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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Zu Theodor Storms siebzigsten Geburtstage.

Verlieben hatte. Erich Schmidt rühmt die Kunst Sturms, gemalte Bilder zu
vergegenwärtigen: hier ein neuer Beweis. Und welche heiter rührenden Wir¬
kungen weiß Storm mit dem Dompfaffen zu erzielen, welch feiner Humor lagert
über der alten Jungfer Riekchen Terebinthe!

Ganz aus einer Erfahrung der rückschauenden Phantasie herausgewachsen
ist die zweite Novelle: "Der Doppelgänger." Man kann die Beobachtung
machen, daß man von derselben Persönlichkeit aus zwei verschiednen Abschnitten
ihres Lebens zwei verschiedne Bilder in der Erinnerung behält. Welches Bild
ist das rechte? welches das wahre? Diese Frage lastet schwer auf dem Gemüte
der zarten Förstersfrau Christine. Seit ihrem zehnten Lebensjahre eine eltern¬
lose Waise, hat sie von ihrem Vater -- der Mutter entsinne sie sich gar nicht
mehr -- zwei so verschiedne Bilder im Geiste behalten, daß sie vermutet, es
wären zwei Männer gewesen; der erste ein rauher, mürrischer, zum Schlagen
stets bereiter Geselle, der zweite ein zarter, aufopfernd guter Mensch. Und
doch weiß sie nur von einem einzigen Vater, nichts von einem Stiefvater!
Dies erfährt unser dichterischer Erzähler gerade vor dem Schlafengehen. Die
zauberische Waldnacht hält ihn am Fenster fest, und nun gerät er in ein träu¬
merisches Grübeln in der Vergangenheit, und nach und nach steht vor ihm die
ganze Geschichte. Ja, es war ein und derselbe Mann. John Hansen hat durch
einen leichtsinnigen Streich eine sechsjährige Zuchthausstrafe bestehen müssen;
aber der gute Kern in ihm blieb unangetastet. Frei geworden, fand er
Arbeit, und da heiratete er ein armes, aber sehr schönes Bettelmädchen. Die
beiden liebten sich sehr. Dann kam das Kind, es kam auch die Not, und
damit kam auch Zank. Die Eheleute schlugen sich sogar, und dennoch liebten
sie sich immer und aufrichtig. Das war die lärmende Epoche, welche Christinen
Un Gedächtnis blieb. Dem einstigen Zuchthäusler John wurde es aber immer
schwieriger, Arbeit zu finden, sein Ehrgefühl war auch sehr reizbar. Bei einem
neuen häuslichen Zwist fiel sein Weib so unglücklich zu Boden, daß sie starb.
Johns Schmerz war nicht minder groß als seine Reue, und alle Liebe Über¬
zug er auf das hinterlassene Kind. Das war die schöne Zeit, die diesem, der
späteren Försterin, in Erinnerung geblieben war. John verunglückte, der Tod
war ihm Erlösung. Des Kindes nahmen sich mitleidige Menschen an. Dieser
"Doppelgänger" -- natürlich spielt seine Handlung ebenso wie die des "Bötjer
Busch" in Storms Vaterstadt Husum -- vereinigt alle seine dichterischen Eigen¬
heiten: Kraft und Schönheit der Stimmung, schöne Natur-(Wald-)bilder, rück-
blickcnde Erzählung, entzückende Anmut in der Schilderung junger Liebe,
rührende Zeichnung eines alten, unverheirateten Weibes und realistische Dar¬
stellung eines tragischen Schicksals im John, der an den Folgen jugendlichen
Leichtsinns sein Leben lang zu tragen hat. Eine poetische Perle mehr im Kranze
der Meisterwerke Theodor Storms.




Grenzboten III. 1887.73
Zu Theodor Storms siebzigsten Geburtstage.

Verlieben hatte. Erich Schmidt rühmt die Kunst Sturms, gemalte Bilder zu
vergegenwärtigen: hier ein neuer Beweis. Und welche heiter rührenden Wir¬
kungen weiß Storm mit dem Dompfaffen zu erzielen, welch feiner Humor lagert
über der alten Jungfer Riekchen Terebinthe!

Ganz aus einer Erfahrung der rückschauenden Phantasie herausgewachsen
ist die zweite Novelle: „Der Doppelgänger." Man kann die Beobachtung
machen, daß man von derselben Persönlichkeit aus zwei verschiednen Abschnitten
ihres Lebens zwei verschiedne Bilder in der Erinnerung behält. Welches Bild
ist das rechte? welches das wahre? Diese Frage lastet schwer auf dem Gemüte
der zarten Förstersfrau Christine. Seit ihrem zehnten Lebensjahre eine eltern¬
lose Waise, hat sie von ihrem Vater — der Mutter entsinne sie sich gar nicht
mehr — zwei so verschiedne Bilder im Geiste behalten, daß sie vermutet, es
wären zwei Männer gewesen; der erste ein rauher, mürrischer, zum Schlagen
stets bereiter Geselle, der zweite ein zarter, aufopfernd guter Mensch. Und
doch weiß sie nur von einem einzigen Vater, nichts von einem Stiefvater!
Dies erfährt unser dichterischer Erzähler gerade vor dem Schlafengehen. Die
zauberische Waldnacht hält ihn am Fenster fest, und nun gerät er in ein träu¬
merisches Grübeln in der Vergangenheit, und nach und nach steht vor ihm die
ganze Geschichte. Ja, es war ein und derselbe Mann. John Hansen hat durch
einen leichtsinnigen Streich eine sechsjährige Zuchthausstrafe bestehen müssen;
aber der gute Kern in ihm blieb unangetastet. Frei geworden, fand er
Arbeit, und da heiratete er ein armes, aber sehr schönes Bettelmädchen. Die
beiden liebten sich sehr. Dann kam das Kind, es kam auch die Not, und
damit kam auch Zank. Die Eheleute schlugen sich sogar, und dennoch liebten
sie sich immer und aufrichtig. Das war die lärmende Epoche, welche Christinen
Un Gedächtnis blieb. Dem einstigen Zuchthäusler John wurde es aber immer
schwieriger, Arbeit zu finden, sein Ehrgefühl war auch sehr reizbar. Bei einem
neuen häuslichen Zwist fiel sein Weib so unglücklich zu Boden, daß sie starb.
Johns Schmerz war nicht minder groß als seine Reue, und alle Liebe Über¬
zug er auf das hinterlassene Kind. Das war die schöne Zeit, die diesem, der
späteren Försterin, in Erinnerung geblieben war. John verunglückte, der Tod
war ihm Erlösung. Des Kindes nahmen sich mitleidige Menschen an. Dieser
«Doppelgänger" — natürlich spielt seine Handlung ebenso wie die des „Bötjer
Busch" in Storms Vaterstadt Husum — vereinigt alle seine dichterischen Eigen¬
heiten: Kraft und Schönheit der Stimmung, schöne Natur-(Wald-)bilder, rück-
blickcnde Erzählung, entzückende Anmut in der Schilderung junger Liebe,
rührende Zeichnung eines alten, unverheirateten Weibes und realistische Dar¬
stellung eines tragischen Schicksals im John, der an den Folgen jugendlichen
Leichtsinns sein Leben lang zu tragen hat. Eine poetische Perle mehr im Kranze
der Meisterwerke Theodor Storms.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/585>, abgerufen am 23.07.2024.