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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Unter fahrenden Leute".

nachtszeit seinen Sitz auf. Ich erhielt bald davon Kenntnis und beschloß nun,
mich mit dem alten Freunde aus meiner Kindheit persönlich näher bekannt
zu machen. Schnell führte ich meinen Entschluß aus und besuchte nun seine
Vorstellungen dort, und später an andern Orten, häufiger. So wurde ich bald
nicht nur mit den Geheimnissen seiner kleinen Bühne, sondern auch mit denen
seines Lebens vertraut. Die Zeit brachte immer mehr und mehr; ich lernte
seinen jüngeren Bruder, ebenfalls einen Puppenspieler, kennen, und so durch
diese beiden wieder andere, und ehe ich mirs versah, gewann ich einen Einblick
in jenes von mir bis dahin noch nicht gekannte, vielgestaltige Treiben der
"fahrenden Leute," das aus Holteis "Vagabunden" dem Leser in der Erinnerung
sein wird. Moderne Boudoirs waren freilich nicht die Orte, wo mich meine
Studien hinführten, sondern kleine Herbergen, Winkelkneipen der Vorstadt, Gast¬
häuser in Dörfern oder kleineren Städten und auch jener von Jahrmärkten und
Messen her bekannte stubcnähnliche Wagen, der mit einem oder zwei Pferden
bespannt die Familie der Komödianten von Ort zu Ort führt.

Es hat einen eigentümlichen Reiz, dem Gegenstande feines Interesses auf so
vielen Kreuz- und Querwegen nachzuspüren, und ich kann sagen, ich habe mich selten
getäuscht gefunden, wenn ich von einer neuen kleinen Entdeckungsreise zurück¬
kehrte. Immer brachte ich einen Gewinn mit nach Hause, sei es, daß ich eine
interessante Persönlichkeit kennen gelernt hatte, sei es,.daß ich mit besondern,
der Öffentlichkeit sich sonst entziehenden Verhältnissen vertrauter geworden war.
Es wird dem Leser eine ungefähre Ahnung geben von der Popularität, deren
sich diese Puppenbühnen auch jetzt noch immer erfreuen, wenn er hört, daß
gegenwärtig allein in Sachsen immer noch etwas über vierzig derartige Prin¬
zipale umherwandern.*) Der Großstädter ist darüber vielleicht erstaunt; kommt
ihm derartiges doch fast gar nicht zu Gesicht. Aber der Bürger der kleinen
Stadt und der Dörfler wird darin nichts Sonderbares finden, denn er kennt
ihn genau, den kleinen Bretterbau in dem bekannten Gasthause, welcher ihm
das große Theater mit den lebenden Schauspielern manchmal vollständig ersetzen
muß. Vorzüglich dem kleinen Dorfe im Gebirge, was bleibt dem anders, als
solche Puppenbühnen? Da versucht es nur höchst selten eine Schauspieler-
truppe, und wenn sie es versucht, so treibt sie die Geldnot bald wieder fort.
Aber die kleinere, weniger Ausgaben erfordernde Puppenbühne, diese kann sich
hier halten, und wenn es nicht immer baares Geld ist, so sind es doch Lebens¬
mittel für Mensch und Vieh, was man auch als "Entree" mit annimmt. Wenn
er übrigens weniger auf reichlichen Gewinn, als auf ein teilnahmvolles Publikum
sieht, so kann er manchmal ganz zufrieden sein, der Direktor dieser hölzernen
Wesen. Seine Vorstellungen sind gern gesehen, man besucht ihn stark, ja es



Der gütigen Auskunft des "Kometen," eines Fachblattes für reisende Schauspieler,
zufolge sollen es sogar SO bis 60 sein, die kleinen Polichinelltheater allerdings mit eingerechnet.
Unter fahrenden Leute».

nachtszeit seinen Sitz auf. Ich erhielt bald davon Kenntnis und beschloß nun,
mich mit dem alten Freunde aus meiner Kindheit persönlich näher bekannt
zu machen. Schnell führte ich meinen Entschluß aus und besuchte nun seine
Vorstellungen dort, und später an andern Orten, häufiger. So wurde ich bald
nicht nur mit den Geheimnissen seiner kleinen Bühne, sondern auch mit denen
seines Lebens vertraut. Die Zeit brachte immer mehr und mehr; ich lernte
seinen jüngeren Bruder, ebenfalls einen Puppenspieler, kennen, und so durch
diese beiden wieder andere, und ehe ich mirs versah, gewann ich einen Einblick
in jenes von mir bis dahin noch nicht gekannte, vielgestaltige Treiben der
„fahrenden Leute," das aus Holteis „Vagabunden" dem Leser in der Erinnerung
sein wird. Moderne Boudoirs waren freilich nicht die Orte, wo mich meine
Studien hinführten, sondern kleine Herbergen, Winkelkneipen der Vorstadt, Gast¬
häuser in Dörfern oder kleineren Städten und auch jener von Jahrmärkten und
Messen her bekannte stubcnähnliche Wagen, der mit einem oder zwei Pferden
bespannt die Familie der Komödianten von Ort zu Ort führt.

Es hat einen eigentümlichen Reiz, dem Gegenstande feines Interesses auf so
vielen Kreuz- und Querwegen nachzuspüren, und ich kann sagen, ich habe mich selten
getäuscht gefunden, wenn ich von einer neuen kleinen Entdeckungsreise zurück¬
kehrte. Immer brachte ich einen Gewinn mit nach Hause, sei es, daß ich eine
interessante Persönlichkeit kennen gelernt hatte, sei es,.daß ich mit besondern,
der Öffentlichkeit sich sonst entziehenden Verhältnissen vertrauter geworden war.
Es wird dem Leser eine ungefähre Ahnung geben von der Popularität, deren
sich diese Puppenbühnen auch jetzt noch immer erfreuen, wenn er hört, daß
gegenwärtig allein in Sachsen immer noch etwas über vierzig derartige Prin¬
zipale umherwandern.*) Der Großstädter ist darüber vielleicht erstaunt; kommt
ihm derartiges doch fast gar nicht zu Gesicht. Aber der Bürger der kleinen
Stadt und der Dörfler wird darin nichts Sonderbares finden, denn er kennt
ihn genau, den kleinen Bretterbau in dem bekannten Gasthause, welcher ihm
das große Theater mit den lebenden Schauspielern manchmal vollständig ersetzen
muß. Vorzüglich dem kleinen Dorfe im Gebirge, was bleibt dem anders, als
solche Puppenbühnen? Da versucht es nur höchst selten eine Schauspieler-
truppe, und wenn sie es versucht, so treibt sie die Geldnot bald wieder fort.
Aber die kleinere, weniger Ausgaben erfordernde Puppenbühne, diese kann sich
hier halten, und wenn es nicht immer baares Geld ist, so sind es doch Lebens¬
mittel für Mensch und Vieh, was man auch als „Entree" mit annimmt. Wenn
er übrigens weniger auf reichlichen Gewinn, als auf ein teilnahmvolles Publikum
sieht, so kann er manchmal ganz zufrieden sein, der Direktor dieser hölzernen
Wesen. Seine Vorstellungen sind gern gesehen, man besucht ihn stark, ja es



Der gütigen Auskunft des „Kometen," eines Fachblattes für reisende Schauspieler,
zufolge sollen es sogar SO bis 60 sein, die kleinen Polichinelltheater allerdings mit eingerechnet.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/152>, abgerufen am 03.07.2024.