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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Die Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter.

Fortbestand unsrer Industrie gar nicht die Rede sein kann, selbst wenn ihr,
wie bei der Unfallversicherung, die Tragung der Kosten allein zufiele. Bei der
heutigen wirtschaftlichen Lage mit ihrer planlos betriebenen Produktion und
den infolge dessen steten Absatzstockungen sind Schwankungen in den Lohnver¬
hältnissen von zehn, ja zwanzig Prozent während eines Jahres nichts außer¬
gewöhnliches, und dem Wettbewerb des Auslandes kann durch internationale
Verträge, die auch dort die Arbeiterversicherung regeln, und wo das nicht
angeht, durch Schutzzölle abgeholfen werden.

Wir kommen nun zur Aufbringung der Kosten. Die Alters- und Jn-
validenversorgung wird zum Wohle und Nutzen des Arbeiters geschaffen, und
somit müßte unter andern Verhältnissen auch der Arbeiter allein die Kosten
tragen. Nun aber wird wohl von keiner Seite bestritten, daß infolge der
wirtschaftlichen und sozialen Mißstände unserer Zeit der Arbeitslohn nahezu
auf den kleinsten Satz herabgedrückt ist, mit dem gerade die allernotwmdigsten
Bedürfnisse des Arbeiters bestritten werden können. Der Arbeiter kann sich,
obgleich neben ihm noch Frau und Kind von früh bis spät an die Maschine
gebannt sind, zur Not genügend nähren und kleiden. Die wenigen Spar¬
pfennige, die er vielleicht zurücklegt, reichen gerade hiu, ihn in Zeiten des
Arbeitsmangels nicht verhungern zu lassen. Für die fernere Zukunft Erspar¬
nisse zurückzulegen, hinreichend, ihn einmal im Alter sorgenfrei leben zu lassen,
daran ist bis jetzt nicht zu denken gewesen.

Nun soll die Altersversorgung als ein neues Bedürfnis hingestellt werden,
das zu befriedigen der Arbeiter nicht nur berechtigt, sondern angehalten werden
soll. Bei Feststellung des gegenwärtigen Arbeitslohnes ist auf Befriedigung
dieses Bedürfnisses bei dem Arbeiter keine genügende Rücksicht genommen, folg¬
lich muß die Industrie das Fehlende ergänzen, sie muß einen Teil des Bei¬
trages für die Altersversorgung aus ihrer Tasche bezahlen als Entgelt dafür,
daß der Lohn des Arbeiters zu niedrig ist, um von ihm die Kosten für die
Fürsorge im Alter allein bestreiten zu können.

Es kommt aber noch ein Grund hinzu, der den Unternehmer als beitrags¬
pflichtig zu den Kosten der Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter er¬
scheinen läßt. Ein Krebsschade der heutigen Produktionsweise sind die Berufs¬
krankheiten, die durch ständige Berührung mit giftigen Stoffen oder durch zu
anhaltende einseitige Beschäftigung den Arbeiter in frühen Jahren zum Krüppel
und Invaliden machen. Hier sind die Unternehmer ohne allen Zweifel ver¬
pflichtet, für die Berufsinvaliden und ihre Familien Sorge zu tragen, zumal
da der Arbeitslohn in solchen Leben und Gesundheit gefährdenden Betrieben in
gar keinem Verhältnis zu dem Verbrauch an Arbeitskraft steht, und gerade hier
dürfte die Versicherung berufen sein, am ehesten Wandel zu schaffen.

Können heute die Arbeiter bei den ersten Krankheitserscheinungen entlassen
werden, können somit die Unternehmer jegliche Verpflichtung von sich abwälzen, so


Die Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter.

Fortbestand unsrer Industrie gar nicht die Rede sein kann, selbst wenn ihr,
wie bei der Unfallversicherung, die Tragung der Kosten allein zufiele. Bei der
heutigen wirtschaftlichen Lage mit ihrer planlos betriebenen Produktion und
den infolge dessen steten Absatzstockungen sind Schwankungen in den Lohnver¬
hältnissen von zehn, ja zwanzig Prozent während eines Jahres nichts außer¬
gewöhnliches, und dem Wettbewerb des Auslandes kann durch internationale
Verträge, die auch dort die Arbeiterversicherung regeln, und wo das nicht
angeht, durch Schutzzölle abgeholfen werden.

Wir kommen nun zur Aufbringung der Kosten. Die Alters- und Jn-
validenversorgung wird zum Wohle und Nutzen des Arbeiters geschaffen, und
somit müßte unter andern Verhältnissen auch der Arbeiter allein die Kosten
tragen. Nun aber wird wohl von keiner Seite bestritten, daß infolge der
wirtschaftlichen und sozialen Mißstände unserer Zeit der Arbeitslohn nahezu
auf den kleinsten Satz herabgedrückt ist, mit dem gerade die allernotwmdigsten
Bedürfnisse des Arbeiters bestritten werden können. Der Arbeiter kann sich,
obgleich neben ihm noch Frau und Kind von früh bis spät an die Maschine
gebannt sind, zur Not genügend nähren und kleiden. Die wenigen Spar¬
pfennige, die er vielleicht zurücklegt, reichen gerade hiu, ihn in Zeiten des
Arbeitsmangels nicht verhungern zu lassen. Für die fernere Zukunft Erspar¬
nisse zurückzulegen, hinreichend, ihn einmal im Alter sorgenfrei leben zu lassen,
daran ist bis jetzt nicht zu denken gewesen.

Nun soll die Altersversorgung als ein neues Bedürfnis hingestellt werden,
das zu befriedigen der Arbeiter nicht nur berechtigt, sondern angehalten werden
soll. Bei Feststellung des gegenwärtigen Arbeitslohnes ist auf Befriedigung
dieses Bedürfnisses bei dem Arbeiter keine genügende Rücksicht genommen, folg¬
lich muß die Industrie das Fehlende ergänzen, sie muß einen Teil des Bei¬
trages für die Altersversorgung aus ihrer Tasche bezahlen als Entgelt dafür,
daß der Lohn des Arbeiters zu niedrig ist, um von ihm die Kosten für die
Fürsorge im Alter allein bestreiten zu können.

Es kommt aber noch ein Grund hinzu, der den Unternehmer als beitrags¬
pflichtig zu den Kosten der Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter er¬
scheinen läßt. Ein Krebsschade der heutigen Produktionsweise sind die Berufs¬
krankheiten, die durch ständige Berührung mit giftigen Stoffen oder durch zu
anhaltende einseitige Beschäftigung den Arbeiter in frühen Jahren zum Krüppel
und Invaliden machen. Hier sind die Unternehmer ohne allen Zweifel ver¬
pflichtet, für die Berufsinvaliden und ihre Familien Sorge zu tragen, zumal
da der Arbeitslohn in solchen Leben und Gesundheit gefährdenden Betrieben in
gar keinem Verhältnis zu dem Verbrauch an Arbeitskraft steht, und gerade hier
dürfte die Versicherung berufen sein, am ehesten Wandel zu schaffen.

Können heute die Arbeiter bei den ersten Krankheitserscheinungen entlassen
werden, können somit die Unternehmer jegliche Verpflichtung von sich abwälzen, so


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[0515] Die Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter. Fortbestand unsrer Industrie gar nicht die Rede sein kann, selbst wenn ihr, wie bei der Unfallversicherung, die Tragung der Kosten allein zufiele. Bei der heutigen wirtschaftlichen Lage mit ihrer planlos betriebenen Produktion und den infolge dessen steten Absatzstockungen sind Schwankungen in den Lohnver¬ hältnissen von zehn, ja zwanzig Prozent während eines Jahres nichts außer¬ gewöhnliches, und dem Wettbewerb des Auslandes kann durch internationale Verträge, die auch dort die Arbeiterversicherung regeln, und wo das nicht angeht, durch Schutzzölle abgeholfen werden. Wir kommen nun zur Aufbringung der Kosten. Die Alters- und Jn- validenversorgung wird zum Wohle und Nutzen des Arbeiters geschaffen, und somit müßte unter andern Verhältnissen auch der Arbeiter allein die Kosten tragen. Nun aber wird wohl von keiner Seite bestritten, daß infolge der wirtschaftlichen und sozialen Mißstände unserer Zeit der Arbeitslohn nahezu auf den kleinsten Satz herabgedrückt ist, mit dem gerade die allernotwmdigsten Bedürfnisse des Arbeiters bestritten werden können. Der Arbeiter kann sich, obgleich neben ihm noch Frau und Kind von früh bis spät an die Maschine gebannt sind, zur Not genügend nähren und kleiden. Die wenigen Spar¬ pfennige, die er vielleicht zurücklegt, reichen gerade hiu, ihn in Zeiten des Arbeitsmangels nicht verhungern zu lassen. Für die fernere Zukunft Erspar¬ nisse zurückzulegen, hinreichend, ihn einmal im Alter sorgenfrei leben zu lassen, daran ist bis jetzt nicht zu denken gewesen. Nun soll die Altersversorgung als ein neues Bedürfnis hingestellt werden, das zu befriedigen der Arbeiter nicht nur berechtigt, sondern angehalten werden soll. Bei Feststellung des gegenwärtigen Arbeitslohnes ist auf Befriedigung dieses Bedürfnisses bei dem Arbeiter keine genügende Rücksicht genommen, folg¬ lich muß die Industrie das Fehlende ergänzen, sie muß einen Teil des Bei¬ trages für die Altersversorgung aus ihrer Tasche bezahlen als Entgelt dafür, daß der Lohn des Arbeiters zu niedrig ist, um von ihm die Kosten für die Fürsorge im Alter allein bestreiten zu können. Es kommt aber noch ein Grund hinzu, der den Unternehmer als beitrags¬ pflichtig zu den Kosten der Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter er¬ scheinen läßt. Ein Krebsschade der heutigen Produktionsweise sind die Berufs¬ krankheiten, die durch ständige Berührung mit giftigen Stoffen oder durch zu anhaltende einseitige Beschäftigung den Arbeiter in frühen Jahren zum Krüppel und Invaliden machen. Hier sind die Unternehmer ohne allen Zweifel ver¬ pflichtet, für die Berufsinvaliden und ihre Familien Sorge zu tragen, zumal da der Arbeitslohn in solchen Leben und Gesundheit gefährdenden Betrieben in gar keinem Verhältnis zu dem Verbrauch an Arbeitskraft steht, und gerade hier dürfte die Versicherung berufen sein, am ehesten Wandel zu schaffen. Können heute die Arbeiter bei den ersten Krankheitserscheinungen entlassen werden, können somit die Unternehmer jegliche Verpflichtung von sich abwälzen, so

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/515>, abgerufen am 23.07.2024.