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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Toynbee-Hall.

Auch in Deutschland ist manches geschehen. Gern gedenken wir hier des
vaterländischen Frauenvereins, dessen überall segensreiche Thätigkeit sich insbe¬
sondre in unsern Residenzstädten und unter den Augen fürstlicher Frauen reich
entfaltet hat. Aber das Gefühl der Verantwortlichkeit muß die mit Bildung
und Besitz privilegirten allgemeiner durchdringen, und es muß ASiMöing,nu1es
werden, sich um das Schicksal der weniger begünstigten Klassen zu kümmern.
Erst dann, wenn die Bewegung, deren Elemente vorhanden sind, die großen
Städte und die Mittelpunkte der Industrie in ihre Kreise zieht, werden wir mit
unsern Vettern jenseits des Kanals gleichen Schritt halten. Auch dort hat es
in den ersten Jahrzehnten unsers Jahrhunderts nicht an revolutionären Re¬
gungen gefehlt, aber heute scheint, was die Gesetzgebung nie vollbracht hätte, ihrer
ältern und stärkern Schwester, der Sitte, zu gelingen: Zusammenhänge neu auf¬
zubauen zwischen weit entfremdeten Klassen desselben Volkes. Trotz alles Ra¬
dikalismus giebt es in England keine eigentliche Umsturzpartei. Möge auch
unser Volk die gleiche Kraft beweisen!

In Einzelheiten freilich haben wir uns vor Nachahmungen zu hüten. Wir
müssen auf heimischem Boden selbständig vorgehen.
'

Zweierlei aberkönnen wir von den englischen Vorgängern lernen, was bei
Durchführung derartiger Bestrebungen von größter Wichtigkeit ist. Einmal ist
es ein gewisser praktischer Sinn. Der Deutsche erfaßt vielleicht zunächst rich¬
tiger die Größe der Aufgabe, daneben bemißt er die eigne Kraft und -- handelt
nicht. Das, was er thun könnte, erscheint ihm zu geringfügig. Der Engländer
wägt dagegen zuerst die eigne Fähigkeit und steckt sich dann ein entsprechendes
Ziel, das er wirklich erreicht. Wenn tausende gleiches thun, wird hier die Sitte
gezeitigt; dort aber ist zu fürchten, daß nichts zustande kommt, weil es sich um
Dinge handelt, die vom Staate allein nicht zu erwarten sind.

Das zweite, worin wir von der englischen Bewegung lernen können, ist die
gegenseitige Duldung. Sind doch alle Mitarbeiter auf diesem Gebiete, Geist¬
liche wie Laien, Außeuposteu der Zivilisation gegenüber den Mächten der Zer¬
störung. In der That, sie gleichen einem Volke, das sich in weiter Wildnis
ansiedelt. Glückliche Männer; mögen sie immer, so weit es ihre Kräfte erlauben,
ihre Felder ausdehnen; bei gutem Willen werden sie nicht auf die Grenzen des
Nachbars stoßen. So unermeßlich weit ist das Gebiet.




Toynbee-Hall.

Auch in Deutschland ist manches geschehen. Gern gedenken wir hier des
vaterländischen Frauenvereins, dessen überall segensreiche Thätigkeit sich insbe¬
sondre in unsern Residenzstädten und unter den Augen fürstlicher Frauen reich
entfaltet hat. Aber das Gefühl der Verantwortlichkeit muß die mit Bildung
und Besitz privilegirten allgemeiner durchdringen, und es muß ASiMöing,nu1es
werden, sich um das Schicksal der weniger begünstigten Klassen zu kümmern.
Erst dann, wenn die Bewegung, deren Elemente vorhanden sind, die großen
Städte und die Mittelpunkte der Industrie in ihre Kreise zieht, werden wir mit
unsern Vettern jenseits des Kanals gleichen Schritt halten. Auch dort hat es
in den ersten Jahrzehnten unsers Jahrhunderts nicht an revolutionären Re¬
gungen gefehlt, aber heute scheint, was die Gesetzgebung nie vollbracht hätte, ihrer
ältern und stärkern Schwester, der Sitte, zu gelingen: Zusammenhänge neu auf¬
zubauen zwischen weit entfremdeten Klassen desselben Volkes. Trotz alles Ra¬
dikalismus giebt es in England keine eigentliche Umsturzpartei. Möge auch
unser Volk die gleiche Kraft beweisen!

In Einzelheiten freilich haben wir uns vor Nachahmungen zu hüten. Wir
müssen auf heimischem Boden selbständig vorgehen.
'

Zweierlei aberkönnen wir von den englischen Vorgängern lernen, was bei
Durchführung derartiger Bestrebungen von größter Wichtigkeit ist. Einmal ist
es ein gewisser praktischer Sinn. Der Deutsche erfaßt vielleicht zunächst rich¬
tiger die Größe der Aufgabe, daneben bemißt er die eigne Kraft und — handelt
nicht. Das, was er thun könnte, erscheint ihm zu geringfügig. Der Engländer
wägt dagegen zuerst die eigne Fähigkeit und steckt sich dann ein entsprechendes
Ziel, das er wirklich erreicht. Wenn tausende gleiches thun, wird hier die Sitte
gezeitigt; dort aber ist zu fürchten, daß nichts zustande kommt, weil es sich um
Dinge handelt, die vom Staate allein nicht zu erwarten sind.

Das zweite, worin wir von der englischen Bewegung lernen können, ist die
gegenseitige Duldung. Sind doch alle Mitarbeiter auf diesem Gebiete, Geist¬
liche wie Laien, Außeuposteu der Zivilisation gegenüber den Mächten der Zer¬
störung. In der That, sie gleichen einem Volke, das sich in weiter Wildnis
ansiedelt. Glückliche Männer; mögen sie immer, so weit es ihre Kräfte erlauben,
ihre Felder ausdehnen; bei gutem Willen werden sie nicht auf die Grenzen des
Nachbars stoßen. So unermeßlich weit ist das Gebiet.




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[0590] Toynbee-Hall. Auch in Deutschland ist manches geschehen. Gern gedenken wir hier des vaterländischen Frauenvereins, dessen überall segensreiche Thätigkeit sich insbe¬ sondre in unsern Residenzstädten und unter den Augen fürstlicher Frauen reich entfaltet hat. Aber das Gefühl der Verantwortlichkeit muß die mit Bildung und Besitz privilegirten allgemeiner durchdringen, und es muß ASiMöing,nu1es werden, sich um das Schicksal der weniger begünstigten Klassen zu kümmern. Erst dann, wenn die Bewegung, deren Elemente vorhanden sind, die großen Städte und die Mittelpunkte der Industrie in ihre Kreise zieht, werden wir mit unsern Vettern jenseits des Kanals gleichen Schritt halten. Auch dort hat es in den ersten Jahrzehnten unsers Jahrhunderts nicht an revolutionären Re¬ gungen gefehlt, aber heute scheint, was die Gesetzgebung nie vollbracht hätte, ihrer ältern und stärkern Schwester, der Sitte, zu gelingen: Zusammenhänge neu auf¬ zubauen zwischen weit entfremdeten Klassen desselben Volkes. Trotz alles Ra¬ dikalismus giebt es in England keine eigentliche Umsturzpartei. Möge auch unser Volk die gleiche Kraft beweisen! In Einzelheiten freilich haben wir uns vor Nachahmungen zu hüten. Wir müssen auf heimischem Boden selbständig vorgehen. ' Zweierlei aberkönnen wir von den englischen Vorgängern lernen, was bei Durchführung derartiger Bestrebungen von größter Wichtigkeit ist. Einmal ist es ein gewisser praktischer Sinn. Der Deutsche erfaßt vielleicht zunächst rich¬ tiger die Größe der Aufgabe, daneben bemißt er die eigne Kraft und — handelt nicht. Das, was er thun könnte, erscheint ihm zu geringfügig. Der Engländer wägt dagegen zuerst die eigne Fähigkeit und steckt sich dann ein entsprechendes Ziel, das er wirklich erreicht. Wenn tausende gleiches thun, wird hier die Sitte gezeitigt; dort aber ist zu fürchten, daß nichts zustande kommt, weil es sich um Dinge handelt, die vom Staate allein nicht zu erwarten sind. Das zweite, worin wir von der englischen Bewegung lernen können, ist die gegenseitige Duldung. Sind doch alle Mitarbeiter auf diesem Gebiete, Geist¬ liche wie Laien, Außeuposteu der Zivilisation gegenüber den Mächten der Zer¬ störung. In der That, sie gleichen einem Volke, das sich in weiter Wildnis ansiedelt. Glückliche Männer; mögen sie immer, so weit es ihre Kräfte erlauben, ihre Felder ausdehnen; bei gutem Willen werden sie nicht auf die Grenzen des Nachbars stoßen. So unermeßlich weit ist das Gebiet.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/590>, abgerufen am 27.08.2024.