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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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(Zymnasialunterricht und Fachbildung.

natürlich als dankenswert, und daß man ans die Quellen unsers Kulturlebens
zurückging, konnte immer als ein Fortschritt auf dem Wege der Befreiung an¬
gesehen werden. Aber mau erwartete zuviel von dem neuen Bildungssystem.
Was die Renaissance in der Kunst geleistet hatte, konnte nicht auf dem Gebiete
abstrakter Wissenschaften, noch weniger aber auf dem exakter Forschung erwartet
werden. Diese Täuschung hat lange nachgewirkt. Sie führte dahin, daß die
Blüten jeder spätern, nicht von klassischem Altertum beeinflußten Kultur mißachtet
wurden. Um diese Einseitigkeit zu begreifen, müssen wir uns gegenwärtig halten,
daß es eben die Philologen waren, die in allen diesen Fragen den Grundton
angaben, und daß der neue Weg unter ihrer fast ausschließlichen Führung betreten
wurde.

Die Philologie war eben erst in den Sattel gehoben. Aus einer Hilfs¬
wissenschaft der andern Disziplinen war sie zu einem selbständigen Lehrfach
von höchster Bedeutung geworden. Sie hatte der Theologie nicht nur die
Leitung des Schulwesens entwunden, sondern, als Altertumswissenschaft -- wie
ihr Begründer Wolf sie mit Stolz nannte --, als Vertreterin einer das ganze
antike Kulturleben umfassenden historisch-philosophischen Forschung griff sie selbst¬
bewußt auf das Gebiet der andern akademischen Lehrfächer hinüber. Die un¬
bestreitbaren Erfolge, welche namentlich die von ihrer Hand geleitete Archäologie
errang, steigerten ihr Ansehen. Aber mit ihm wuchs auch ein Selbstvertrauen,
das an die Grenzen der Anmaßung führte. Für die dienende Rolle, die man
ihr so lange zugewiesen hatte, rächte sich jetzt die Philologie, indem sie sich als
die Lehre von dem Höchsten und Wichtigsten ausgab, dessen der Mensch bedürfe.
Die Kenntnis des Altertums galt ihr als das letzte Ziel der Erkenntnis. Sie
allein vermochte "den Sinn für Wahrheit zu schürfen, das Urteil über das
Schöne zu verfeinern, der Phantasie Maß und Regel zu geben, die gesamten
Kräfte der Seele dnrch anziehende Aufgaben und Behandlungsarten zu wecken
und ius Gleichgewicht zu bringen."*) Und dieser Bildungsprozeß wurde nun
als unerläßlich betrachtet für das wahre Verständnis auch der andern akade¬
mischen Lehrfächer. Für die Theologie und die Jurisprudenz erschien neben der
Sprachkenntnis, welche den Zugang zu den Quellen erschloß, auch das Einleben
in den Geist des Altertums geboten. Das Sprachstudium floß hier mit dem
geschichtlichen zusammen. Aber auch an die exakten Wissenschaften konnte nach
Meinung der Philologen nur dann mit wahrem Vorteil herangetreten werden,
wenn der Verstand durch die geistige Gymnastik der grammatikalischen Übungen
den erforderlichen Grad von Spannkraft erreicht hatte. Zudem erweiterte die
Beschäftigung mit den literarischen Schätzen der klassischen Zeit den Blick, veredelte
die Geistesrichtung und verhinderte ein Sichverlieren in das materielle Berufs¬
leben, eine prosaische Verflachung und ein Preisgeben höherer Wahrheiten und



Pnulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts. Leipzig, 183S.
(Zymnasialunterricht und Fachbildung.

natürlich als dankenswert, und daß man ans die Quellen unsers Kulturlebens
zurückging, konnte immer als ein Fortschritt auf dem Wege der Befreiung an¬
gesehen werden. Aber mau erwartete zuviel von dem neuen Bildungssystem.
Was die Renaissance in der Kunst geleistet hatte, konnte nicht auf dem Gebiete
abstrakter Wissenschaften, noch weniger aber auf dem exakter Forschung erwartet
werden. Diese Täuschung hat lange nachgewirkt. Sie führte dahin, daß die
Blüten jeder spätern, nicht von klassischem Altertum beeinflußten Kultur mißachtet
wurden. Um diese Einseitigkeit zu begreifen, müssen wir uns gegenwärtig halten,
daß es eben die Philologen waren, die in allen diesen Fragen den Grundton
angaben, und daß der neue Weg unter ihrer fast ausschließlichen Führung betreten
wurde.

Die Philologie war eben erst in den Sattel gehoben. Aus einer Hilfs¬
wissenschaft der andern Disziplinen war sie zu einem selbständigen Lehrfach
von höchster Bedeutung geworden. Sie hatte der Theologie nicht nur die
Leitung des Schulwesens entwunden, sondern, als Altertumswissenschaft — wie
ihr Begründer Wolf sie mit Stolz nannte —, als Vertreterin einer das ganze
antike Kulturleben umfassenden historisch-philosophischen Forschung griff sie selbst¬
bewußt auf das Gebiet der andern akademischen Lehrfächer hinüber. Die un¬
bestreitbaren Erfolge, welche namentlich die von ihrer Hand geleitete Archäologie
errang, steigerten ihr Ansehen. Aber mit ihm wuchs auch ein Selbstvertrauen,
das an die Grenzen der Anmaßung führte. Für die dienende Rolle, die man
ihr so lange zugewiesen hatte, rächte sich jetzt die Philologie, indem sie sich als
die Lehre von dem Höchsten und Wichtigsten ausgab, dessen der Mensch bedürfe.
Die Kenntnis des Altertums galt ihr als das letzte Ziel der Erkenntnis. Sie
allein vermochte „den Sinn für Wahrheit zu schürfen, das Urteil über das
Schöne zu verfeinern, der Phantasie Maß und Regel zu geben, die gesamten
Kräfte der Seele dnrch anziehende Aufgaben und Behandlungsarten zu wecken
und ius Gleichgewicht zu bringen."*) Und dieser Bildungsprozeß wurde nun
als unerläßlich betrachtet für das wahre Verständnis auch der andern akade¬
mischen Lehrfächer. Für die Theologie und die Jurisprudenz erschien neben der
Sprachkenntnis, welche den Zugang zu den Quellen erschloß, auch das Einleben
in den Geist des Altertums geboten. Das Sprachstudium floß hier mit dem
geschichtlichen zusammen. Aber auch an die exakten Wissenschaften konnte nach
Meinung der Philologen nur dann mit wahrem Vorteil herangetreten werden,
wenn der Verstand durch die geistige Gymnastik der grammatikalischen Übungen
den erforderlichen Grad von Spannkraft erreicht hatte. Zudem erweiterte die
Beschäftigung mit den literarischen Schätzen der klassischen Zeit den Blick, veredelte
die Geistesrichtung und verhinderte ein Sichverlieren in das materielle Berufs¬
leben, eine prosaische Verflachung und ein Preisgeben höherer Wahrheiten und



Pnulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts. Leipzig, 183S.
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[0079] (Zymnasialunterricht und Fachbildung. natürlich als dankenswert, und daß man ans die Quellen unsers Kulturlebens zurückging, konnte immer als ein Fortschritt auf dem Wege der Befreiung an¬ gesehen werden. Aber mau erwartete zuviel von dem neuen Bildungssystem. Was die Renaissance in der Kunst geleistet hatte, konnte nicht auf dem Gebiete abstrakter Wissenschaften, noch weniger aber auf dem exakter Forschung erwartet werden. Diese Täuschung hat lange nachgewirkt. Sie führte dahin, daß die Blüten jeder spätern, nicht von klassischem Altertum beeinflußten Kultur mißachtet wurden. Um diese Einseitigkeit zu begreifen, müssen wir uns gegenwärtig halten, daß es eben die Philologen waren, die in allen diesen Fragen den Grundton angaben, und daß der neue Weg unter ihrer fast ausschließlichen Führung betreten wurde. Die Philologie war eben erst in den Sattel gehoben. Aus einer Hilfs¬ wissenschaft der andern Disziplinen war sie zu einem selbständigen Lehrfach von höchster Bedeutung geworden. Sie hatte der Theologie nicht nur die Leitung des Schulwesens entwunden, sondern, als Altertumswissenschaft — wie ihr Begründer Wolf sie mit Stolz nannte —, als Vertreterin einer das ganze antike Kulturleben umfassenden historisch-philosophischen Forschung griff sie selbst¬ bewußt auf das Gebiet der andern akademischen Lehrfächer hinüber. Die un¬ bestreitbaren Erfolge, welche namentlich die von ihrer Hand geleitete Archäologie errang, steigerten ihr Ansehen. Aber mit ihm wuchs auch ein Selbstvertrauen, das an die Grenzen der Anmaßung führte. Für die dienende Rolle, die man ihr so lange zugewiesen hatte, rächte sich jetzt die Philologie, indem sie sich als die Lehre von dem Höchsten und Wichtigsten ausgab, dessen der Mensch bedürfe. Die Kenntnis des Altertums galt ihr als das letzte Ziel der Erkenntnis. Sie allein vermochte „den Sinn für Wahrheit zu schürfen, das Urteil über das Schöne zu verfeinern, der Phantasie Maß und Regel zu geben, die gesamten Kräfte der Seele dnrch anziehende Aufgaben und Behandlungsarten zu wecken und ius Gleichgewicht zu bringen."*) Und dieser Bildungsprozeß wurde nun als unerläßlich betrachtet für das wahre Verständnis auch der andern akade¬ mischen Lehrfächer. Für die Theologie und die Jurisprudenz erschien neben der Sprachkenntnis, welche den Zugang zu den Quellen erschloß, auch das Einleben in den Geist des Altertums geboten. Das Sprachstudium floß hier mit dem geschichtlichen zusammen. Aber auch an die exakten Wissenschaften konnte nach Meinung der Philologen nur dann mit wahrem Vorteil herangetreten werden, wenn der Verstand durch die geistige Gymnastik der grammatikalischen Übungen den erforderlichen Grad von Spannkraft erreicht hatte. Zudem erweiterte die Beschäftigung mit den literarischen Schätzen der klassischen Zeit den Blick, veredelte die Geistesrichtung und verhinderte ein Sichverlieren in das materielle Berufs¬ leben, eine prosaische Verflachung und ein Preisgeben höherer Wahrheiten und Pnulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts. Leipzig, 183S.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/79>, abgerufen am 23.12.2024.