Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Jugenderinnerungen.

finge des Vaters in Wälder und auf Berge. Hier genossen wir in vollen
Zügen die herrliche Natur, erlabten uns an dem Anblicke der fernen Gebirgs¬
kette, deren Besteigung uns für spätere Tage verheißen wurde, und kehrten ge¬
wöhnlich, die Seele voll neuer Eindrücke, am späten Abend vergnügt, wenn
auch manchmal todmüde, zurück. Der Vater stand im kräftigsten Mannesalter,
war ein rüstiger Fußgänger und war daher zu solchen Tagesausflügen immer
bereit, wenn es die Witterung und seine Amtsgeschäfte erlaubten. Auf die
Dauer aber genügten sie ihm nicht. Wohnte ihm auch nicht die Wanderlust
des jetzt lebenden Geschlechtes mit seinem fast krankhaften Drange in die Ferne
inne, so fühlte er sich doch ohne jegliche Abwechslung und Anregung auf der
heimischen Scholle unbefriedigt. Dazu gesellte sich der Wunsch, uns heran¬
wachsenden Brüdern ein wenig die Welt zu zeigen und uns auf alles Neue,
Sehenswerte, Schöne und Erhabene aufmerksam zu machen.

Diesem gewiß verzeihlichen Wunsche stellten sich nur leider sehr viele Hinder¬
nisse entgegen, die schwerer aus dem Wege zu räumen waren, als man glauben
sollte. Zu einer Reise, die über eine Woche dauerte, war die Einholung eines
Urlaubs vom Konsistorium unerläßlich. Zu einem solchen Schritte Hütte sich
der Vater niemals entschlossen, wenn es sich nur um eine Erholung für ihn
handelte. Es blieb daher nur übrig, sich genan für acht Tage arbeitsfrei zu
machen, die etwaigen Amtsverrichtungen während dieser Zeit ein paar befreun¬
deten Pastoren der Nachbarschaft zu übertragen und die Gemeinde am Sonntage
vor der Abreise von der Kanzel herab davon in Kenntnis zu setzen.

Dieses Auskunftsmittel wurde denn auch schließlich ergriffen, wenn die
Eltern allein oder mit uns Kindern zusammen auf einige Tage verreisen wollten.
Verwandte von uns lebten an verschiednen Orten zerstreut, die meisten und
uns am nächsten stehend in "Neu-Preußen," wie man allgemein die seit der
Teilung Sachsens an Preußen gefallenen Teile der Ober-' und Niederlausitz
nannte. Vor allem wünschte der Vater seinen einzigen, um mehrere Jahre
älteren Stiefbruder nach langjähriger Trennung einmal wiederzusehen. Dieser
hatte sich schon zu Anfang des Jahrhunderts in Lauban niedergelassen, hatte
sich dort völlig eingebürgert und bekleidete die kärglich genug besoldete Stelle
eines Gerichtsaltuarins. Beide Brüder unterhielten einen unregelmäßigen Brief¬
wechsel, der bisweilen durch Schuld des Aktuarius ins Stocken geriet, da er
die nicht löbliche Gewohnheit besaß, sich ohne allen Grund in tiefstes Schweigen
zu hüllen. Überhaupt mußte Onkel Traugott, der bei mir Patenstelle vertreten,
mich aber noch nie mit Angen gesehen hatte, nach allem, was wir hörten, ein
Original sein. Er war noch unvermählt und schien es auch bleiben zu wollen,
wohnte schon lange Jahre im Gasthause zum "Schwarzen Bären," wo
er bei seiner Ankunft zuerst abgestiegen war, und spielte in dem Kreise der
dort allabendlich verkehrenden Bürger das Orakel Obwohl die Arbeit
ihn nicht drückte und der Vater ihn wiederholt dringend zum Besuche einlud,


Jugenderinnerungen.

finge des Vaters in Wälder und auf Berge. Hier genossen wir in vollen
Zügen die herrliche Natur, erlabten uns an dem Anblicke der fernen Gebirgs¬
kette, deren Besteigung uns für spätere Tage verheißen wurde, und kehrten ge¬
wöhnlich, die Seele voll neuer Eindrücke, am späten Abend vergnügt, wenn
auch manchmal todmüde, zurück. Der Vater stand im kräftigsten Mannesalter,
war ein rüstiger Fußgänger und war daher zu solchen Tagesausflügen immer
bereit, wenn es die Witterung und seine Amtsgeschäfte erlaubten. Auf die
Dauer aber genügten sie ihm nicht. Wohnte ihm auch nicht die Wanderlust
des jetzt lebenden Geschlechtes mit seinem fast krankhaften Drange in die Ferne
inne, so fühlte er sich doch ohne jegliche Abwechslung und Anregung auf der
heimischen Scholle unbefriedigt. Dazu gesellte sich der Wunsch, uns heran¬
wachsenden Brüdern ein wenig die Welt zu zeigen und uns auf alles Neue,
Sehenswerte, Schöne und Erhabene aufmerksam zu machen.

Diesem gewiß verzeihlichen Wunsche stellten sich nur leider sehr viele Hinder¬
nisse entgegen, die schwerer aus dem Wege zu räumen waren, als man glauben
sollte. Zu einer Reise, die über eine Woche dauerte, war die Einholung eines
Urlaubs vom Konsistorium unerläßlich. Zu einem solchen Schritte Hütte sich
der Vater niemals entschlossen, wenn es sich nur um eine Erholung für ihn
handelte. Es blieb daher nur übrig, sich genan für acht Tage arbeitsfrei zu
machen, die etwaigen Amtsverrichtungen während dieser Zeit ein paar befreun¬
deten Pastoren der Nachbarschaft zu übertragen und die Gemeinde am Sonntage
vor der Abreise von der Kanzel herab davon in Kenntnis zu setzen.

Dieses Auskunftsmittel wurde denn auch schließlich ergriffen, wenn die
Eltern allein oder mit uns Kindern zusammen auf einige Tage verreisen wollten.
Verwandte von uns lebten an verschiednen Orten zerstreut, die meisten und
uns am nächsten stehend in „Neu-Preußen," wie man allgemein die seit der
Teilung Sachsens an Preußen gefallenen Teile der Ober-' und Niederlausitz
nannte. Vor allem wünschte der Vater seinen einzigen, um mehrere Jahre
älteren Stiefbruder nach langjähriger Trennung einmal wiederzusehen. Dieser
hatte sich schon zu Anfang des Jahrhunderts in Lauban niedergelassen, hatte
sich dort völlig eingebürgert und bekleidete die kärglich genug besoldete Stelle
eines Gerichtsaltuarins. Beide Brüder unterhielten einen unregelmäßigen Brief¬
wechsel, der bisweilen durch Schuld des Aktuarius ins Stocken geriet, da er
die nicht löbliche Gewohnheit besaß, sich ohne allen Grund in tiefstes Schweigen
zu hüllen. Überhaupt mußte Onkel Traugott, der bei mir Patenstelle vertreten,
mich aber noch nie mit Angen gesehen hatte, nach allem, was wir hörten, ein
Original sein. Er war noch unvermählt und schien es auch bleiben zu wollen,
wohnte schon lange Jahre im Gasthause zum „Schwarzen Bären," wo
er bei seiner Ankunft zuerst abgestiegen war, und spielte in dem Kreise der
dort allabendlich verkehrenden Bürger das Orakel Obwohl die Arbeit
ihn nicht drückte und der Vater ihn wiederholt dringend zum Besuche einlud,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0655" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/200760"/>
          <fw type="header" place="top"> Jugenderinnerungen.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2059" prev="#ID_2058"> finge des Vaters in Wälder und auf Berge. Hier genossen wir in vollen<lb/>
Zügen die herrliche Natur, erlabten uns an dem Anblicke der fernen Gebirgs¬<lb/>
kette, deren Besteigung uns für spätere Tage verheißen wurde, und kehrten ge¬<lb/>
wöhnlich, die Seele voll neuer Eindrücke, am späten Abend vergnügt, wenn<lb/>
auch manchmal todmüde, zurück. Der Vater stand im kräftigsten Mannesalter,<lb/>
war ein rüstiger Fußgänger und war daher zu solchen Tagesausflügen immer<lb/>
bereit, wenn es die Witterung und seine Amtsgeschäfte erlaubten. Auf die<lb/>
Dauer aber genügten sie ihm nicht. Wohnte ihm auch nicht die Wanderlust<lb/>
des jetzt lebenden Geschlechtes mit seinem fast krankhaften Drange in die Ferne<lb/>
inne, so fühlte er sich doch ohne jegliche Abwechslung und Anregung auf der<lb/>
heimischen Scholle unbefriedigt. Dazu gesellte sich der Wunsch, uns heran¬<lb/>
wachsenden Brüdern ein wenig die Welt zu zeigen und uns auf alles Neue,<lb/>
Sehenswerte, Schöne und Erhabene aufmerksam zu machen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2060"> Diesem gewiß verzeihlichen Wunsche stellten sich nur leider sehr viele Hinder¬<lb/>
nisse entgegen, die schwerer aus dem Wege zu räumen waren, als man glauben<lb/>
sollte. Zu einer Reise, die über eine Woche dauerte, war die Einholung eines<lb/>
Urlaubs vom Konsistorium unerläßlich. Zu einem solchen Schritte Hütte sich<lb/>
der Vater niemals entschlossen, wenn es sich nur um eine Erholung für ihn<lb/>
handelte. Es blieb daher nur übrig, sich genan für acht Tage arbeitsfrei zu<lb/>
machen, die etwaigen Amtsverrichtungen während dieser Zeit ein paar befreun¬<lb/>
deten Pastoren der Nachbarschaft zu übertragen und die Gemeinde am Sonntage<lb/>
vor der Abreise von der Kanzel herab davon in Kenntnis zu setzen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2061" next="#ID_2062"> Dieses Auskunftsmittel wurde denn auch schließlich ergriffen, wenn die<lb/>
Eltern allein oder mit uns Kindern zusammen auf einige Tage verreisen wollten.<lb/>
Verwandte von uns lebten an verschiednen Orten zerstreut, die meisten und<lb/>
uns am nächsten stehend in &#x201E;Neu-Preußen," wie man allgemein die seit der<lb/>
Teilung Sachsens an Preußen gefallenen Teile der Ober-' und Niederlausitz<lb/>
nannte. Vor allem wünschte der Vater seinen einzigen, um mehrere Jahre<lb/>
älteren Stiefbruder nach langjähriger Trennung einmal wiederzusehen. Dieser<lb/>
hatte sich schon zu Anfang des Jahrhunderts in Lauban niedergelassen, hatte<lb/>
sich dort völlig eingebürgert und bekleidete die kärglich genug besoldete Stelle<lb/>
eines Gerichtsaltuarins. Beide Brüder unterhielten einen unregelmäßigen Brief¬<lb/>
wechsel, der bisweilen durch Schuld des Aktuarius ins Stocken geriet, da er<lb/>
die nicht löbliche Gewohnheit besaß, sich ohne allen Grund in tiefstes Schweigen<lb/>
zu hüllen. Überhaupt mußte Onkel Traugott, der bei mir Patenstelle vertreten,<lb/>
mich aber noch nie mit Angen gesehen hatte, nach allem, was wir hörten, ein<lb/>
Original sein. Er war noch unvermählt und schien es auch bleiben zu wollen,<lb/>
wohnte schon lange Jahre im Gasthause zum &#x201E;Schwarzen Bären," wo<lb/>
er bei seiner Ankunft zuerst abgestiegen war, und spielte in dem Kreise der<lb/>
dort allabendlich verkehrenden Bürger das Orakel Obwohl die Arbeit<lb/>
ihn nicht drückte und der Vater ihn wiederholt dringend zum Besuche einlud,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0655] Jugenderinnerungen. finge des Vaters in Wälder und auf Berge. Hier genossen wir in vollen Zügen die herrliche Natur, erlabten uns an dem Anblicke der fernen Gebirgs¬ kette, deren Besteigung uns für spätere Tage verheißen wurde, und kehrten ge¬ wöhnlich, die Seele voll neuer Eindrücke, am späten Abend vergnügt, wenn auch manchmal todmüde, zurück. Der Vater stand im kräftigsten Mannesalter, war ein rüstiger Fußgänger und war daher zu solchen Tagesausflügen immer bereit, wenn es die Witterung und seine Amtsgeschäfte erlaubten. Auf die Dauer aber genügten sie ihm nicht. Wohnte ihm auch nicht die Wanderlust des jetzt lebenden Geschlechtes mit seinem fast krankhaften Drange in die Ferne inne, so fühlte er sich doch ohne jegliche Abwechslung und Anregung auf der heimischen Scholle unbefriedigt. Dazu gesellte sich der Wunsch, uns heran¬ wachsenden Brüdern ein wenig die Welt zu zeigen und uns auf alles Neue, Sehenswerte, Schöne und Erhabene aufmerksam zu machen. Diesem gewiß verzeihlichen Wunsche stellten sich nur leider sehr viele Hinder¬ nisse entgegen, die schwerer aus dem Wege zu räumen waren, als man glauben sollte. Zu einer Reise, die über eine Woche dauerte, war die Einholung eines Urlaubs vom Konsistorium unerläßlich. Zu einem solchen Schritte Hütte sich der Vater niemals entschlossen, wenn es sich nur um eine Erholung für ihn handelte. Es blieb daher nur übrig, sich genan für acht Tage arbeitsfrei zu machen, die etwaigen Amtsverrichtungen während dieser Zeit ein paar befreun¬ deten Pastoren der Nachbarschaft zu übertragen und die Gemeinde am Sonntage vor der Abreise von der Kanzel herab davon in Kenntnis zu setzen. Dieses Auskunftsmittel wurde denn auch schließlich ergriffen, wenn die Eltern allein oder mit uns Kindern zusammen auf einige Tage verreisen wollten. Verwandte von uns lebten an verschiednen Orten zerstreut, die meisten und uns am nächsten stehend in „Neu-Preußen," wie man allgemein die seit der Teilung Sachsens an Preußen gefallenen Teile der Ober-' und Niederlausitz nannte. Vor allem wünschte der Vater seinen einzigen, um mehrere Jahre älteren Stiefbruder nach langjähriger Trennung einmal wiederzusehen. Dieser hatte sich schon zu Anfang des Jahrhunderts in Lauban niedergelassen, hatte sich dort völlig eingebürgert und bekleidete die kärglich genug besoldete Stelle eines Gerichtsaltuarins. Beide Brüder unterhielten einen unregelmäßigen Brief¬ wechsel, der bisweilen durch Schuld des Aktuarius ins Stocken geriet, da er die nicht löbliche Gewohnheit besaß, sich ohne allen Grund in tiefstes Schweigen zu hüllen. Überhaupt mußte Onkel Traugott, der bei mir Patenstelle vertreten, mich aber noch nie mit Angen gesehen hatte, nach allem, was wir hörten, ein Original sein. Er war noch unvermählt und schien es auch bleiben zu wollen, wohnte schon lange Jahre im Gasthause zum „Schwarzen Bären," wo er bei seiner Ankunft zuerst abgestiegen war, und spielte in dem Kreise der dort allabendlich verkehrenden Bürger das Orakel Obwohl die Arbeit ihn nicht drückte und der Vater ihn wiederholt dringend zum Besuche einlud,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/655
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/655>, abgerufen am 03.07.2024.