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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Hans Pöhnls Volksbühnenspiele.

getragen werden und eine Sprache geradebrecht wird, wie sie vor dreihundert
Jahren in einer unfertigen Literatur üblich war.

Und damit haben wir auch die Antwort auf das Vorwort gegeben, welches
Pöhnl, aller literarischen Tradition, ja allem literarischen Auslande Hohn
sprechend, geschrieben hat. Auch hier ist Wahrheit und Unwahrheit, Treffendes
und Übertriebenes bunt durcheinander geworfen. Pöhnl geht von der richtigen
Beobachtung aus, die schon Unzählige vor ihm gemacht haben, daß sich unsre
Literatur in eine für die Gebildeten und in eine für die Ungebildeten scheide;
wenige Dichter vermögen beide Volksschichten zu befriedigen, wie Uhland, Reuter,
Jeremias Gotthelf, Raimund und noch einige wenige, zu denen man aber
Schiller und Goethe nicht zählen kann. Daraus aber vorschnell den Schluß
zu ziehen, daß Schiller und Goethe, weil sie nicht volkstümlich im Sinne der
Genannten, daher auch nicht nationale Dichter seien, ist doch ein offenbarer
Irrtum, und mit diesem Gruudirrtum operirt nun Pöhul in der unseligsten
Weise. Er beruft sich auf Jakob Grimm, der sagte: "Wenn dichtende und
bildende Kunst sich aus dem Volksglauben erhebeu, so schmücken und schützen
sie ihn durch unvergängliche Werke." Folgt daraus, daß die Künste im Volks¬
glauben aufzugehen haben, um national zu sein? Nein, nicht im entferntesten,
und es ist auch niemals Jakob Grimms Meinung gewesen, der Goethe so sehr
zu schätzen wußte. Pöhul aber ist ein fanatischer Anhänger dieses Volks¬
glaubens; um ihn wieder lebendig zu sehen, wäre er gern bereit, das ganze
Christentum und die ganze Kultur des letzte" Jahrtausends zu opfern. Den
Zwiespalt in der deutschen Geistesbildung erkennt er wohl, aber statt sie in
ihrer geschichtlichen Notwendigkeit zu erfassen, statt die Denker zu ehren, welche
unerschrocken weiter dachten, nachdem einmal der Volksglaube wurmstichig ge¬
worden war, schlägt sich Pöhnl auf die Seite des Altertums und wird ein Don
Quixote der Germanistik. Aristophanes. der die alten Götter gegen die Skepsis
des Sokrates in Schutz nahm, er ist Pöhnls Vorbild -- auch eine antiquarische
Schrulle. Während der zweitausend Jahre hat aber die Menschheit den Sokrates
mehr als den Aristophanes verehrt, und sagt nicht Pöhnl selbst: "Und was
alle behaupten, muß doch einleuchtender sein, als eine Weisheit, die irgend ein
genialer Gründling so über Nacht aus dem Finger saugt"? Folglich ist Pöhnl
ein Gründling, und die mißachteten Kant und Hegel waren Genies. Nur dieser
Umstand läßt ihn übersehen, daß der deutsche Volksglaube durch das Christen¬
tum zwar nicht verdrängt, aber doch gewiß auf die dunkelsten Volksweise be¬
schränkt wurde, daß der mythologische Gehalt der altererbter Sitten dem Volke
im Laufe der Zeiten ans dem Bewußtsein geschwunden ist, daß die Rekonstruktion
jenes ganzen Gebäudes halb heidnischer, halb christlicher, halb abergläubischer
Weltanschauung nur im germanistischen Seminar möglich ist, und daß jene
Motive nur dann poetisch brauchbar sind für unsre Zeit, wenn wir sie im
vollen Bewußtsein ihrer Kindlichkeit, mit der ganzen Ironie unsrer Bildung cm-


Grenzboten III. 13L7. 68
Hans Pöhnls Volksbühnenspiele.

getragen werden und eine Sprache geradebrecht wird, wie sie vor dreihundert
Jahren in einer unfertigen Literatur üblich war.

Und damit haben wir auch die Antwort auf das Vorwort gegeben, welches
Pöhnl, aller literarischen Tradition, ja allem literarischen Auslande Hohn
sprechend, geschrieben hat. Auch hier ist Wahrheit und Unwahrheit, Treffendes
und Übertriebenes bunt durcheinander geworfen. Pöhnl geht von der richtigen
Beobachtung aus, die schon Unzählige vor ihm gemacht haben, daß sich unsre
Literatur in eine für die Gebildeten und in eine für die Ungebildeten scheide;
wenige Dichter vermögen beide Volksschichten zu befriedigen, wie Uhland, Reuter,
Jeremias Gotthelf, Raimund und noch einige wenige, zu denen man aber
Schiller und Goethe nicht zählen kann. Daraus aber vorschnell den Schluß
zu ziehen, daß Schiller und Goethe, weil sie nicht volkstümlich im Sinne der
Genannten, daher auch nicht nationale Dichter seien, ist doch ein offenbarer
Irrtum, und mit diesem Gruudirrtum operirt nun Pöhul in der unseligsten
Weise. Er beruft sich auf Jakob Grimm, der sagte: „Wenn dichtende und
bildende Kunst sich aus dem Volksglauben erhebeu, so schmücken und schützen
sie ihn durch unvergängliche Werke." Folgt daraus, daß die Künste im Volks¬
glauben aufzugehen haben, um national zu sein? Nein, nicht im entferntesten,
und es ist auch niemals Jakob Grimms Meinung gewesen, der Goethe so sehr
zu schätzen wußte. Pöhul aber ist ein fanatischer Anhänger dieses Volks¬
glaubens; um ihn wieder lebendig zu sehen, wäre er gern bereit, das ganze
Christentum und die ganze Kultur des letzte» Jahrtausends zu opfern. Den
Zwiespalt in der deutschen Geistesbildung erkennt er wohl, aber statt sie in
ihrer geschichtlichen Notwendigkeit zu erfassen, statt die Denker zu ehren, welche
unerschrocken weiter dachten, nachdem einmal der Volksglaube wurmstichig ge¬
worden war, schlägt sich Pöhnl auf die Seite des Altertums und wird ein Don
Quixote der Germanistik. Aristophanes. der die alten Götter gegen die Skepsis
des Sokrates in Schutz nahm, er ist Pöhnls Vorbild — auch eine antiquarische
Schrulle. Während der zweitausend Jahre hat aber die Menschheit den Sokrates
mehr als den Aristophanes verehrt, und sagt nicht Pöhnl selbst: „Und was
alle behaupten, muß doch einleuchtender sein, als eine Weisheit, die irgend ein
genialer Gründling so über Nacht aus dem Finger saugt"? Folglich ist Pöhnl
ein Gründling, und die mißachteten Kant und Hegel waren Genies. Nur dieser
Umstand läßt ihn übersehen, daß der deutsche Volksglaube durch das Christen¬
tum zwar nicht verdrängt, aber doch gewiß auf die dunkelsten Volksweise be¬
schränkt wurde, daß der mythologische Gehalt der altererbter Sitten dem Volke
im Laufe der Zeiten ans dem Bewußtsein geschwunden ist, daß die Rekonstruktion
jenes ganzen Gebäudes halb heidnischer, halb christlicher, halb abergläubischer
Weltanschauung nur im germanistischen Seminar möglich ist, und daß jene
Motive nur dann poetisch brauchbar sind für unsre Zeit, wenn wir sie im
vollen Bewußtsein ihrer Kindlichkeit, mit der ganzen Ironie unsrer Bildung cm-


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[0545] Hans Pöhnls Volksbühnenspiele. getragen werden und eine Sprache geradebrecht wird, wie sie vor dreihundert Jahren in einer unfertigen Literatur üblich war. Und damit haben wir auch die Antwort auf das Vorwort gegeben, welches Pöhnl, aller literarischen Tradition, ja allem literarischen Auslande Hohn sprechend, geschrieben hat. Auch hier ist Wahrheit und Unwahrheit, Treffendes und Übertriebenes bunt durcheinander geworfen. Pöhnl geht von der richtigen Beobachtung aus, die schon Unzählige vor ihm gemacht haben, daß sich unsre Literatur in eine für die Gebildeten und in eine für die Ungebildeten scheide; wenige Dichter vermögen beide Volksschichten zu befriedigen, wie Uhland, Reuter, Jeremias Gotthelf, Raimund und noch einige wenige, zu denen man aber Schiller und Goethe nicht zählen kann. Daraus aber vorschnell den Schluß zu ziehen, daß Schiller und Goethe, weil sie nicht volkstümlich im Sinne der Genannten, daher auch nicht nationale Dichter seien, ist doch ein offenbarer Irrtum, und mit diesem Gruudirrtum operirt nun Pöhul in der unseligsten Weise. Er beruft sich auf Jakob Grimm, der sagte: „Wenn dichtende und bildende Kunst sich aus dem Volksglauben erhebeu, so schmücken und schützen sie ihn durch unvergängliche Werke." Folgt daraus, daß die Künste im Volks¬ glauben aufzugehen haben, um national zu sein? Nein, nicht im entferntesten, und es ist auch niemals Jakob Grimms Meinung gewesen, der Goethe so sehr zu schätzen wußte. Pöhul aber ist ein fanatischer Anhänger dieses Volks¬ glaubens; um ihn wieder lebendig zu sehen, wäre er gern bereit, das ganze Christentum und die ganze Kultur des letzte» Jahrtausends zu opfern. Den Zwiespalt in der deutschen Geistesbildung erkennt er wohl, aber statt sie in ihrer geschichtlichen Notwendigkeit zu erfassen, statt die Denker zu ehren, welche unerschrocken weiter dachten, nachdem einmal der Volksglaube wurmstichig ge¬ worden war, schlägt sich Pöhnl auf die Seite des Altertums und wird ein Don Quixote der Germanistik. Aristophanes. der die alten Götter gegen die Skepsis des Sokrates in Schutz nahm, er ist Pöhnls Vorbild — auch eine antiquarische Schrulle. Während der zweitausend Jahre hat aber die Menschheit den Sokrates mehr als den Aristophanes verehrt, und sagt nicht Pöhnl selbst: „Und was alle behaupten, muß doch einleuchtender sein, als eine Weisheit, die irgend ein genialer Gründling so über Nacht aus dem Finger saugt"? Folglich ist Pöhnl ein Gründling, und die mißachteten Kant und Hegel waren Genies. Nur dieser Umstand läßt ihn übersehen, daß der deutsche Volksglaube durch das Christen¬ tum zwar nicht verdrängt, aber doch gewiß auf die dunkelsten Volksweise be¬ schränkt wurde, daß der mythologische Gehalt der altererbter Sitten dem Volke im Laufe der Zeiten ans dem Bewußtsein geschwunden ist, daß die Rekonstruktion jenes ganzen Gebäudes halb heidnischer, halb christlicher, halb abergläubischer Weltanschauung nur im germanistischen Seminar möglich ist, und daß jene Motive nur dann poetisch brauchbar sind für unsre Zeit, wenn wir sie im vollen Bewußtsein ihrer Kindlichkeit, mit der ganzen Ironie unsrer Bildung cm- Grenzboten III. 13L7. 68

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/545>, abgerufen am 23.07.2024.