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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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wichtigen Gesetzesstcllcn anzuführen. Endlich hat man hier doch einmal ein
wirkliches und klares Bild über die bürgerliche Rechtspflege Englands, und daß
wir es in diefer schlichten Form, in dieser gedrängten Übersicht und praktischen
Art haben, ist in der That ein großes Verdienst, durch welches der Verfasser
sich den Dank vieler erworben hat. Außer der römisch-juristischen Technik sind
die technischen Ausdrücke in keiner andern Gesetzessprache in solchem Umfange
vorhanden wie in der englischen; sie sind aber auch nirgends so in Fleisch und
Blut des Volkes übergegangen wie in England. Der Mangel ihrer Kenntnis
erschwert dem Gebildeten das Lesen der Zeitungen und einer zahlreichen Literatur,
er macht es dem Rechtsgelehrten schwierig, in den Geist eines juristischen Falles
einzudringen und englische Gesetze genau zu studiren. Der Versasser hat diesen
Gesichtspunkt besonders berücksichtigt und nicht nur im Laufe der Darstellung
jedesmal die technischen Bezeichnungen hervorgehoben, sondern auch noch ein
besondres Register derselben dem Schluß seines Buches angefügt.

Kann sich somit aus dem Buche Schusters jeder, der an der englischen
Rechtspflege Interesse hat, der gebildete Laie, der Theoretiker wie der Prak¬
tiker, insbesondre auch der Rechtsnnwalt und der Kaufmann, gut unterrichten,
so bietet das Werk auch vom Standpunkte des Gesetzgebers Anlaß zu wichtigen
Erwägungen. Gerade die Unbekanntschaft mit dem englischen Recht giebt vielfach
Publizisten bei Bekämpfung deutscher Einrichtungen Anlaß, auf angeblich eng¬
lische Muster zu verweisen, und für gewisse doktrinäre Philister genügt schon
eine solche Behauptung, um das englische Recht als eine Verwirklichung der
freiheitlichen Richtung gegenüber den reaktionären Bestrebungen der vater¬
ländischen Regierung zu betrachten. Für den englischen Zivilprozeß ist durch
das vorliegende Buch fortan der Schleier zerrissen. Jedermann wird sich jetzt
selbst ein Urteil bilden können. Für die Kritik des mündlichen Verfahrens in
Deutschland ist es von besondrer Wichtigkeit, zu erfahren, daß der -- angeblich
in England erfundene -- Grundsatz der Mündlichkeit in den Zivilprozessen auf
ein sehr bescheidnes Maß herabgesetzt und durchaus nicht in dem Umfange wie
in der deutschen Zivilprozeßordnung durchgeführt ist. Die Kritik, welche der
Neichsgcrichtsrat Bähr in Kassel an die Bestimmungen der letztern angelegt hat,
findet eine neue Rechtfertigung in dem englischen Verfahren. Dieses schließt
sich viel enger an den aufgehobenen, von Bähr mit recht verteidigten preußischen
Prozeß an. In England beruht das bürgerliche Prozeßverfahren auf den
Klageschriften; nur das, was in ihnen vorgetragen ist, bildet im großen und
ganzen den Gegenstand der mündlichen Verhandlung und verschafft den Parteien
diejenige Rechtssicherheit, daß ihre Behauptungen vom Gericht auch gewürdigt
werden, wie sie die deutsche Zivilprozeßordnung zum großen Schaden der Par¬
teien entbehrt. Eigentümlich ist es, daß das Nichterpersvnal, d. h. diejenigen
Personen, welche den eigentlichen Rechtsstreit durch ihr Urteil entscheiden, sich
auf die wenigen Mitglieder der obersten Gerichtshöfe in London beschränkt


wichtigen Gesetzesstcllcn anzuführen. Endlich hat man hier doch einmal ein
wirkliches und klares Bild über die bürgerliche Rechtspflege Englands, und daß
wir es in diefer schlichten Form, in dieser gedrängten Übersicht und praktischen
Art haben, ist in der That ein großes Verdienst, durch welches der Verfasser
sich den Dank vieler erworben hat. Außer der römisch-juristischen Technik sind
die technischen Ausdrücke in keiner andern Gesetzessprache in solchem Umfange
vorhanden wie in der englischen; sie sind aber auch nirgends so in Fleisch und
Blut des Volkes übergegangen wie in England. Der Mangel ihrer Kenntnis
erschwert dem Gebildeten das Lesen der Zeitungen und einer zahlreichen Literatur,
er macht es dem Rechtsgelehrten schwierig, in den Geist eines juristischen Falles
einzudringen und englische Gesetze genau zu studiren. Der Versasser hat diesen
Gesichtspunkt besonders berücksichtigt und nicht nur im Laufe der Darstellung
jedesmal die technischen Bezeichnungen hervorgehoben, sondern auch noch ein
besondres Register derselben dem Schluß seines Buches angefügt.

Kann sich somit aus dem Buche Schusters jeder, der an der englischen
Rechtspflege Interesse hat, der gebildete Laie, der Theoretiker wie der Prak¬
tiker, insbesondre auch der Rechtsnnwalt und der Kaufmann, gut unterrichten,
so bietet das Werk auch vom Standpunkte des Gesetzgebers Anlaß zu wichtigen
Erwägungen. Gerade die Unbekanntschaft mit dem englischen Recht giebt vielfach
Publizisten bei Bekämpfung deutscher Einrichtungen Anlaß, auf angeblich eng¬
lische Muster zu verweisen, und für gewisse doktrinäre Philister genügt schon
eine solche Behauptung, um das englische Recht als eine Verwirklichung der
freiheitlichen Richtung gegenüber den reaktionären Bestrebungen der vater¬
ländischen Regierung zu betrachten. Für den englischen Zivilprozeß ist durch
das vorliegende Buch fortan der Schleier zerrissen. Jedermann wird sich jetzt
selbst ein Urteil bilden können. Für die Kritik des mündlichen Verfahrens in
Deutschland ist es von besondrer Wichtigkeit, zu erfahren, daß der — angeblich
in England erfundene — Grundsatz der Mündlichkeit in den Zivilprozessen auf
ein sehr bescheidnes Maß herabgesetzt und durchaus nicht in dem Umfange wie
in der deutschen Zivilprozeßordnung durchgeführt ist. Die Kritik, welche der
Neichsgcrichtsrat Bähr in Kassel an die Bestimmungen der letztern angelegt hat,
findet eine neue Rechtfertigung in dem englischen Verfahren. Dieses schließt
sich viel enger an den aufgehobenen, von Bähr mit recht verteidigten preußischen
Prozeß an. In England beruht das bürgerliche Prozeßverfahren auf den
Klageschriften; nur das, was in ihnen vorgetragen ist, bildet im großen und
ganzen den Gegenstand der mündlichen Verhandlung und verschafft den Parteien
diejenige Rechtssicherheit, daß ihre Behauptungen vom Gericht auch gewürdigt
werden, wie sie die deutsche Zivilprozeßordnung zum großen Schaden der Par¬
teien entbehrt. Eigentümlich ist es, daß das Nichterpersvnal, d. h. diejenigen
Personen, welche den eigentlichen Rechtsstreit durch ihr Urteil entscheiden, sich
auf die wenigen Mitglieder der obersten Gerichtshöfe in London beschränkt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/11>, abgerufen am 05.07.2024.