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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Und doch, so unbekümmert um das Äußere, wirken sie zugleich nach außen,
oder können es, wie dort auf mich, als ich stehen blieb, um ihrem höchst ein¬
fachen Treiben zuzusehen, so wohl auch auf die Mädchen, die zur Hut dabei
waren. Man kann kaum behaglichere Menschen sehen, die wie in Behagen
eingetaucht erscheinen, als Kinder, die Gänse, Ziegen, Kühe und Kälber hüten,
oder einen Schäfer bei seinen Schafen, der die Arbeit und Unruhe des Ge¬
schäfts seinem Hunde überläßt und sich nur die Oberleitung vorbehält in könig¬
licher Ruhe. Das Behagen der Tiere überträgt sich gewiß auf sie in täglichem
Umgang, sie erscheinen auch so ganz in sich und in sich ganz, wozu wir Städter
es so schwer bringen.

Man bekommt das gerade in dortiger Gegend (bei Lobenstein) auch zu
hören, besonders gegen Abend, in einem Singen, in dem die vichhütenden Kinder
ihrem Behagen Abfluß schaffen, wenn sie sich nicht etwa beobachtet wissen. Die
Stimme bewegt sich, halb träge und doch frisch genug, wortlos hauptsächlich in
lang gezogenen Tönen, die doch auch mit Wechsel und Pausen im Ganzen
zugleich einen melodischen Eindruck machen, sobald man lange genug und ge¬
duldig hinhört; stellenweise treten auch in der Tonbewegung lustige Schleifen
und Verschlingungen auf, die dem Jodeln der Alpler gleichen, alles aber so
ganz urwüchsig, so von aller Schule und musikalischen Bewußtsein fern, daß
es mir das erstemal den Eindruck machte, als ob ich dem Augenblick belauschend
beiwohnen dürfte, wo das Singen eben erst erfunden würde oder erfunden
werden sollte. Denn ein eigentliches Singen war es noch nicht, nur der bereite
Stoff dazu, aber gerade so der Ausdruck eiues überfließenden tiefen freien Be¬
hagens am bloßen Dasein, wie er mir noch nicht vorgekommen war. Man
hörte oder fühlte oder sah ordentlich den Grund der Kinderseele als breiten
stillen Wellenschlag, der doch hie und da in ein leckeres Kräuseln oder Hüpfen
überging und, um sich selbst halbbewußt zu genießen, die bereit schwebenden
Luftwellen benutzte, welche jene eigenartigen Tonwellen dann auch in die Seele
des Hörers übertrugen mit einer ich muß sagen wundersamen Wirkung. Wenn
Goethe einmal nach einem Concert äußerte, bei einer gewissen modernen Musik
bleibe ihm alles in den Ohren hängen (bei Eckermann 1. Jan. 1827), so ging
mir dieses Singen recht in die Seele, in den Grund der Seele.

Ähnlich war aber schon die Wirkung, die ich beim bloßen kurzen Beob¬
achten der Tiere in mir spürte. Es ging von ihrem Treiben etwas in mich
über, das als grellster Gegensatz auftrat zu dem, was ich aus der Stadt in
mir mitgebracht hatte, wenigstens als eine dazu durchaus notwendige Ergänzung
und Berichtigung. Was das war? Ja, es ist schwierig zu beschreiben, wenn
man sich mit dem Worte gesättigtes Behagen am Dasein nicht begnügen will.
Jeder Städter kennt es aber aus Erfahrung, wenn er in die sogenannte
Sommerfrische geht. Mir fällt dabei das Wort eines solchen Städters ein:
ein rechtes Berliner Kind sieht und fühlt schou Sommerfrische, wo er (oder sie)


Und doch, so unbekümmert um das Äußere, wirken sie zugleich nach außen,
oder können es, wie dort auf mich, als ich stehen blieb, um ihrem höchst ein¬
fachen Treiben zuzusehen, so wohl auch auf die Mädchen, die zur Hut dabei
waren. Man kann kaum behaglichere Menschen sehen, die wie in Behagen
eingetaucht erscheinen, als Kinder, die Gänse, Ziegen, Kühe und Kälber hüten,
oder einen Schäfer bei seinen Schafen, der die Arbeit und Unruhe des Ge¬
schäfts seinem Hunde überläßt und sich nur die Oberleitung vorbehält in könig¬
licher Ruhe. Das Behagen der Tiere überträgt sich gewiß auf sie in täglichem
Umgang, sie erscheinen auch so ganz in sich und in sich ganz, wozu wir Städter
es so schwer bringen.

Man bekommt das gerade in dortiger Gegend (bei Lobenstein) auch zu
hören, besonders gegen Abend, in einem Singen, in dem die vichhütenden Kinder
ihrem Behagen Abfluß schaffen, wenn sie sich nicht etwa beobachtet wissen. Die
Stimme bewegt sich, halb träge und doch frisch genug, wortlos hauptsächlich in
lang gezogenen Tönen, die doch auch mit Wechsel und Pausen im Ganzen
zugleich einen melodischen Eindruck machen, sobald man lange genug und ge¬
duldig hinhört; stellenweise treten auch in der Tonbewegung lustige Schleifen
und Verschlingungen auf, die dem Jodeln der Alpler gleichen, alles aber so
ganz urwüchsig, so von aller Schule und musikalischen Bewußtsein fern, daß
es mir das erstemal den Eindruck machte, als ob ich dem Augenblick belauschend
beiwohnen dürfte, wo das Singen eben erst erfunden würde oder erfunden
werden sollte. Denn ein eigentliches Singen war es noch nicht, nur der bereite
Stoff dazu, aber gerade so der Ausdruck eiues überfließenden tiefen freien Be¬
hagens am bloßen Dasein, wie er mir noch nicht vorgekommen war. Man
hörte oder fühlte oder sah ordentlich den Grund der Kinderseele als breiten
stillen Wellenschlag, der doch hie und da in ein leckeres Kräuseln oder Hüpfen
überging und, um sich selbst halbbewußt zu genießen, die bereit schwebenden
Luftwellen benutzte, welche jene eigenartigen Tonwellen dann auch in die Seele
des Hörers übertrugen mit einer ich muß sagen wundersamen Wirkung. Wenn
Goethe einmal nach einem Concert äußerte, bei einer gewissen modernen Musik
bleibe ihm alles in den Ohren hängen (bei Eckermann 1. Jan. 1827), so ging
mir dieses Singen recht in die Seele, in den Grund der Seele.

Ähnlich war aber schon die Wirkung, die ich beim bloßen kurzen Beob¬
achten der Tiere in mir spürte. Es ging von ihrem Treiben etwas in mich
über, das als grellster Gegensatz auftrat zu dem, was ich aus der Stadt in
mir mitgebracht hatte, wenigstens als eine dazu durchaus notwendige Ergänzung
und Berichtigung. Was das war? Ja, es ist schwierig zu beschreiben, wenn
man sich mit dem Worte gesättigtes Behagen am Dasein nicht begnügen will.
Jeder Städter kennt es aber aus Erfahrung, wenn er in die sogenannte
Sommerfrische geht. Mir fällt dabei das Wort eines solchen Städters ein:
ein rechtes Berliner Kind sieht und fühlt schou Sommerfrische, wo er (oder sie)


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[0035] Und doch, so unbekümmert um das Äußere, wirken sie zugleich nach außen, oder können es, wie dort auf mich, als ich stehen blieb, um ihrem höchst ein¬ fachen Treiben zuzusehen, so wohl auch auf die Mädchen, die zur Hut dabei waren. Man kann kaum behaglichere Menschen sehen, die wie in Behagen eingetaucht erscheinen, als Kinder, die Gänse, Ziegen, Kühe und Kälber hüten, oder einen Schäfer bei seinen Schafen, der die Arbeit und Unruhe des Ge¬ schäfts seinem Hunde überläßt und sich nur die Oberleitung vorbehält in könig¬ licher Ruhe. Das Behagen der Tiere überträgt sich gewiß auf sie in täglichem Umgang, sie erscheinen auch so ganz in sich und in sich ganz, wozu wir Städter es so schwer bringen. Man bekommt das gerade in dortiger Gegend (bei Lobenstein) auch zu hören, besonders gegen Abend, in einem Singen, in dem die vichhütenden Kinder ihrem Behagen Abfluß schaffen, wenn sie sich nicht etwa beobachtet wissen. Die Stimme bewegt sich, halb träge und doch frisch genug, wortlos hauptsächlich in lang gezogenen Tönen, die doch auch mit Wechsel und Pausen im Ganzen zugleich einen melodischen Eindruck machen, sobald man lange genug und ge¬ duldig hinhört; stellenweise treten auch in der Tonbewegung lustige Schleifen und Verschlingungen auf, die dem Jodeln der Alpler gleichen, alles aber so ganz urwüchsig, so von aller Schule und musikalischen Bewußtsein fern, daß es mir das erstemal den Eindruck machte, als ob ich dem Augenblick belauschend beiwohnen dürfte, wo das Singen eben erst erfunden würde oder erfunden werden sollte. Denn ein eigentliches Singen war es noch nicht, nur der bereite Stoff dazu, aber gerade so der Ausdruck eiues überfließenden tiefen freien Be¬ hagens am bloßen Dasein, wie er mir noch nicht vorgekommen war. Man hörte oder fühlte oder sah ordentlich den Grund der Kinderseele als breiten stillen Wellenschlag, der doch hie und da in ein leckeres Kräuseln oder Hüpfen überging und, um sich selbst halbbewußt zu genießen, die bereit schwebenden Luftwellen benutzte, welche jene eigenartigen Tonwellen dann auch in die Seele des Hörers übertrugen mit einer ich muß sagen wundersamen Wirkung. Wenn Goethe einmal nach einem Concert äußerte, bei einer gewissen modernen Musik bleibe ihm alles in den Ohren hängen (bei Eckermann 1. Jan. 1827), so ging mir dieses Singen recht in die Seele, in den Grund der Seele. Ähnlich war aber schon die Wirkung, die ich beim bloßen kurzen Beob¬ achten der Tiere in mir spürte. Es ging von ihrem Treiben etwas in mich über, das als grellster Gegensatz auftrat zu dem, was ich aus der Stadt in mir mitgebracht hatte, wenigstens als eine dazu durchaus notwendige Ergänzung und Berichtigung. Was das war? Ja, es ist schwierig zu beschreiben, wenn man sich mit dem Worte gesättigtes Behagen am Dasein nicht begnügen will. Jeder Städter kennt es aber aus Erfahrung, wenn er in die sogenannte Sommerfrische geht. Mir fällt dabei das Wort eines solchen Städters ein: ein rechtes Berliner Kind sieht und fühlt schou Sommerfrische, wo er (oder sie)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/35>, abgerufen am 23.07.2024.