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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Goethes Briefe aus Italie,:.

Teil der Reise bis zum Aufenthalt in Neapel im Frühling 1787 blieben, mehr
zufällig, vollständig erhalten. Eben diese sind uns jetzt bekannt gemacht worden,
und sie zeigen, daß wir Veranlassung und Stimmung während der Reise nicht
immer richtig beurteilt haben.

Zehn Jahre hatte Goethe in Weimar gelebt. Was ihn im Drange der
Geschäfte, was ihn in den stillen Stunden geistiger Sammlung und künstlerischen
Schaffens erfüllte, haben uns in einem treuen Bilde seine Briefe an Charlotte
von Stein erhalten. Wie er sich erst von dem stille", seinen Wesen der außer¬
ordentlichen Frau angezogen fühlte, wie sie seine dumpfe Jugend beschwichtigte
-- seine Besänftiger" nennt er sie --, davon hat er in der Iphigenie ein
poetisches Gleichnis hingestellt. Seine ruhige Neigung wird bald zur heftigen
Leidenschaft, die er ihr in unzähligen Briefen bekennt. So weit es ihrer schönen,
aber ebenen, flutenlosen Seele möglich ist, erwiedert sie die treue Liebe mit auf¬
richtiger Neigung. Diese Briefe, immer gleich in ihrem Wesen wie die Wogen des
bewegten Meeres, aber in ihren Gestalten immer wechselnd, sind das kostbarste
Besitztum unsrer Literatur geworden. Sie sind mit nichts zu vergleichen, was
sonst von Zeugnissen erregter Seelenzustände bekannt geworden ist. Wie Goethes
Lieder, üben die Bände, in denen sie gesammelt stehen, einen leisen Zwang aus,
sie immer und immer wieder zur Hand zu nehmen.

Auf diese in ihrer Einfachheit so tief poetischen Ergüsse, auf diese nie er¬
müdende Schilderung eines bedrängten Herzens folgten als das nächste Be¬
kenntnis aus Goethes Leben die Bücher der italienischen Reise in ihrer klassischen
Ruhe: rein objektive Darstellung des Geschauten und Erlebten. Das acht¬
zehnte Jahrhundert hatte eine berühmte Beschreibung einer Reise nach Italien,
Sternes sentimentale Reise, ein Buch, das in der europäischen Literatur Epoche
machte. Nichts als Empfindungen enthält es, jeder äußere Gegenstand läßt
aus der Seele Schmerzen und Freuden in Garben und eine ganze Gircmdola
von Witzfunken aufsprühen. Man merkt es kaum, so wenig wird man auf die
äußeren Umstände aufmerksam gemacht, daß der Reisende abbricht, noch ehe er
den Boden Italiens betreten hat; denn es war eben nicht eine Reise hierhin und
dorthin, sondern eine Reise in das eigne Herz. Wie hatte dieses Buch noch auf
den Werther eingewirkt! In Goethes italienischer Reise aber ist nun gar nichts
mehr davon, nicht einmal etwas von dem, was man geistreich nennt, kein Witz,
kein Einfall; immer stehen die Dinge da, wie sie sind, und wenn sie einmal ge¬
rückt und gedreht werden, so ist es nur, um sie an den Platz zu stellen, von
dem aus ihre Stimme besser vernehmbar wird.

Ist es uns zu verdenken, wenn wir früher schlössen, Goethe habe jene
ewige Spannung der Liebe nicht mehr ertragen können, es habe ihn endlich
jenes "süße Gift der unbefriedigten Liebe" krank gemacht, er habe in der Ent¬
fernung, die eine Trennung vorbereiten sollte, in ruhiger Betrachtung von süd¬
licher Natur und Kunst gesunden, die ersehnte Ruhe finden wollen?


Goethes Briefe aus Italie,:.

Teil der Reise bis zum Aufenthalt in Neapel im Frühling 1787 blieben, mehr
zufällig, vollständig erhalten. Eben diese sind uns jetzt bekannt gemacht worden,
und sie zeigen, daß wir Veranlassung und Stimmung während der Reise nicht
immer richtig beurteilt haben.

Zehn Jahre hatte Goethe in Weimar gelebt. Was ihn im Drange der
Geschäfte, was ihn in den stillen Stunden geistiger Sammlung und künstlerischen
Schaffens erfüllte, haben uns in einem treuen Bilde seine Briefe an Charlotte
von Stein erhalten. Wie er sich erst von dem stille», seinen Wesen der außer¬
ordentlichen Frau angezogen fühlte, wie sie seine dumpfe Jugend beschwichtigte
— seine Besänftiger» nennt er sie —, davon hat er in der Iphigenie ein
poetisches Gleichnis hingestellt. Seine ruhige Neigung wird bald zur heftigen
Leidenschaft, die er ihr in unzähligen Briefen bekennt. So weit es ihrer schönen,
aber ebenen, flutenlosen Seele möglich ist, erwiedert sie die treue Liebe mit auf¬
richtiger Neigung. Diese Briefe, immer gleich in ihrem Wesen wie die Wogen des
bewegten Meeres, aber in ihren Gestalten immer wechselnd, sind das kostbarste
Besitztum unsrer Literatur geworden. Sie sind mit nichts zu vergleichen, was
sonst von Zeugnissen erregter Seelenzustände bekannt geworden ist. Wie Goethes
Lieder, üben die Bände, in denen sie gesammelt stehen, einen leisen Zwang aus,
sie immer und immer wieder zur Hand zu nehmen.

Auf diese in ihrer Einfachheit so tief poetischen Ergüsse, auf diese nie er¬
müdende Schilderung eines bedrängten Herzens folgten als das nächste Be¬
kenntnis aus Goethes Leben die Bücher der italienischen Reise in ihrer klassischen
Ruhe: rein objektive Darstellung des Geschauten und Erlebten. Das acht¬
zehnte Jahrhundert hatte eine berühmte Beschreibung einer Reise nach Italien,
Sternes sentimentale Reise, ein Buch, das in der europäischen Literatur Epoche
machte. Nichts als Empfindungen enthält es, jeder äußere Gegenstand läßt
aus der Seele Schmerzen und Freuden in Garben und eine ganze Gircmdola
von Witzfunken aufsprühen. Man merkt es kaum, so wenig wird man auf die
äußeren Umstände aufmerksam gemacht, daß der Reisende abbricht, noch ehe er
den Boden Italiens betreten hat; denn es war eben nicht eine Reise hierhin und
dorthin, sondern eine Reise in das eigne Herz. Wie hatte dieses Buch noch auf
den Werther eingewirkt! In Goethes italienischer Reise aber ist nun gar nichts
mehr davon, nicht einmal etwas von dem, was man geistreich nennt, kein Witz,
kein Einfall; immer stehen die Dinge da, wie sie sind, und wenn sie einmal ge¬
rückt und gedreht werden, so ist es nur, um sie an den Platz zu stellen, von
dem aus ihre Stimme besser vernehmbar wird.

Ist es uns zu verdenken, wenn wir früher schlössen, Goethe habe jene
ewige Spannung der Liebe nicht mehr ertragen können, es habe ihn endlich
jenes „süße Gift der unbefriedigten Liebe" krank gemacht, er habe in der Ent¬
fernung, die eine Trennung vorbereiten sollte, in ruhiger Betrachtung von süd¬
licher Natur und Kunst gesunden, die ersehnte Ruhe finden wollen?


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[0335] Goethes Briefe aus Italie,:. Teil der Reise bis zum Aufenthalt in Neapel im Frühling 1787 blieben, mehr zufällig, vollständig erhalten. Eben diese sind uns jetzt bekannt gemacht worden, und sie zeigen, daß wir Veranlassung und Stimmung während der Reise nicht immer richtig beurteilt haben. Zehn Jahre hatte Goethe in Weimar gelebt. Was ihn im Drange der Geschäfte, was ihn in den stillen Stunden geistiger Sammlung und künstlerischen Schaffens erfüllte, haben uns in einem treuen Bilde seine Briefe an Charlotte von Stein erhalten. Wie er sich erst von dem stille», seinen Wesen der außer¬ ordentlichen Frau angezogen fühlte, wie sie seine dumpfe Jugend beschwichtigte — seine Besänftiger» nennt er sie —, davon hat er in der Iphigenie ein poetisches Gleichnis hingestellt. Seine ruhige Neigung wird bald zur heftigen Leidenschaft, die er ihr in unzähligen Briefen bekennt. So weit es ihrer schönen, aber ebenen, flutenlosen Seele möglich ist, erwiedert sie die treue Liebe mit auf¬ richtiger Neigung. Diese Briefe, immer gleich in ihrem Wesen wie die Wogen des bewegten Meeres, aber in ihren Gestalten immer wechselnd, sind das kostbarste Besitztum unsrer Literatur geworden. Sie sind mit nichts zu vergleichen, was sonst von Zeugnissen erregter Seelenzustände bekannt geworden ist. Wie Goethes Lieder, üben die Bände, in denen sie gesammelt stehen, einen leisen Zwang aus, sie immer und immer wieder zur Hand zu nehmen. Auf diese in ihrer Einfachheit so tief poetischen Ergüsse, auf diese nie er¬ müdende Schilderung eines bedrängten Herzens folgten als das nächste Be¬ kenntnis aus Goethes Leben die Bücher der italienischen Reise in ihrer klassischen Ruhe: rein objektive Darstellung des Geschauten und Erlebten. Das acht¬ zehnte Jahrhundert hatte eine berühmte Beschreibung einer Reise nach Italien, Sternes sentimentale Reise, ein Buch, das in der europäischen Literatur Epoche machte. Nichts als Empfindungen enthält es, jeder äußere Gegenstand läßt aus der Seele Schmerzen und Freuden in Garben und eine ganze Gircmdola von Witzfunken aufsprühen. Man merkt es kaum, so wenig wird man auf die äußeren Umstände aufmerksam gemacht, daß der Reisende abbricht, noch ehe er den Boden Italiens betreten hat; denn es war eben nicht eine Reise hierhin und dorthin, sondern eine Reise in das eigne Herz. Wie hatte dieses Buch noch auf den Werther eingewirkt! In Goethes italienischer Reise aber ist nun gar nichts mehr davon, nicht einmal etwas von dem, was man geistreich nennt, kein Witz, kein Einfall; immer stehen die Dinge da, wie sie sind, und wenn sie einmal ge¬ rückt und gedreht werden, so ist es nur, um sie an den Platz zu stellen, von dem aus ihre Stimme besser vernehmbar wird. Ist es uns zu verdenken, wenn wir früher schlössen, Goethe habe jene ewige Spannung der Liebe nicht mehr ertragen können, es habe ihn endlich jenes „süße Gift der unbefriedigten Liebe" krank gemacht, er habe in der Ent¬ fernung, die eine Trennung vorbereiten sollte, in ruhiger Betrachtung von süd¬ licher Natur und Kunst gesunden, die ersehnte Ruhe finden wollen?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/335>, abgerufen am 23.07.2024.