Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Deutsch-böhmische Lriefe.

der alttschechischen Grammatik. Unter andern sind die Formen des Kompa¬
rativs meist unrichtig angewendet, für die nominale Form des Adjektivs zeigt
sich große Vorliebe, und ebenso manierirt ist die Vorliebe für Adverbialformen
auf o, endlich begegnet man auch Abweichungen von der Syntax. Zum Beispiel
bedeutet als alttfchechisch xroxtsr, neutschechisch Zseunärirn, und in Hankas Hand¬
schrift kommt es nur in letzterer Bedeutung vor, U8i1no entspricht alttschechisch
dem lateinischen on)1ö8t<z, und ctrukcl^ dem lateinischen intörclurn, in der Hand¬
schrift aber hat jenes wie im Neutschechischen die Bedeutung von tortiter, dieses
die von olim.

Man hat die Gedichte der Königinhofer Handschrift mit einem erratischen
Blocke verglichen, der in der gesamten tschechischen Literatur ohne alle Ver¬
bindung daliege, und das Gleichnis trifft zu, wenn man sie nur mit den ächten
Dichtungen des spätern tschechischen Mittelalters zusammenhält, sie unterscheiden
sich von diesen in formaler wie in stofflicher Hinsicht wie Tag von Nacht,
d. h. wie moderne Fabrikate von alten Schöpfungen. Es trifft aber nicht zu,
wenn man es auch auf die tschechische Literatur der ersten fünfzehn Jahre unsers
Jahrhunderts anwendet, von der sich Hankas Entdeckung weder nach ihrer Form
noch nach ihrem Inhalte sehr wesentlich unterscheidet. 1806 übersetzte Jung¬
mann Chateaubriands "Atala," 1811 Miltons "Verlornes Paradies," 1803
ließ Nejedly seinen "Hlciscitel" erscheinen, 1814 gab Puchmaier eine Sammlung
"Neuer Gedichte" mit Beiträgen von Marck und andern heraus, und in allen
diesen Werken fanden sich bereits sehr viele von den Worten und Satzbildungen,
die man später und bis vor kurzem in der Königinhofer Handschrift als etwas
ungewöhnliches, vollkommen neues anstaunte. Ja die Übereinstimmung dieser
Poesien des neunzehnten Jahrhunderts mit jener ist so groß, daß sich fast das
ganze Glossar der letzteren in seinen Worten, Konstruktionen und Figuren mit
Stellen aus der ersteren belegen ließe. Wenn wir die Königinhofer Hand¬
schrift noch für ächt halten wollen, so muß dem alten Tschechen des dreizehnten
Jahrhunderts prophetische Gabe verliehen gewesen sein. Der Grundgedanke des
"Jaroslav" stammt aus "Des Knaben Wunderhorn," die Szene am Hostein in
demselben epischen Fragmente erinnert an viele Stellen in Tassos (Z-LruWlsurmg
lldsrickg., das russische Jgorlied, ein Kunstprodukt des ausgehenden achtzehnten
Jahrhunderts, muß dem Dichter des dreizehnten auch schon vorgelegen haben,
zwei Verse der Prophezeiung im "Jaroslav" sind wörtlich der alttschechischen
Übersetzung des Mlliono Marco Polos entnommen, deren älteste Handschrift
erst im fünfzehnten Jahrhundert entstand. Unter den lyrischen Stücken der
Handschrift finden "Die Rose," "Die Erdbeeren" und "Zbyhon" in einer Samm¬
lung russischer Volkslieder, die zuerst 1790, dann 1806 und 1815 in neuen
Auflagen erschien, nicht bloß Parallelen, sondern ihre Originale.

Man hat die Gedichte der Handschrift wegen ihres Naturgefühls, wegen
der Empfindsamkeit und wegen der Ideen der Humanität, der Freiheit und der


Grenzboten III. 1887. 37
Deutsch-böhmische Lriefe.

der alttschechischen Grammatik. Unter andern sind die Formen des Kompa¬
rativs meist unrichtig angewendet, für die nominale Form des Adjektivs zeigt
sich große Vorliebe, und ebenso manierirt ist die Vorliebe für Adverbialformen
auf o, endlich begegnet man auch Abweichungen von der Syntax. Zum Beispiel
bedeutet als alttfchechisch xroxtsr, neutschechisch Zseunärirn, und in Hankas Hand¬
schrift kommt es nur in letzterer Bedeutung vor, U8i1no entspricht alttschechisch
dem lateinischen on)1ö8t<z, und ctrukcl^ dem lateinischen intörclurn, in der Hand¬
schrift aber hat jenes wie im Neutschechischen die Bedeutung von tortiter, dieses
die von olim.

Man hat die Gedichte der Königinhofer Handschrift mit einem erratischen
Blocke verglichen, der in der gesamten tschechischen Literatur ohne alle Ver¬
bindung daliege, und das Gleichnis trifft zu, wenn man sie nur mit den ächten
Dichtungen des spätern tschechischen Mittelalters zusammenhält, sie unterscheiden
sich von diesen in formaler wie in stofflicher Hinsicht wie Tag von Nacht,
d. h. wie moderne Fabrikate von alten Schöpfungen. Es trifft aber nicht zu,
wenn man es auch auf die tschechische Literatur der ersten fünfzehn Jahre unsers
Jahrhunderts anwendet, von der sich Hankas Entdeckung weder nach ihrer Form
noch nach ihrem Inhalte sehr wesentlich unterscheidet. 1806 übersetzte Jung¬
mann Chateaubriands „Atala," 1811 Miltons „Verlornes Paradies," 1803
ließ Nejedly seinen „Hlciscitel" erscheinen, 1814 gab Puchmaier eine Sammlung
„Neuer Gedichte" mit Beiträgen von Marck und andern heraus, und in allen
diesen Werken fanden sich bereits sehr viele von den Worten und Satzbildungen,
die man später und bis vor kurzem in der Königinhofer Handschrift als etwas
ungewöhnliches, vollkommen neues anstaunte. Ja die Übereinstimmung dieser
Poesien des neunzehnten Jahrhunderts mit jener ist so groß, daß sich fast das
ganze Glossar der letzteren in seinen Worten, Konstruktionen und Figuren mit
Stellen aus der ersteren belegen ließe. Wenn wir die Königinhofer Hand¬
schrift noch für ächt halten wollen, so muß dem alten Tschechen des dreizehnten
Jahrhunderts prophetische Gabe verliehen gewesen sein. Der Grundgedanke des
„Jaroslav" stammt aus „Des Knaben Wunderhorn," die Szene am Hostein in
demselben epischen Fragmente erinnert an viele Stellen in Tassos (Z-LruWlsurmg
lldsrickg., das russische Jgorlied, ein Kunstprodukt des ausgehenden achtzehnten
Jahrhunderts, muß dem Dichter des dreizehnten auch schon vorgelegen haben,
zwei Verse der Prophezeiung im „Jaroslav" sind wörtlich der alttschechischen
Übersetzung des Mlliono Marco Polos entnommen, deren älteste Handschrift
erst im fünfzehnten Jahrhundert entstand. Unter den lyrischen Stücken der
Handschrift finden „Die Rose," „Die Erdbeeren" und „Zbyhon" in einer Samm¬
lung russischer Volkslieder, die zuerst 1790, dann 1806 und 1815 in neuen
Auflagen erschien, nicht bloß Parallelen, sondern ihre Originale.

Man hat die Gedichte der Handschrift wegen ihres Naturgefühls, wegen
der Empfindsamkeit und wegen der Ideen der Humanität, der Freiheit und der


Grenzboten III. 1887. 37
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0297" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/201076"/>
          <fw type="header" place="top"> Deutsch-böhmische Lriefe.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_853" prev="#ID_852"> der alttschechischen Grammatik. Unter andern sind die Formen des Kompa¬<lb/>
rativs meist unrichtig angewendet, für die nominale Form des Adjektivs zeigt<lb/>
sich große Vorliebe, und ebenso manierirt ist die Vorliebe für Adverbialformen<lb/>
auf o, endlich begegnet man auch Abweichungen von der Syntax. Zum Beispiel<lb/>
bedeutet als alttfchechisch xroxtsr, neutschechisch Zseunärirn, und in Hankas Hand¬<lb/>
schrift kommt es nur in letzterer Bedeutung vor, U8i1no entspricht alttschechisch<lb/>
dem lateinischen on)1ö8t&lt;z, und ctrukcl^ dem lateinischen intörclurn, in der Hand¬<lb/>
schrift aber hat jenes wie im Neutschechischen die Bedeutung von tortiter, dieses<lb/>
die von olim.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_854"> Man hat die Gedichte der Königinhofer Handschrift mit einem erratischen<lb/>
Blocke verglichen, der in der gesamten tschechischen Literatur ohne alle Ver¬<lb/>
bindung daliege, und das Gleichnis trifft zu, wenn man sie nur mit den ächten<lb/>
Dichtungen des spätern tschechischen Mittelalters zusammenhält, sie unterscheiden<lb/>
sich von diesen in formaler wie in stofflicher Hinsicht wie Tag von Nacht,<lb/>
d. h. wie moderne Fabrikate von alten Schöpfungen. Es trifft aber nicht zu,<lb/>
wenn man es auch auf die tschechische Literatur der ersten fünfzehn Jahre unsers<lb/>
Jahrhunderts anwendet, von der sich Hankas Entdeckung weder nach ihrer Form<lb/>
noch nach ihrem Inhalte sehr wesentlich unterscheidet. 1806 übersetzte Jung¬<lb/>
mann Chateaubriands &#x201E;Atala," 1811 Miltons &#x201E;Verlornes Paradies," 1803<lb/>
ließ Nejedly seinen &#x201E;Hlciscitel" erscheinen, 1814 gab Puchmaier eine Sammlung<lb/>
&#x201E;Neuer Gedichte" mit Beiträgen von Marck und andern heraus, und in allen<lb/>
diesen Werken fanden sich bereits sehr viele von den Worten und Satzbildungen,<lb/>
die man später und bis vor kurzem in der Königinhofer Handschrift als etwas<lb/>
ungewöhnliches, vollkommen neues anstaunte. Ja die Übereinstimmung dieser<lb/>
Poesien des neunzehnten Jahrhunderts mit jener ist so groß, daß sich fast das<lb/>
ganze Glossar der letzteren in seinen Worten, Konstruktionen und Figuren mit<lb/>
Stellen aus der ersteren belegen ließe. Wenn wir die Königinhofer Hand¬<lb/>
schrift noch für ächt halten wollen, so muß dem alten Tschechen des dreizehnten<lb/>
Jahrhunderts prophetische Gabe verliehen gewesen sein. Der Grundgedanke des<lb/>
&#x201E;Jaroslav" stammt aus &#x201E;Des Knaben Wunderhorn," die Szene am Hostein in<lb/>
demselben epischen Fragmente erinnert an viele Stellen in Tassos (Z-LruWlsurmg<lb/>
lldsrickg., das russische Jgorlied, ein Kunstprodukt des ausgehenden achtzehnten<lb/>
Jahrhunderts, muß dem Dichter des dreizehnten auch schon vorgelegen haben,<lb/>
zwei Verse der Prophezeiung im &#x201E;Jaroslav" sind wörtlich der alttschechischen<lb/>
Übersetzung des Mlliono Marco Polos entnommen, deren älteste Handschrift<lb/>
erst im fünfzehnten Jahrhundert entstand. Unter den lyrischen Stücken der<lb/>
Handschrift finden &#x201E;Die Rose," &#x201E;Die Erdbeeren" und &#x201E;Zbyhon" in einer Samm¬<lb/>
lung russischer Volkslieder, die zuerst 1790, dann 1806 und 1815 in neuen<lb/>
Auflagen erschien, nicht bloß Parallelen, sondern ihre Originale.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_855" next="#ID_856"> Man hat die Gedichte der Handschrift wegen ihres Naturgefühls, wegen<lb/>
der Empfindsamkeit und wegen der Ideen der Humanität, der Freiheit und der</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III. 1887. 37</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0297] Deutsch-böhmische Lriefe. der alttschechischen Grammatik. Unter andern sind die Formen des Kompa¬ rativs meist unrichtig angewendet, für die nominale Form des Adjektivs zeigt sich große Vorliebe, und ebenso manierirt ist die Vorliebe für Adverbialformen auf o, endlich begegnet man auch Abweichungen von der Syntax. Zum Beispiel bedeutet als alttfchechisch xroxtsr, neutschechisch Zseunärirn, und in Hankas Hand¬ schrift kommt es nur in letzterer Bedeutung vor, U8i1no entspricht alttschechisch dem lateinischen on)1ö8t<z, und ctrukcl^ dem lateinischen intörclurn, in der Hand¬ schrift aber hat jenes wie im Neutschechischen die Bedeutung von tortiter, dieses die von olim. Man hat die Gedichte der Königinhofer Handschrift mit einem erratischen Blocke verglichen, der in der gesamten tschechischen Literatur ohne alle Ver¬ bindung daliege, und das Gleichnis trifft zu, wenn man sie nur mit den ächten Dichtungen des spätern tschechischen Mittelalters zusammenhält, sie unterscheiden sich von diesen in formaler wie in stofflicher Hinsicht wie Tag von Nacht, d. h. wie moderne Fabrikate von alten Schöpfungen. Es trifft aber nicht zu, wenn man es auch auf die tschechische Literatur der ersten fünfzehn Jahre unsers Jahrhunderts anwendet, von der sich Hankas Entdeckung weder nach ihrer Form noch nach ihrem Inhalte sehr wesentlich unterscheidet. 1806 übersetzte Jung¬ mann Chateaubriands „Atala," 1811 Miltons „Verlornes Paradies," 1803 ließ Nejedly seinen „Hlciscitel" erscheinen, 1814 gab Puchmaier eine Sammlung „Neuer Gedichte" mit Beiträgen von Marck und andern heraus, und in allen diesen Werken fanden sich bereits sehr viele von den Worten und Satzbildungen, die man später und bis vor kurzem in der Königinhofer Handschrift als etwas ungewöhnliches, vollkommen neues anstaunte. Ja die Übereinstimmung dieser Poesien des neunzehnten Jahrhunderts mit jener ist so groß, daß sich fast das ganze Glossar der letzteren in seinen Worten, Konstruktionen und Figuren mit Stellen aus der ersteren belegen ließe. Wenn wir die Königinhofer Hand¬ schrift noch für ächt halten wollen, so muß dem alten Tschechen des dreizehnten Jahrhunderts prophetische Gabe verliehen gewesen sein. Der Grundgedanke des „Jaroslav" stammt aus „Des Knaben Wunderhorn," die Szene am Hostein in demselben epischen Fragmente erinnert an viele Stellen in Tassos (Z-LruWlsurmg lldsrickg., das russische Jgorlied, ein Kunstprodukt des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts, muß dem Dichter des dreizehnten auch schon vorgelegen haben, zwei Verse der Prophezeiung im „Jaroslav" sind wörtlich der alttschechischen Übersetzung des Mlliono Marco Polos entnommen, deren älteste Handschrift erst im fünfzehnten Jahrhundert entstand. Unter den lyrischen Stücken der Handschrift finden „Die Rose," „Die Erdbeeren" und „Zbyhon" in einer Samm¬ lung russischer Volkslieder, die zuerst 1790, dann 1806 und 1815 in neuen Auflagen erschien, nicht bloß Parallelen, sondern ihre Originale. Man hat die Gedichte der Handschrift wegen ihres Naturgefühls, wegen der Empfindsamkeit und wegen der Ideen der Humanität, der Freiheit und der Grenzboten III. 1887. 37

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/297
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/297>, abgerufen am 23.07.2024.