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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Therese Raquin.

Wie das seine Landsleute so oft versuchen. Es steht zudem kein Wort in
"Therese Raquin," das an sich durch seine Rohheit verletzte; auch sind keine Ein¬
zelheiten geboten, die an sich schon schlüpfrig und gemein wären; insofern kann
man schlechterdings nicht davon reden, daß der Verfasser im Schmutz wühle,
wie in seinen Romanen. Aber während er die Schuld jedes Reizes entkleidet,
entsteht die Frage, ob es die Aufgabe der Kunst sein könne, abzustoßen, ob die
Schaubühne aufhören dürfe, ein Ort der Unterhaltung zu sein, um eine Stätte er¬
barmungsloser Belehrung zu werden. Schiller hat sich gegen die Schaubühne
als "moralische" Anstalt erklärt; ein Stück solle vor allen Dingen gefallen, dann
habe es sehr viel mehr Aussicht, die Menschen zu heben; aber in einer Zeit,
wo so viel versucht wird, wo man den plastischen Kunstwerken Farbe giebt, wo
auch Danneckers Ariadne vielleicht einmal bemalt werden wird -- da darf
vielleicht auch ein Dramatiker einen Versuch wagen und darf verlangen, daß
man sich damit beschäftige.

Der erste Eindruck, den man empfängt, wenn der Vorhang vor "Therese
Raquin" aufgegangen, ist unheimlich. In einem spießbürgerlich ausgestatteten,
engen, düstern Gemach sitzt ein bleich aussehender, fröstelnder junger Mann
einem Maler Modell, schwatzt unaufhörlich in erregter, hypochondrischer Art,
und ein junges Weib sitzt daneben, mit starr ins Leere gerichteten Augen, und
sagt ab und zu auf eine Frage, die dringlich an sie gerichtet wird, ein trost¬
loses, blechernes "ja," ohne sich zu rühren. Die Langeweile, die beklemmendste
Langeweile brütet über diesem Bilde; doch unsre stille Frage, was in dieser
jungen Frau wohl vorgehen, welchen Gedanken sie wohl nachhängen, welch ein
Meer von bösen Leidenschaften in ihrem Innern vielleicht branden möge, wird
bald beantwortet. Der Ehemann, der Abgebildete, ist ausgegangen, der Maler
kommt heimlich zurück, und im Dunkeln spielt eine Liebesszene zwischen dem
Paar, mit Geständnissen und Küssen, mit so unverhohlener Seufzern und
Klagen, daß uns der Atem der Sünde bedrückend heiß daraus entgegenweht.
Der Plan, sich frei zu machen, wird gefaßt. Dann kehrt der Ehemann mit
einer Flasche Sekt zurück, ein paar köstlich gezeichnete Spießbürger, Haus¬
freunde der Familie, kommen dazu, machen sich durch ihre Trivialitäten und
kleinen Eitelkeiten lächerlich, und der Vorhang fällt über einer Dominopartie.

Wie er im zweiten Akte wieder aufgeht, sitzt die Partie wieder beisammen;
die Trauerkleider der beiden Frauen, der Mutter und der Gattin, und eine un¬
heimliche Lücke belehren uns, daß der hüstelnde Ehemann beseitigt ist. Auf
einer Kahnpartie mit dem erwähnten Paare ist er ertrunken; der Maler, der
sich so viel Mühe gegeben hat, ihn herauszufischen, hätte beinahe die Rettungs¬
medaille bekommen; die Mutter kann sich nicht trösten; sie hat den armen
Jungen sehr geliebt. Ein kleiner Backfisch ist auch dabei; die Figur an sich
ist von harmloser Anmut und könnte unter Umständen recht wohl einen Licht¬
blick in dem düstern Ganzen bilden. Der Akt schließt damit, daß der Maler


Grenzboten III. 1387. ^
Therese Raquin.

Wie das seine Landsleute so oft versuchen. Es steht zudem kein Wort in
„Therese Raquin," das an sich durch seine Rohheit verletzte; auch sind keine Ein¬
zelheiten geboten, die an sich schon schlüpfrig und gemein wären; insofern kann
man schlechterdings nicht davon reden, daß der Verfasser im Schmutz wühle,
wie in seinen Romanen. Aber während er die Schuld jedes Reizes entkleidet,
entsteht die Frage, ob es die Aufgabe der Kunst sein könne, abzustoßen, ob die
Schaubühne aufhören dürfe, ein Ort der Unterhaltung zu sein, um eine Stätte er¬
barmungsloser Belehrung zu werden. Schiller hat sich gegen die Schaubühne
als „moralische" Anstalt erklärt; ein Stück solle vor allen Dingen gefallen, dann
habe es sehr viel mehr Aussicht, die Menschen zu heben; aber in einer Zeit,
wo so viel versucht wird, wo man den plastischen Kunstwerken Farbe giebt, wo
auch Danneckers Ariadne vielleicht einmal bemalt werden wird — da darf
vielleicht auch ein Dramatiker einen Versuch wagen und darf verlangen, daß
man sich damit beschäftige.

Der erste Eindruck, den man empfängt, wenn der Vorhang vor „Therese
Raquin" aufgegangen, ist unheimlich. In einem spießbürgerlich ausgestatteten,
engen, düstern Gemach sitzt ein bleich aussehender, fröstelnder junger Mann
einem Maler Modell, schwatzt unaufhörlich in erregter, hypochondrischer Art,
und ein junges Weib sitzt daneben, mit starr ins Leere gerichteten Augen, und
sagt ab und zu auf eine Frage, die dringlich an sie gerichtet wird, ein trost¬
loses, blechernes „ja," ohne sich zu rühren. Die Langeweile, die beklemmendste
Langeweile brütet über diesem Bilde; doch unsre stille Frage, was in dieser
jungen Frau wohl vorgehen, welchen Gedanken sie wohl nachhängen, welch ein
Meer von bösen Leidenschaften in ihrem Innern vielleicht branden möge, wird
bald beantwortet. Der Ehemann, der Abgebildete, ist ausgegangen, der Maler
kommt heimlich zurück, und im Dunkeln spielt eine Liebesszene zwischen dem
Paar, mit Geständnissen und Küssen, mit so unverhohlener Seufzern und
Klagen, daß uns der Atem der Sünde bedrückend heiß daraus entgegenweht.
Der Plan, sich frei zu machen, wird gefaßt. Dann kehrt der Ehemann mit
einer Flasche Sekt zurück, ein paar köstlich gezeichnete Spießbürger, Haus¬
freunde der Familie, kommen dazu, machen sich durch ihre Trivialitäten und
kleinen Eitelkeiten lächerlich, und der Vorhang fällt über einer Dominopartie.

Wie er im zweiten Akte wieder aufgeht, sitzt die Partie wieder beisammen;
die Trauerkleider der beiden Frauen, der Mutter und der Gattin, und eine un¬
heimliche Lücke belehren uns, daß der hüstelnde Ehemann beseitigt ist. Auf
einer Kahnpartie mit dem erwähnten Paare ist er ertrunken; der Maler, der
sich so viel Mühe gegeben hat, ihn herauszufischen, hätte beinahe die Rettungs¬
medaille bekommen; die Mutter kann sich nicht trösten; sie hat den armen
Jungen sehr geliebt. Ein kleiner Backfisch ist auch dabei; die Figur an sich
ist von harmloser Anmut und könnte unter Umständen recht wohl einen Licht¬
blick in dem düstern Ganzen bilden. Der Akt schließt damit, daß der Maler


Grenzboten III. 1387. ^
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/145>, abgerufen am 03.07.2024.