Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

materielle Vorbereitung und Befähigung zu geben. Sie sind nicht willkürlich
zusammengehäuft, vielmehr haben sie sich im Laufe von Jahrhunderten als
Glieder eines lebendigen Organismus entfaltet, indem sie, mehr oder minder
entwickelt, in den Gymnasien immer vorhanden waren. Es kann daher von
diesen Lchrgegenstündcn auch keiner entfernt werden, und alle dahin zielenden
Vorschläge sind nach näherer Prüfung unzweckmäßig und unausführbar er¬
schienen."

An diesem Standpunkte hat die oberste Schulbehörde denn auch bis zum
Jahre 1856 festgehalten, wo zuerst wieder eine, übrigens wenig durchgreifende
Prüfung des höhern Unterrichtswesens stattfand. Veranlassung zu der letzter"
gab der Stimmungswechsel, welcher sich von dem politischen Gebiete auch auf
das pädagogische übertragen hatte und sowohl eine stärkere Konzentration des
Unterrichtes, als auch eine Verlegung des Schwerpunktes auf die Ausbildung
staatsbürgerlicher Eigenschaften forderte. Man hob hervor: nicht auf das
Wissen, sondern ans das Können komme es an, und der Umfang der Kennt¬
nisse müsse hinter der gründlichen Verarbeitung derselben zurückstehen. Wichtiger
als die antiquarischen Forschungen der Philologen sei die Beschäftigung mit den
Staatswissenschaften -- die durch den Zutritt der Nationalökonomie eine
wesentliche Erweiterung gefunden hatten --, mit den Naturwissenschaften, theo¬
logischer Kritik und moderner Literatur. Die Romantik der Dichter lenkte auch
das Augenmerk der Gelehrten auf die deutsche Vorgeschichte. Die gcrmaui-
stischen Studien zogen Schütze ans Tageslicht, welche dem hochmütigen Blicke
der Philologen bisher entgangen oder aber ihnen wertlos erschienen waren;
mit dem Bekanntwerden der indischen Literatur und den sich daran knüpfenden
linguistischen Forschungen erschloß sich ein weites Gebiet von ungeahnter Be¬
deutung. In dem Maße, wie der Stoff wuchs, vermochten auch die Philo¬
logen seiner nicht mehr Herr zu werden, die Fülle des Materials schuf Spe¬
zialistin, welche sich in Eiuzelforschnngen verloren, ihre Mitteilungen weniger
an die Menge, als an verständnisvolle Fachgenossen richteten und damit ihren
pädagogischen Wirkungskreis einschränkten. Ans den ehemaligen Aposteln der
Humanität waren Gelehrte geworden, welche die Früchte ihres Studiums
weniger gern im Vortrag oder im Lehrfach, als in schriftstellerischer Ver¬
arbeitung verwerteten. Durch alle diese Wandlungen zog sich natürlich auch
der alte Streit um die formale oder materielle Bedeutung der klassischen Bil¬
dung, zu dem sich nun noch ein Schwanken in der Wertschätzung der beiden
in Frage kommenden alten Sprachen gesellte. Den Sieg trug vorübergehend
die lateinische davon, indem sie 1856 zur Grundlage des neuen Lehrplans be¬
stimmt wurde. Man glaubte, daß hierin am leichtesten eine gewisse Voll¬
kommenheit erreicht werden könnte, und erblickte in dem Grade der Fertigkeit
den Maßstab für Blüte und Verfall der Ghmnasien. Dementsprechend blieb
denn auch das vielfach geäußerte Verlangen nach größerer Berücksichtigung der


Grenzboten I. 1887. w

materielle Vorbereitung und Befähigung zu geben. Sie sind nicht willkürlich
zusammengehäuft, vielmehr haben sie sich im Laufe von Jahrhunderten als
Glieder eines lebendigen Organismus entfaltet, indem sie, mehr oder minder
entwickelt, in den Gymnasien immer vorhanden waren. Es kann daher von
diesen Lchrgegenstündcn auch keiner entfernt werden, und alle dahin zielenden
Vorschläge sind nach näherer Prüfung unzweckmäßig und unausführbar er¬
schienen."

An diesem Standpunkte hat die oberste Schulbehörde denn auch bis zum
Jahre 1856 festgehalten, wo zuerst wieder eine, übrigens wenig durchgreifende
Prüfung des höhern Unterrichtswesens stattfand. Veranlassung zu der letzter»
gab der Stimmungswechsel, welcher sich von dem politischen Gebiete auch auf
das pädagogische übertragen hatte und sowohl eine stärkere Konzentration des
Unterrichtes, als auch eine Verlegung des Schwerpunktes auf die Ausbildung
staatsbürgerlicher Eigenschaften forderte. Man hob hervor: nicht auf das
Wissen, sondern ans das Können komme es an, und der Umfang der Kennt¬
nisse müsse hinter der gründlichen Verarbeitung derselben zurückstehen. Wichtiger
als die antiquarischen Forschungen der Philologen sei die Beschäftigung mit den
Staatswissenschaften — die durch den Zutritt der Nationalökonomie eine
wesentliche Erweiterung gefunden hatten —, mit den Naturwissenschaften, theo¬
logischer Kritik und moderner Literatur. Die Romantik der Dichter lenkte auch
das Augenmerk der Gelehrten auf die deutsche Vorgeschichte. Die gcrmaui-
stischen Studien zogen Schütze ans Tageslicht, welche dem hochmütigen Blicke
der Philologen bisher entgangen oder aber ihnen wertlos erschienen waren;
mit dem Bekanntwerden der indischen Literatur und den sich daran knüpfenden
linguistischen Forschungen erschloß sich ein weites Gebiet von ungeahnter Be¬
deutung. In dem Maße, wie der Stoff wuchs, vermochten auch die Philo¬
logen seiner nicht mehr Herr zu werden, die Fülle des Materials schuf Spe¬
zialistin, welche sich in Eiuzelforschnngen verloren, ihre Mitteilungen weniger
an die Menge, als an verständnisvolle Fachgenossen richteten und damit ihren
pädagogischen Wirkungskreis einschränkten. Ans den ehemaligen Aposteln der
Humanität waren Gelehrte geworden, welche die Früchte ihres Studiums
weniger gern im Vortrag oder im Lehrfach, als in schriftstellerischer Ver¬
arbeitung verwerteten. Durch alle diese Wandlungen zog sich natürlich auch
der alte Streit um die formale oder materielle Bedeutung der klassischen Bil¬
dung, zu dem sich nun noch ein Schwanken in der Wertschätzung der beiden
in Frage kommenden alten Sprachen gesellte. Den Sieg trug vorübergehend
die lateinische davon, indem sie 1856 zur Grundlage des neuen Lehrplans be¬
stimmt wurde. Man glaubte, daß hierin am leichtesten eine gewisse Voll¬
kommenheit erreicht werden könnte, und erblickte in dem Grade der Fertigkeit
den Maßstab für Blüte und Verfall der Ghmnasien. Dementsprechend blieb
denn auch das vielfach geäußerte Verlangen nach größerer Berücksichtigung der


Grenzboten I. 1887. w
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0081" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/200186"/>
            <fw type="header" place="top"/><lb/>
            <p xml:id="ID_238" prev="#ID_237"> materielle Vorbereitung und Befähigung zu geben. Sie sind nicht willkürlich<lb/>
zusammengehäuft, vielmehr haben sie sich im Laufe von Jahrhunderten als<lb/>
Glieder eines lebendigen Organismus entfaltet, indem sie, mehr oder minder<lb/>
entwickelt, in den Gymnasien immer vorhanden waren. Es kann daher von<lb/>
diesen Lchrgegenstündcn auch keiner entfernt werden, und alle dahin zielenden<lb/>
Vorschläge sind nach näherer Prüfung unzweckmäßig und unausführbar er¬<lb/>
schienen."</p><lb/>
            <p xml:id="ID_239" next="#ID_240"> An diesem Standpunkte hat die oberste Schulbehörde denn auch bis zum<lb/>
Jahre 1856 festgehalten, wo zuerst wieder eine, übrigens wenig durchgreifende<lb/>
Prüfung des höhern Unterrichtswesens stattfand. Veranlassung zu der letzter»<lb/>
gab der Stimmungswechsel, welcher sich von dem politischen Gebiete auch auf<lb/>
das pädagogische übertragen hatte und sowohl eine stärkere Konzentration des<lb/>
Unterrichtes, als auch eine Verlegung des Schwerpunktes auf die Ausbildung<lb/>
staatsbürgerlicher Eigenschaften forderte. Man hob hervor: nicht auf das<lb/>
Wissen, sondern ans das Können komme es an, und der Umfang der Kennt¬<lb/>
nisse müsse hinter der gründlichen Verarbeitung derselben zurückstehen. Wichtiger<lb/>
als die antiquarischen Forschungen der Philologen sei die Beschäftigung mit den<lb/>
Staatswissenschaften &#x2014; die durch den Zutritt der Nationalökonomie eine<lb/>
wesentliche Erweiterung gefunden hatten &#x2014;, mit den Naturwissenschaften, theo¬<lb/>
logischer Kritik und moderner Literatur. Die Romantik der Dichter lenkte auch<lb/>
das Augenmerk der Gelehrten auf die deutsche Vorgeschichte. Die gcrmaui-<lb/>
stischen Studien zogen Schütze ans Tageslicht, welche dem hochmütigen Blicke<lb/>
der Philologen bisher entgangen oder aber ihnen wertlos erschienen waren;<lb/>
mit dem Bekanntwerden der indischen Literatur und den sich daran knüpfenden<lb/>
linguistischen Forschungen erschloß sich ein weites Gebiet von ungeahnter Be¬<lb/>
deutung. In dem Maße, wie der Stoff wuchs, vermochten auch die Philo¬<lb/>
logen seiner nicht mehr Herr zu werden, die Fülle des Materials schuf Spe¬<lb/>
zialistin, welche sich in Eiuzelforschnngen verloren, ihre Mitteilungen weniger<lb/>
an die Menge, als an verständnisvolle Fachgenossen richteten und damit ihren<lb/>
pädagogischen Wirkungskreis einschränkten. Ans den ehemaligen Aposteln der<lb/>
Humanität waren Gelehrte geworden, welche die Früchte ihres Studiums<lb/>
weniger gern im Vortrag oder im Lehrfach, als in schriftstellerischer Ver¬<lb/>
arbeitung verwerteten. Durch alle diese Wandlungen zog sich natürlich auch<lb/>
der alte Streit um die formale oder materielle Bedeutung der klassischen Bil¬<lb/>
dung, zu dem sich nun noch ein Schwanken in der Wertschätzung der beiden<lb/>
in Frage kommenden alten Sprachen gesellte. Den Sieg trug vorübergehend<lb/>
die lateinische davon, indem sie 1856 zur Grundlage des neuen Lehrplans be¬<lb/>
stimmt wurde. Man glaubte, daß hierin am leichtesten eine gewisse Voll¬<lb/>
kommenheit erreicht werden könnte, und erblickte in dem Grade der Fertigkeit<lb/>
den Maßstab für Blüte und Verfall der Ghmnasien. Dementsprechend blieb<lb/>
denn auch das vielfach geäußerte Verlangen nach größerer Berücksichtigung der</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I. 1887. w</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0081] materielle Vorbereitung und Befähigung zu geben. Sie sind nicht willkürlich zusammengehäuft, vielmehr haben sie sich im Laufe von Jahrhunderten als Glieder eines lebendigen Organismus entfaltet, indem sie, mehr oder minder entwickelt, in den Gymnasien immer vorhanden waren. Es kann daher von diesen Lchrgegenstündcn auch keiner entfernt werden, und alle dahin zielenden Vorschläge sind nach näherer Prüfung unzweckmäßig und unausführbar er¬ schienen." An diesem Standpunkte hat die oberste Schulbehörde denn auch bis zum Jahre 1856 festgehalten, wo zuerst wieder eine, übrigens wenig durchgreifende Prüfung des höhern Unterrichtswesens stattfand. Veranlassung zu der letzter» gab der Stimmungswechsel, welcher sich von dem politischen Gebiete auch auf das pädagogische übertragen hatte und sowohl eine stärkere Konzentration des Unterrichtes, als auch eine Verlegung des Schwerpunktes auf die Ausbildung staatsbürgerlicher Eigenschaften forderte. Man hob hervor: nicht auf das Wissen, sondern ans das Können komme es an, und der Umfang der Kennt¬ nisse müsse hinter der gründlichen Verarbeitung derselben zurückstehen. Wichtiger als die antiquarischen Forschungen der Philologen sei die Beschäftigung mit den Staatswissenschaften — die durch den Zutritt der Nationalökonomie eine wesentliche Erweiterung gefunden hatten —, mit den Naturwissenschaften, theo¬ logischer Kritik und moderner Literatur. Die Romantik der Dichter lenkte auch das Augenmerk der Gelehrten auf die deutsche Vorgeschichte. Die gcrmaui- stischen Studien zogen Schütze ans Tageslicht, welche dem hochmütigen Blicke der Philologen bisher entgangen oder aber ihnen wertlos erschienen waren; mit dem Bekanntwerden der indischen Literatur und den sich daran knüpfenden linguistischen Forschungen erschloß sich ein weites Gebiet von ungeahnter Be¬ deutung. In dem Maße, wie der Stoff wuchs, vermochten auch die Philo¬ logen seiner nicht mehr Herr zu werden, die Fülle des Materials schuf Spe¬ zialistin, welche sich in Eiuzelforschnngen verloren, ihre Mitteilungen weniger an die Menge, als an verständnisvolle Fachgenossen richteten und damit ihren pädagogischen Wirkungskreis einschränkten. Ans den ehemaligen Aposteln der Humanität waren Gelehrte geworden, welche die Früchte ihres Studiums weniger gern im Vortrag oder im Lehrfach, als in schriftstellerischer Ver¬ arbeitung verwerteten. Durch alle diese Wandlungen zog sich natürlich auch der alte Streit um die formale oder materielle Bedeutung der klassischen Bil¬ dung, zu dem sich nun noch ein Schwanken in der Wertschätzung der beiden in Frage kommenden alten Sprachen gesellte. Den Sieg trug vorübergehend die lateinische davon, indem sie 1856 zur Grundlage des neuen Lehrplans be¬ stimmt wurde. Man glaubte, daß hierin am leichtesten eine gewisse Voll¬ kommenheit erreicht werden könnte, und erblickte in dem Grade der Fertigkeit den Maßstab für Blüte und Verfall der Ghmnasien. Dementsprechend blieb denn auch das vielfach geäußerte Verlangen nach größerer Berücksichtigung der Grenzboten I. 1887. w

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/81
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/81>, abgerufen am 22.12.2024.