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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Zur Ästhetik des Naturalismus.

folgt ihr freilich jetzt die Aufgabe, das Geschichtliche nicht darzustellen in
künstlich belebten Bildern des Vergangenen, sondern in seiner lebendigen Be¬
thätigung mitten unter uns, in seinen fortschwirrenden Fäden, in seiner Macht
über die Gegenwart."


Wenn mein's so hört, möcht's leidlich scheinen,
Steht aber doch immer schief darum,
Denn

das ist keine Poesie oder vielmehr nur ein Bruchteil derselben, die sämtlichen Dar¬
legungen des Verfassers beruhen auf einer großen Überschätzung des Gewinnes,
den die moderne Spezialwissenschaft der lebendigen, das Leben notwendig in
seiner Ganzheit erfassender Poesie bringen kann, sie beruhen auf einer Kritik
der Literatur vergangener Jahrtausende, die schlechterdings unberechtigt ist, sie
beruhen auf einem völligen Jgnoriren der Thatsache, daß der darstellende Dichter
und jeder Künstler überhaupt es ebenso mit der Erscheinung als mit dem Wesen
der Dinge zu thun hat, daß er also, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse oder
Thatsachen der Erscheinung auch zu Grunde liegen mögen, in seiner Wiedergabe
der Erscheinung gebunden ist und sich all der veralteten unwissenschaftlichen Bilder
und Redensarten zu bedienen hat, welche Homer, Sophokles, Shakespeare, Cer¬
vantes und Goethe eben auch anwenden mußten. Die moderne Wissenschaft weiß
uns sehr viel von der Sonne zu sagen, und für sie schirrt allerdings Helios die
Rosse nicht mehr an. Aber die Sonne steigt für Millionen Augen noch immer
im Osten empor und sinkt im Westen ins Meer, und ihre Wirkungen auf Thun
und Lasten, Lust und Unlust des einzelnen Menschen sind die gleichen wie in
Homers Zeiten, auch wenn der moderne Dichter noch so gut über Sonnenferne,
Sonnendurchmesser, Sonnenflecke und Prvtuberanzen unterrichtet wäre. Der
Mond wird durch die sämtlichen Forschungen Schröters und Mädlers, ja selbst
durch das leidenschaftlichste Interesse eines modernen Dichters für Mondgebirge
und Mondkrater in seiner Erscheinung nicht verändert, sein Licht füllt noch
immer Busch und Thal, und die Stille einer schönen Mondnacht wird fort¬
fahren, hier und dort eine Seele ganz zu füllen. Die Beispiele ließen sich ver¬
tausendfachen, und der Verfasser der "Prolegomena" würde es sicher mit uns
für eine Albernheit erklären, wenn irgend ein Dichter den Versuch machen wollte,
die mittelst Fernröhren, Spektralanalysen und astronomischen Berechnungen ge¬
wonnenen Ergebnisse in die poetisch unerläßliche Wiedergabe von Naturbildern
und aus der Natur empfangener Stimmungen zu verweben. Für den rechten
Dichter giebt es in diesem Betracht kaum Unterschiede zwischen alt und neu,
die Linden rauschen über Turgenjews düster sinnenden modernen Menschen noch
ebenso wie über Meister Gottfrieds Tristan und Isolde.

Aber -- sagt unser naturalistischer oder, wie er will, naturwissenschaftlicher
Realist -- die Menschen haben sich geändert, der Mensch ist ein andrer ge-


Zur Ästhetik des Naturalismus.

folgt ihr freilich jetzt die Aufgabe, das Geschichtliche nicht darzustellen in
künstlich belebten Bildern des Vergangenen, sondern in seiner lebendigen Be¬
thätigung mitten unter uns, in seinen fortschwirrenden Fäden, in seiner Macht
über die Gegenwart."


Wenn mein's so hört, möcht's leidlich scheinen,
Steht aber doch immer schief darum,
Denn

das ist keine Poesie oder vielmehr nur ein Bruchteil derselben, die sämtlichen Dar¬
legungen des Verfassers beruhen auf einer großen Überschätzung des Gewinnes,
den die moderne Spezialwissenschaft der lebendigen, das Leben notwendig in
seiner Ganzheit erfassender Poesie bringen kann, sie beruhen auf einer Kritik
der Literatur vergangener Jahrtausende, die schlechterdings unberechtigt ist, sie
beruhen auf einem völligen Jgnoriren der Thatsache, daß der darstellende Dichter
und jeder Künstler überhaupt es ebenso mit der Erscheinung als mit dem Wesen
der Dinge zu thun hat, daß er also, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse oder
Thatsachen der Erscheinung auch zu Grunde liegen mögen, in seiner Wiedergabe
der Erscheinung gebunden ist und sich all der veralteten unwissenschaftlichen Bilder
und Redensarten zu bedienen hat, welche Homer, Sophokles, Shakespeare, Cer¬
vantes und Goethe eben auch anwenden mußten. Die moderne Wissenschaft weiß
uns sehr viel von der Sonne zu sagen, und für sie schirrt allerdings Helios die
Rosse nicht mehr an. Aber die Sonne steigt für Millionen Augen noch immer
im Osten empor und sinkt im Westen ins Meer, und ihre Wirkungen auf Thun
und Lasten, Lust und Unlust des einzelnen Menschen sind die gleichen wie in
Homers Zeiten, auch wenn der moderne Dichter noch so gut über Sonnenferne,
Sonnendurchmesser, Sonnenflecke und Prvtuberanzen unterrichtet wäre. Der
Mond wird durch die sämtlichen Forschungen Schröters und Mädlers, ja selbst
durch das leidenschaftlichste Interesse eines modernen Dichters für Mondgebirge
und Mondkrater in seiner Erscheinung nicht verändert, sein Licht füllt noch
immer Busch und Thal, und die Stille einer schönen Mondnacht wird fort¬
fahren, hier und dort eine Seele ganz zu füllen. Die Beispiele ließen sich ver¬
tausendfachen, und der Verfasser der „Prolegomena" würde es sicher mit uns
für eine Albernheit erklären, wenn irgend ein Dichter den Versuch machen wollte,
die mittelst Fernröhren, Spektralanalysen und astronomischen Berechnungen ge¬
wonnenen Ergebnisse in die poetisch unerläßliche Wiedergabe von Naturbildern
und aus der Natur empfangener Stimmungen zu verweben. Für den rechten
Dichter giebt es in diesem Betracht kaum Unterschiede zwischen alt und neu,
die Linden rauschen über Turgenjews düster sinnenden modernen Menschen noch
ebenso wie über Meister Gottfrieds Tristan und Isolde.

Aber — sagt unser naturalistischer oder, wie er will, naturwissenschaftlicher
Realist — die Menschen haben sich geändert, der Mensch ist ein andrer ge-


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[0383] Zur Ästhetik des Naturalismus. folgt ihr freilich jetzt die Aufgabe, das Geschichtliche nicht darzustellen in künstlich belebten Bildern des Vergangenen, sondern in seiner lebendigen Be¬ thätigung mitten unter uns, in seinen fortschwirrenden Fäden, in seiner Macht über die Gegenwart." Wenn mein's so hört, möcht's leidlich scheinen, Steht aber doch immer schief darum, Denn das ist keine Poesie oder vielmehr nur ein Bruchteil derselben, die sämtlichen Dar¬ legungen des Verfassers beruhen auf einer großen Überschätzung des Gewinnes, den die moderne Spezialwissenschaft der lebendigen, das Leben notwendig in seiner Ganzheit erfassender Poesie bringen kann, sie beruhen auf einer Kritik der Literatur vergangener Jahrtausende, die schlechterdings unberechtigt ist, sie beruhen auf einem völligen Jgnoriren der Thatsache, daß der darstellende Dichter und jeder Künstler überhaupt es ebenso mit der Erscheinung als mit dem Wesen der Dinge zu thun hat, daß er also, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse oder Thatsachen der Erscheinung auch zu Grunde liegen mögen, in seiner Wiedergabe der Erscheinung gebunden ist und sich all der veralteten unwissenschaftlichen Bilder und Redensarten zu bedienen hat, welche Homer, Sophokles, Shakespeare, Cer¬ vantes und Goethe eben auch anwenden mußten. Die moderne Wissenschaft weiß uns sehr viel von der Sonne zu sagen, und für sie schirrt allerdings Helios die Rosse nicht mehr an. Aber die Sonne steigt für Millionen Augen noch immer im Osten empor und sinkt im Westen ins Meer, und ihre Wirkungen auf Thun und Lasten, Lust und Unlust des einzelnen Menschen sind die gleichen wie in Homers Zeiten, auch wenn der moderne Dichter noch so gut über Sonnenferne, Sonnendurchmesser, Sonnenflecke und Prvtuberanzen unterrichtet wäre. Der Mond wird durch die sämtlichen Forschungen Schröters und Mädlers, ja selbst durch das leidenschaftlichste Interesse eines modernen Dichters für Mondgebirge und Mondkrater in seiner Erscheinung nicht verändert, sein Licht füllt noch immer Busch und Thal, und die Stille einer schönen Mondnacht wird fort¬ fahren, hier und dort eine Seele ganz zu füllen. Die Beispiele ließen sich ver¬ tausendfachen, und der Verfasser der „Prolegomena" würde es sicher mit uns für eine Albernheit erklären, wenn irgend ein Dichter den Versuch machen wollte, die mittelst Fernröhren, Spektralanalysen und astronomischen Berechnungen ge¬ wonnenen Ergebnisse in die poetisch unerläßliche Wiedergabe von Naturbildern und aus der Natur empfangener Stimmungen zu verweben. Für den rechten Dichter giebt es in diesem Betracht kaum Unterschiede zwischen alt und neu, die Linden rauschen über Turgenjews düster sinnenden modernen Menschen noch ebenso wie über Meister Gottfrieds Tristan und Isolde. Aber — sagt unser naturalistischer oder, wie er will, naturwissenschaftlicher Realist — die Menschen haben sich geändert, der Mensch ist ein andrer ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/383>, abgerufen am 23.07.2024.