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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Die Kehrseiten unsrer wirtschaftlichen Zustände.

sie auf Heilmittel sinnen müssen, die das Übel heben oder doch erleichtern
sollen.

Wenn aber unser ruhiger Beobachter seinen Blick abwendet von den Büchern,
Zeitungen und Broschüren, und wenn er sein Ohr verschließt vor den Ver¬
handlungen der Parlamente und sonstigen mündlichen Erörterungen, wenn er
statt dessen hinaustritt ins praktische Leben, wenn er mit offnen Augen um
sich schaut, wenn er die Gegenwart mit der Vergangenheit vergleicht, so regen
sich ernste Zweifel in seinem Gemüte, ob es denn wirklich so schlecht stehe um
die Gesellschaft. Er fragt sich, ob nicht der Fortschritt augenscheinlich, ja un¬
aufhaltsam sei, ob nicht der Ruin nnr scheinbar oder doch vereinzelt sei, und
ob uicht aus seinem Schütte bereits die Keime neuen, frischen Lebens aufge¬
sprossen sind.

Wer vermöchte in der That zu leugnen, daß auf alleu Gebieten die
gewaltigsten Fortschritte gemacht worden sind! Behagen und Genuß haben
sich über viel größere Kreise verbreitet, die Volksernährung hat sich verbessert,
die mittlere Lebensdauer hat um einige Jahre zugenommen. Gar manche Ge¬
nüsse und Vergnügungen sind jetzt Kreisen zugänglich, die sonst davon ausge¬
schlossen waren. Für den öffentlichen Gesundheitszustand ist besser gesorgt,
man weiß die Menschen vor Cholera, Blattern und Hundswut zu schützen, mau
beschränkt die Seuchen unter dem Viehstände, man eilt den Schiffbrüchigen mit
staunenswertem Erfolge zu Hilfe, und so vieles andre. Tausende von Per¬
sonen und Vereinen sind in allen denkbaren Gebieten bestrebt, Not und Elend
zu lindern, die Menschenfreundlichkeit ist eine allgemeine Tugend und ihre Be¬
thätigung fast ein Sport geworden.

Es wäre wahrlich der würdige Gegenstand eines größern Werkes, diese
hier nur angedeuteten Vergleiche zwischen den Zuständen der Gegenwart und
einer Vergangenheit ausführlich zu schildern, die noch in dem Gedächtnis jetzt
lebender Personen ist. Es würde ein Bild entstehen, freilich nicht ohne manchen
tiefen Schatten, aber im wesentlichen doch glänzend und einer hoffnungsvollen
Zukunft eutgcgenleuchteud.

Oder wäre dies alles nur trügerischer Schein, bloßes Blendwerk?

Es giebt wohl kein besseres Zeichen für das Wohlergehen eines Menschen,
als wenn ihm nach Befriedigung seiner Bedürfnisse von seinem Einkommen
etwas übrig bleibt, was er als eine Ersparnis zurücklegen kann. Ebenso gewiß
ist es, daß jeder, dessen wirtschaftliche Lage sich verschlimmert, zur Deckung des
Ausfalls zuerst nach seinen Ersparnissen greift. Es wird daher kein Fehlschluß
sein, wenn wir sagen, daß der Stand und die Bewegung der Ersparnis eines
Volkes ein sehr sicherer Maßstab für das Fortschreiten oder den Rückgang seines
Wohlstandes bilde.

Ich will mich nun nicht in das Meer von Zahlen verlieren, welche die
ganz besonders zuverlässige Statistik für die Sparkasse" aller Kulturländer


Die Kehrseiten unsrer wirtschaftlichen Zustände.

sie auf Heilmittel sinnen müssen, die das Übel heben oder doch erleichtern
sollen.

Wenn aber unser ruhiger Beobachter seinen Blick abwendet von den Büchern,
Zeitungen und Broschüren, und wenn er sein Ohr verschließt vor den Ver¬
handlungen der Parlamente und sonstigen mündlichen Erörterungen, wenn er
statt dessen hinaustritt ins praktische Leben, wenn er mit offnen Augen um
sich schaut, wenn er die Gegenwart mit der Vergangenheit vergleicht, so regen
sich ernste Zweifel in seinem Gemüte, ob es denn wirklich so schlecht stehe um
die Gesellschaft. Er fragt sich, ob nicht der Fortschritt augenscheinlich, ja un¬
aufhaltsam sei, ob nicht der Ruin nnr scheinbar oder doch vereinzelt sei, und
ob uicht aus seinem Schütte bereits die Keime neuen, frischen Lebens aufge¬
sprossen sind.

Wer vermöchte in der That zu leugnen, daß auf alleu Gebieten die
gewaltigsten Fortschritte gemacht worden sind! Behagen und Genuß haben
sich über viel größere Kreise verbreitet, die Volksernährung hat sich verbessert,
die mittlere Lebensdauer hat um einige Jahre zugenommen. Gar manche Ge¬
nüsse und Vergnügungen sind jetzt Kreisen zugänglich, die sonst davon ausge¬
schlossen waren. Für den öffentlichen Gesundheitszustand ist besser gesorgt,
man weiß die Menschen vor Cholera, Blattern und Hundswut zu schützen, mau
beschränkt die Seuchen unter dem Viehstände, man eilt den Schiffbrüchigen mit
staunenswertem Erfolge zu Hilfe, und so vieles andre. Tausende von Per¬
sonen und Vereinen sind in allen denkbaren Gebieten bestrebt, Not und Elend
zu lindern, die Menschenfreundlichkeit ist eine allgemeine Tugend und ihre Be¬
thätigung fast ein Sport geworden.

Es wäre wahrlich der würdige Gegenstand eines größern Werkes, diese
hier nur angedeuteten Vergleiche zwischen den Zuständen der Gegenwart und
einer Vergangenheit ausführlich zu schildern, die noch in dem Gedächtnis jetzt
lebender Personen ist. Es würde ein Bild entstehen, freilich nicht ohne manchen
tiefen Schatten, aber im wesentlichen doch glänzend und einer hoffnungsvollen
Zukunft eutgcgenleuchteud.

Oder wäre dies alles nur trügerischer Schein, bloßes Blendwerk?

Es giebt wohl kein besseres Zeichen für das Wohlergehen eines Menschen,
als wenn ihm nach Befriedigung seiner Bedürfnisse von seinem Einkommen
etwas übrig bleibt, was er als eine Ersparnis zurücklegen kann. Ebenso gewiß
ist es, daß jeder, dessen wirtschaftliche Lage sich verschlimmert, zur Deckung des
Ausfalls zuerst nach seinen Ersparnissen greift. Es wird daher kein Fehlschluß
sein, wenn wir sagen, daß der Stand und die Bewegung der Ersparnis eines
Volkes ein sehr sicherer Maßstab für das Fortschreiten oder den Rückgang seines
Wohlstandes bilde.

Ich will mich nun nicht in das Meer von Zahlen verlieren, welche die
ganz besonders zuverlässige Statistik für die Sparkasse» aller Kulturländer


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[0014] Die Kehrseiten unsrer wirtschaftlichen Zustände. sie auf Heilmittel sinnen müssen, die das Übel heben oder doch erleichtern sollen. Wenn aber unser ruhiger Beobachter seinen Blick abwendet von den Büchern, Zeitungen und Broschüren, und wenn er sein Ohr verschließt vor den Ver¬ handlungen der Parlamente und sonstigen mündlichen Erörterungen, wenn er statt dessen hinaustritt ins praktische Leben, wenn er mit offnen Augen um sich schaut, wenn er die Gegenwart mit der Vergangenheit vergleicht, so regen sich ernste Zweifel in seinem Gemüte, ob es denn wirklich so schlecht stehe um die Gesellschaft. Er fragt sich, ob nicht der Fortschritt augenscheinlich, ja un¬ aufhaltsam sei, ob nicht der Ruin nnr scheinbar oder doch vereinzelt sei, und ob uicht aus seinem Schütte bereits die Keime neuen, frischen Lebens aufge¬ sprossen sind. Wer vermöchte in der That zu leugnen, daß auf alleu Gebieten die gewaltigsten Fortschritte gemacht worden sind! Behagen und Genuß haben sich über viel größere Kreise verbreitet, die Volksernährung hat sich verbessert, die mittlere Lebensdauer hat um einige Jahre zugenommen. Gar manche Ge¬ nüsse und Vergnügungen sind jetzt Kreisen zugänglich, die sonst davon ausge¬ schlossen waren. Für den öffentlichen Gesundheitszustand ist besser gesorgt, man weiß die Menschen vor Cholera, Blattern und Hundswut zu schützen, mau beschränkt die Seuchen unter dem Viehstände, man eilt den Schiffbrüchigen mit staunenswertem Erfolge zu Hilfe, und so vieles andre. Tausende von Per¬ sonen und Vereinen sind in allen denkbaren Gebieten bestrebt, Not und Elend zu lindern, die Menschenfreundlichkeit ist eine allgemeine Tugend und ihre Be¬ thätigung fast ein Sport geworden. Es wäre wahrlich der würdige Gegenstand eines größern Werkes, diese hier nur angedeuteten Vergleiche zwischen den Zuständen der Gegenwart und einer Vergangenheit ausführlich zu schildern, die noch in dem Gedächtnis jetzt lebender Personen ist. Es würde ein Bild entstehen, freilich nicht ohne manchen tiefen Schatten, aber im wesentlichen doch glänzend und einer hoffnungsvollen Zukunft eutgcgenleuchteud. Oder wäre dies alles nur trügerischer Schein, bloßes Blendwerk? Es giebt wohl kein besseres Zeichen für das Wohlergehen eines Menschen, als wenn ihm nach Befriedigung seiner Bedürfnisse von seinem Einkommen etwas übrig bleibt, was er als eine Ersparnis zurücklegen kann. Ebenso gewiß ist es, daß jeder, dessen wirtschaftliche Lage sich verschlimmert, zur Deckung des Ausfalls zuerst nach seinen Ersparnissen greift. Es wird daher kein Fehlschluß sein, wenn wir sagen, daß der Stand und die Bewegung der Ersparnis eines Volkes ein sehr sicherer Maßstab für das Fortschreiten oder den Rückgang seines Wohlstandes bilde. Ich will mich nun nicht in das Meer von Zahlen verlieren, welche die ganz besonders zuverlässige Statistik für die Sparkasse» aller Kulturländer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/14>, abgerufen am 23.07.2024.