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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Line christliche Ästhetik,

handlichste dieser Reize ist natürlich die schöne Menschengestalt, Aber es wäre
widersinnig, deshalb behaupten zu wollen, die schöne Menschengestalt gefalle
nur durch den Reiz, oder ans der andern Seite -- wie die "christliche Ästhetik"
schon in vorchristlichen Zeiten -- die "bloß schöne"(?) Menschengestalt ganz
ans der Kunst zu verbannen, sie und alles, was mit ihr zusammenhängt, als
unkünstlerisch oder afterkünstlerisch (satanisch) zu verdammen. Die schöne
Menschengestalt kann ebensogut reizlos gefallen, nein, muß ebensogut reizlos
gefallen können wie die schöne Säule, der Wohl angeordnete Tempelbau, sie
ist nicht bloß ein fortpflanznugswürdiges Gattungsexemplar für uns, sie ist
zugleich -- insofern wir uns als rein erkennend über die Gattung erheben --
wie jene ein vollkommener Ausdruck der innern Zweckmäßigkeit in der sichtbaren
Erscheinungswelt, Erfahrnngsmäßige, ungeheuchelte, sichere Beweise dafür?
Nun, wir wollen die homerischen Greise mit ihrem Wohlgefallen an der Helena
nicht inlommodiren, wir können auch zur Abwehr der gegenteiligen Meinung
nicht cynisch werden, weil uns das zunächst schon die Rücksicht auf eine immer¬
hin mögliche, ästhetische schöne Leserin verbietet. Aber hinweisen wollen wir
die ungläubigen Thomase, gleichviel ob der Evvlutionistik oder des -louriml
ainn8art, hinweisen wollen wir sie doch ans ein ästhetisches Wohlgefallen dieser
Art unter Geschwistern (natürlich von höherer Kultur), wo nicht bloß der ab¬
stumpfende Familienverkehr, sondern Gefühle heiligerer Art als die bloße Ge¬
wohnheit den Reiz entweder ganz ausschließe" oder doch nicht aufkomme" lassen,
das ästhetische Wohlgefallen aber gleichwohl in nngcschwnchtcm Maße statt¬
findet. Was aber den angreifbarsten und angegriffensten Punkt dieser Frage
betrifft, die Wirkung des Nackten, so können wir als berufenste Zeugen für
dessen ästhetische Wirkungen die Künstler selbst herbeiziehen, die nach einmütigem
Geständnisse (das der Laie sehr wohl an sich kontroliren kann) bei seiner An¬
schauung und Nachbildung so wenig Reiz empfinden, als etwa der in sein
Problem vertiefte Anatom oder der vcrantworliche Operateur empfinden dürfen,
denn es ist bekannt und wohl zu verstehe", daß im gegenteilige" Falle nichts
als Stümperwerk herauskommt. Und das, was während des Schaffens eines
Kunstwerkes möglich ist. soll bei seiner Betrachtung unmöglich sein? Und wenn
es beim Kunstwerke möglich ist, sollte es dann nicht auch beim Urbilde nnter
Umständen stattfinden können? Werden wir nicht den lebcnssichern, ghmnastisch
ausgearbeitete", ästhetisch so leicht crrcglicheu Alten, wenigstens solange sie das
waren, bei ihrer Freude am Nackten nicht ein starkes Maß auch moralischer
Berechtigung zusprechen müssen? Es geschah nnter einem weniger ästhetischen,
mehr dem bloßen Reize und seinen Gefahren ausgesetzten Volke, daß mau das
Nackte mit dem Bann belegte und den ..Leib als Erbteil der Sünde" ansah,
den man daher "nach Möglichkeit verhüllen" müsse. Wir wollen nicht im
mindesten die glänzenden moralischen Verdienste dieser heiligen Idee in den
Schatten setzen oder gar ihre theologische und politische Berechtigung anzweifeln.
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Grenzboten I. 1887. ^
Line christliche Ästhetik,

handlichste dieser Reize ist natürlich die schöne Menschengestalt, Aber es wäre
widersinnig, deshalb behaupten zu wollen, die schöne Menschengestalt gefalle
nur durch den Reiz, oder ans der andern Seite — wie die „christliche Ästhetik"
schon in vorchristlichen Zeiten — die „bloß schöne"(?) Menschengestalt ganz
ans der Kunst zu verbannen, sie und alles, was mit ihr zusammenhängt, als
unkünstlerisch oder afterkünstlerisch (satanisch) zu verdammen. Die schöne
Menschengestalt kann ebensogut reizlos gefallen, nein, muß ebensogut reizlos
gefallen können wie die schöne Säule, der Wohl angeordnete Tempelbau, sie
ist nicht bloß ein fortpflanznugswürdiges Gattungsexemplar für uns, sie ist
zugleich — insofern wir uns als rein erkennend über die Gattung erheben —
wie jene ein vollkommener Ausdruck der innern Zweckmäßigkeit in der sichtbaren
Erscheinungswelt, Erfahrnngsmäßige, ungeheuchelte, sichere Beweise dafür?
Nun, wir wollen die homerischen Greise mit ihrem Wohlgefallen an der Helena
nicht inlommodiren, wir können auch zur Abwehr der gegenteiligen Meinung
nicht cynisch werden, weil uns das zunächst schon die Rücksicht auf eine immer¬
hin mögliche, ästhetische schöne Leserin verbietet. Aber hinweisen wollen wir
die ungläubigen Thomase, gleichviel ob der Evvlutionistik oder des -louriml
ainn8art, hinweisen wollen wir sie doch ans ein ästhetisches Wohlgefallen dieser
Art unter Geschwistern (natürlich von höherer Kultur), wo nicht bloß der ab¬
stumpfende Familienverkehr, sondern Gefühle heiligerer Art als die bloße Ge¬
wohnheit den Reiz entweder ganz ausschließe» oder doch nicht aufkomme» lassen,
das ästhetische Wohlgefallen aber gleichwohl in nngcschwnchtcm Maße statt¬
findet. Was aber den angreifbarsten und angegriffensten Punkt dieser Frage
betrifft, die Wirkung des Nackten, so können wir als berufenste Zeugen für
dessen ästhetische Wirkungen die Künstler selbst herbeiziehen, die nach einmütigem
Geständnisse (das der Laie sehr wohl an sich kontroliren kann) bei seiner An¬
schauung und Nachbildung so wenig Reiz empfinden, als etwa der in sein
Problem vertiefte Anatom oder der vcrantworliche Operateur empfinden dürfen,
denn es ist bekannt und wohl zu verstehe», daß im gegenteilige» Falle nichts
als Stümperwerk herauskommt. Und das, was während des Schaffens eines
Kunstwerkes möglich ist. soll bei seiner Betrachtung unmöglich sein? Und wenn
es beim Kunstwerke möglich ist, sollte es dann nicht auch beim Urbilde nnter
Umständen stattfinden können? Werden wir nicht den lebcnssichern, ghmnastisch
ausgearbeitete», ästhetisch so leicht crrcglicheu Alten, wenigstens solange sie das
waren, bei ihrer Freude am Nackten nicht ein starkes Maß auch moralischer
Berechtigung zusprechen müssen? Es geschah nnter einem weniger ästhetischen,
mehr dem bloßen Reize und seinen Gefahren ausgesetzten Volke, daß mau das
Nackte mit dem Bann belegte und den ..Leib als Erbteil der Sünde" ansah,
den man daher „nach Möglichkeit verhüllen" müsse. Wir wollen nicht im
mindesten die glänzenden moralischen Verdienste dieser heiligen Idee in den
Schatten setzen oder gar ihre theologische und politische Berechtigung anzweifeln.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/89>, abgerufen am 23.12.2024.