsinnige als sinnige, mehr großartige als liebliche, mehr
ergreifende als rührende Darstellung, mit der die Darstellerin das Publikum
überraschte, keine rechte Befriedigung in uns aufkommen ließ, eben weil sie die
Faustidec nicht bloß stört, nein verrückt, verschiebt, gänzlich umdreht. Letzten
Endes ist doch immer die "Rcgieführung" Schuld. Wo steht denn geschrieben,
daß -- da es nun einmal im Durchschnitt bei den sogenannten Fächern bleibt --,
daß der Liebhaber durchaus den Faust spielen müsse? Im Schauspielhause
spielte ihn der alte Bcrndal, und man sah gern über die wenig vorteilhafte
Figur des "Liebhabers" hinweg, da man im ganzen bei aller Breite und
Pedanterie doch den Denker und mitunter auch den Weltenstürmcr, kurz, doch
immer den Faust der Idee vor sich hatte. Wenn jene abgeschmackte Bühnen-
simpelei -- weiß der Himmel, von welchem Friseur sie sich herschreiben mag! --,
nach der die Hexenküche ein moderner Rasirsalon ist, und die Verjüngung in
aller möglichen pomadisirten Geckerei und Stutzertracht besteht, wenn diese
Albernheit in Wegfall käme, so würde der Übergang vom Studirzimmer in
Marthas Garten auch bei einer solchen Besetzung gar uicht stören. Und ein
rechter Faust würde ein vernünftiges Gretchen schon zu modeln wissen. Wir
müßten uns sehr täuschen, oder das Deutsche Theater besitzt gerade in einem
Schauspieler, der bereits einen sehr lobenswerten Macbeth und Lear lieferte,
einen solchen Faust. Aber das Deutsche Theater braucht eben keinen Faust,
den der Menschheit ganzer Jammer anfaßt! Es läßt wiederum den Vorhang
über Gretchen aufgehen, welches die unausbleiblichen Strohkränze flechten und
gleich frischweg singen muß, damit nur ja der Operneindruck bleibe. Der un¬
getreue Liebhaber mag sich dann wie ein beschämter Schulbube zu ihr schleichen.
Neben den thörichten Experimenten der weiland Devricntschen Faustaufführungen
in Berlin war der Gedanke, nach der Vorschrift den Kerker von außen zu fassen


Line Berliner Faustanfführung.

sie, ermißt, Sie ist ein Geschöpf der Notwendigkeit, er ein Vertreter der Frei¬
heit. Sie leidet menschlich unter der unseligen Verkettung der Folgen, doch
alles, was sie dazu trieb, ach war so gut, ach war so lieb, d. h. sie hat nur
ihr Schicksal erfüllt, sie mußte — und erst das Leiden bringt ihr mit den Ge¬
wissensbissen den „bösen Geist" der höheren Menschlichkeit, der nicht ihr guter
sein konnte. Er aber fühlt vom ersten Anfang die Verantwortlichkeit, er muß
ihren Fluch erfahren, und als er sieht, was er angerichtet hat, faßt ihn der Mensch¬
heit ganzer Jammer an. Sie büßt daher in kurzen Leiden und wird im Tode
erlöst, ihn muß ein ganzes Leben läutern. So ist der Thatbestand, so jedem
denkenden Deutschen vertraut. Doch ach, auf unsern deutschen Bühnen kehrt
man ihn um, macht Fausten zum Galan, und Gretlein zum Ersatz zu einer
Julia, Leonore, Hero und Gott weiß welchem tiefsinnigen, seltenen Frauenbilde.
Das mag ja damit zusammenhängen, daß die Darstellerinnen des Gretchens,
wie z. B. diejenige des Deutschen Theaters, meist im kleinen Finger mehr Sinn
und Temperament zeigen, als ihre Fauste im Ganzen. Wir müssen aber ge¬
stehen, daß die mehr tiefsinnige als sinnige, mehr großartige als liebliche, mehr
ergreifende als rührende Darstellung, mit der die Darstellerin das Publikum
überraschte, keine rechte Befriedigung in uns aufkommen ließ, eben weil sie die
Faustidec nicht bloß stört, nein verrückt, verschiebt, gänzlich umdreht. Letzten
Endes ist doch immer die „Rcgieführung" Schuld. Wo steht denn geschrieben,
daß — da es nun einmal im Durchschnitt bei den sogenannten Fächern bleibt —,
daß der Liebhaber durchaus den Faust spielen müsse? Im Schauspielhause
spielte ihn der alte Bcrndal, und man sah gern über die wenig vorteilhafte
Figur des „Liebhabers" hinweg, da man im ganzen bei aller Breite und
Pedanterie doch den Denker und mitunter auch den Weltenstürmcr, kurz, doch
immer den Faust der Idee vor sich hatte. Wenn jene abgeschmackte Bühnen-
simpelei — weiß der Himmel, von welchem Friseur sie sich herschreiben mag! —,
nach der die Hexenküche ein moderner Rasirsalon ist, und die Verjüngung in
aller möglichen pomadisirten Geckerei und Stutzertracht besteht, wenn diese
Albernheit in Wegfall käme, so würde der Übergang vom Studirzimmer in
Marthas Garten auch bei einer solchen Besetzung gar uicht stören. Und ein
rechter Faust würde ein vernünftiges Gretchen schon zu modeln wissen. Wir
müßten uns sehr täuschen, oder das Deutsche Theater besitzt gerade in einem
Schauspieler, der bereits einen sehr lobenswerten Macbeth und Lear lieferte,
einen solchen Faust. Aber das Deutsche Theater braucht eben keinen Faust,
den der Menschheit ganzer Jammer anfaßt! Es läßt wiederum den Vorhang
über Gretchen aufgehen, welches die unausbleiblichen Strohkränze flechten und
gleich frischweg singen muß, damit nur ja der Operneindruck bleibe. Der un¬
getreue Liebhaber mag sich dann wie ein beschämter Schulbube zu ihr schleichen.
Neben den thörichten Experimenten der weiland Devricntschen Faustaufführungen
in Berlin war der Gedanke, nach der Vorschrift den Kerker von außen zu fassen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/634>, abgerufen am 23.07.2024.