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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Deutsch-böhmische Briefe.

epischen Stücken der Handschrift tritt der Mangel an konkreter Anschauung, die
das Volkslied und namentlich das slawische charakterisirt, noch häufiger hervor.
Es wimmelt hier geradezu von "rechts" und "links," von "dahin" und "dorthin,"
von "vorn" und "hinten" und andern unbestimmten Ausdrücken. Das angeb¬
liche Nationalepos "Zaboj" ist ein so nebelhaftes Opus, daß man nicht einmal
weiß, ob der darin geschilderte Kampf in Böhmen spielt. Der Eingang läßt
auf eine Melodramenbühne dritter Güte schließen. Aus einem schwarzen Walde
sieht man einen Felsen aufragen. Auf diesen stellt sich der Held und weint
wie eine Taube. Dann begeistert er sich zu Thaten und eilt von einem zum
andern, versammelt sie in tiefer Nacht in Waldeseinsamkeit und entzündet sie
durch ein Lied zum Kampfe, wobei er sich (wohl aus Vorsicht, schwerlich aus
Gründen der Akustik) auf die tiefste Stelle postirt. Dann abermalige mitter¬
nächtliche Versammlung, darauf tagelanger Marsch ohne irgendwelche Anfechtung,
sodaß die bisherige Vorsicht des Helden unbegreiflich erscheint, endlich Zusammen¬
stoß mit dem Gegner. Kaum ist dieser geschlagen, so erschallt das Kommando:
"Bringet aus allen Thälern Rosse herbei, der ganze Wald sei Gewieher." Es
geschieht, und nun wird verfolgt, wieder Tage lang und natürlich wieder ohne
andre Bezeichnungen als "wilder Strom," "blauer Berg," "grauer Berg"
u. dergl. -- eine Verfolgung, die sich mehr mit der Landschaft als mit dem
flüchtigen Feinde beschäftigt, und von der es u. a. heißt: "Es flogen Ebnen,
Berge und Wälder -- rechts und links, alles fliegt zurück." Offenbar hat
Hanka -- Verzeihung, dem Dichter des dreizehnten Jahrhunderts, dessen Epos
jener unter verrosteten Pfeilspitzen fand -- der bekannte Vers in Bürgers
"Leonore" vorgeschwebt. Diese Ballade bringt uns noch auf eine Bemerkung:
die Epen der Königinhofer Handschrift sind eigentlich Balladen. Man sehe
sich den "Jaroslav" an. Er holt weit aus und erzählt sehr kurz. Er
berichtet, von den Schwaneneiern Ledas anfangend, den ganzen Mongolen- oder
Tatareneinfall. Nach drei Proömien erzählt er von der Exkursion der ta¬
tarischen Prinzessin, von ihrer Ermordung, von einer großen Schlacht mit
Wunderzeichen und Hexenkünsten, von der Unterwerfung Ungarns und Polens;
er berichtet ferner von der Einschließung einer Kriegerschaar auf dem Hostein,
von den Kämpfen daselbst, er bringt ihre Gebete, die Wunder der Mutter
Gottes und schließlich die Schlacht bei Olmütz, wo der Held des Gedichts
auftritt -- das alles aber wird uns in nicht ganz dreihundert zehnsilbigen
Versen mitgeteilt, sodaß von irgendwelcher epischen Breite nicht die Rede sein
kann. Dieselbe balladenhafte Kürze treffen wir in den übrigen erzählenden
Gedichten der Handschrift. Man hat ihre "unerreichte Schönheit" gepriesen,
in Wahrheit darf man sie kaum poetisches Mittelgut nennen. Wie sie graphisch
und sprachlich das dürftige Wissen der "tschechischen Renaissance" wiederspiegeln,
so zeigen sie auch das schwächliche dichterische Vermögen derselben. Die mächtige,
reich entfaltete klassische Literatur der Deutschen und noch mehr deren Romantiker,


Deutsch-böhmische Briefe.

epischen Stücken der Handschrift tritt der Mangel an konkreter Anschauung, die
das Volkslied und namentlich das slawische charakterisirt, noch häufiger hervor.
Es wimmelt hier geradezu von „rechts" und „links," von „dahin" und „dorthin,"
von „vorn" und „hinten" und andern unbestimmten Ausdrücken. Das angeb¬
liche Nationalepos „Zaboj" ist ein so nebelhaftes Opus, daß man nicht einmal
weiß, ob der darin geschilderte Kampf in Böhmen spielt. Der Eingang läßt
auf eine Melodramenbühne dritter Güte schließen. Aus einem schwarzen Walde
sieht man einen Felsen aufragen. Auf diesen stellt sich der Held und weint
wie eine Taube. Dann begeistert er sich zu Thaten und eilt von einem zum
andern, versammelt sie in tiefer Nacht in Waldeseinsamkeit und entzündet sie
durch ein Lied zum Kampfe, wobei er sich (wohl aus Vorsicht, schwerlich aus
Gründen der Akustik) auf die tiefste Stelle postirt. Dann abermalige mitter¬
nächtliche Versammlung, darauf tagelanger Marsch ohne irgendwelche Anfechtung,
sodaß die bisherige Vorsicht des Helden unbegreiflich erscheint, endlich Zusammen¬
stoß mit dem Gegner. Kaum ist dieser geschlagen, so erschallt das Kommando:
„Bringet aus allen Thälern Rosse herbei, der ganze Wald sei Gewieher." Es
geschieht, und nun wird verfolgt, wieder Tage lang und natürlich wieder ohne
andre Bezeichnungen als „wilder Strom," „blauer Berg," „grauer Berg"
u. dergl. — eine Verfolgung, die sich mehr mit der Landschaft als mit dem
flüchtigen Feinde beschäftigt, und von der es u. a. heißt: „Es flogen Ebnen,
Berge und Wälder — rechts und links, alles fliegt zurück." Offenbar hat
Hanka — Verzeihung, dem Dichter des dreizehnten Jahrhunderts, dessen Epos
jener unter verrosteten Pfeilspitzen fand — der bekannte Vers in Bürgers
„Leonore" vorgeschwebt. Diese Ballade bringt uns noch auf eine Bemerkung:
die Epen der Königinhofer Handschrift sind eigentlich Balladen. Man sehe
sich den „Jaroslav" an. Er holt weit aus und erzählt sehr kurz. Er
berichtet, von den Schwaneneiern Ledas anfangend, den ganzen Mongolen- oder
Tatareneinfall. Nach drei Proömien erzählt er von der Exkursion der ta¬
tarischen Prinzessin, von ihrer Ermordung, von einer großen Schlacht mit
Wunderzeichen und Hexenkünsten, von der Unterwerfung Ungarns und Polens;
er berichtet ferner von der Einschließung einer Kriegerschaar auf dem Hostein,
von den Kämpfen daselbst, er bringt ihre Gebete, die Wunder der Mutter
Gottes und schließlich die Schlacht bei Olmütz, wo der Held des Gedichts
auftritt — das alles aber wird uns in nicht ganz dreihundert zehnsilbigen
Versen mitgeteilt, sodaß von irgendwelcher epischen Breite nicht die Rede sein
kann. Dieselbe balladenhafte Kürze treffen wir in den übrigen erzählenden
Gedichten der Handschrift. Man hat ihre „unerreichte Schönheit" gepriesen,
in Wahrheit darf man sie kaum poetisches Mittelgut nennen. Wie sie graphisch
und sprachlich das dürftige Wissen der „tschechischen Renaissance" wiederspiegeln,
so zeigen sie auch das schwächliche dichterische Vermögen derselben. Die mächtige,
reich entfaltete klassische Literatur der Deutschen und noch mehr deren Romantiker,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/299>, abgerufen am 23.07.2024.