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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Die Literatur und das verbrechen.

Völlig verschrobene und schädliche Wahnvorstellungen über das Verhältnis der
beiden Geschlechter eingeimpft werden -- auch an Werke von klassischem Ge¬
präge haben sich die Vorwürfe herangemacht. Es hat Leute gegeben, welche
Schillers "Räubern" die Schuld beimaßen, die Spitzbuben und Tagediebe ver¬
mehrt zu haben, ein Vorwurf, der auch dem englischen Dichter John Gah in
allem Ernst entgegengeschleudert wurde, als seine "Bettler-Oper" ganz London
elektrisirte. Zwar wurden die Gegner John Gays ebenso ausgelacht, wie man
die Leute verspottet, welche Schillers "Räuber" vom kriminalistischen Gesichts¬
punkte aus anfeinden. Man wiederholt das Argument: der Jüngling, der durch
Schiller oder Gay zu einem Straßenräuber oder Landstreicher gemacht werden
konnte, mußte wohl jedenfalls schon von Natur zum Verbrecher angelegt sein,
ohne daß die Dazwischenkunft eines Dichters notwendig war. Das ist un¬
zweifelhaft richtig; obschon auch das andre richtig ist, daß die Darstellung ver¬
brecherischer Handlungen, in welcher Absicht sie auch dargestellt sein mögen,
halb schlummernde verbrecherische Vorsätze zum vollen Bewußtsein erwecken
kann. Wer in einem Kunstwerk nur das Gemeine sieht, nicht aber den Sieg
des Guten über das Gemeine, worauf die sittliche Wirkung der Kunst beruht,
dem ist nicht zu helfen. Solcher verbrecherisch angelegten Individuen wegen
wird sich die Gesamtheit gewiß nicht den künstlerischen Genuß nehmen lassen,
und darum hat man in der That Recht, jene allzu furchtsamen zu verhöhnen,
welche auf dem Theater und in den Romanen überall nur die Saat zu Ver¬
brechen ausgestreut sehen.

Etwas andres aber ist es mit denjenigen Erzeugnissen der Phantasie, die
mit der echten Kunst wenig oder garnichts mehr zu thun haben, mit den
wollüstigen Ausmalungen raffinirter Greuelszenen, mit den umständlichen Schil¬
derungen exemplarischer Betrugs- und Dicbesfälle, mit den wilden Darstellungen
von Rohheit, Sinnlichkeit und Verbrechen. Wie viel Unheil unsre Hintertreppen-
Literatur, unsre Kolportage-Romantik angestiftet hat, kann man nicht berechnen,
aber die Sache selbst läßt sich nicht wegleugnen. Man hat allen Grund, die
literarische Jämmerlichkeit dieser Erzeugnisse als ein Glück anzusehen; denn nur
ihrer plumpen, schwerfälligen und ungeschickten Ausdrucksweise ist es zuzu¬
schreiben, daß ihre unheilvolle Wirkung sich in so engen Grenzen erhält, daß
sie sich noch nicht als ein spezifisches Volksgift von besonderen Charakter wahr¬
nehmen läßt. Es giebt aber auch Erzeugnisse, bei denen dieser Milderungs-
grnnd wegfüllt; es giebt Erzeugnisse, die mit großer Kraft der Phantasie, mit
bedeutender schriftstellerischer Geschicklichkeit, mit lebendiger Darstellungsgabe
und hinreißender Beredsamkeit geschrieben sind, nicht um einem Kunstzweck zu
dienen, sondern um die gefährliche Stelle in der menschlichen Seele aufzureizen,
wo die Verbrechen schlummrrn. Diese Literatur', die ein Zeitalter wie mit
glühenden Nadeln auf eine bestimmte Art von Bestialität hinstößt, kann diese
epidemisch machen und in einer Weise das Leben beeinflussen, welche mehr


Die Literatur und das verbrechen.

Völlig verschrobene und schädliche Wahnvorstellungen über das Verhältnis der
beiden Geschlechter eingeimpft werden — auch an Werke von klassischem Ge¬
präge haben sich die Vorwürfe herangemacht. Es hat Leute gegeben, welche
Schillers „Räubern" die Schuld beimaßen, die Spitzbuben und Tagediebe ver¬
mehrt zu haben, ein Vorwurf, der auch dem englischen Dichter John Gah in
allem Ernst entgegengeschleudert wurde, als seine „Bettler-Oper" ganz London
elektrisirte. Zwar wurden die Gegner John Gays ebenso ausgelacht, wie man
die Leute verspottet, welche Schillers „Räuber" vom kriminalistischen Gesichts¬
punkte aus anfeinden. Man wiederholt das Argument: der Jüngling, der durch
Schiller oder Gay zu einem Straßenräuber oder Landstreicher gemacht werden
konnte, mußte wohl jedenfalls schon von Natur zum Verbrecher angelegt sein,
ohne daß die Dazwischenkunft eines Dichters notwendig war. Das ist un¬
zweifelhaft richtig; obschon auch das andre richtig ist, daß die Darstellung ver¬
brecherischer Handlungen, in welcher Absicht sie auch dargestellt sein mögen,
halb schlummernde verbrecherische Vorsätze zum vollen Bewußtsein erwecken
kann. Wer in einem Kunstwerk nur das Gemeine sieht, nicht aber den Sieg
des Guten über das Gemeine, worauf die sittliche Wirkung der Kunst beruht,
dem ist nicht zu helfen. Solcher verbrecherisch angelegten Individuen wegen
wird sich die Gesamtheit gewiß nicht den künstlerischen Genuß nehmen lassen,
und darum hat man in der That Recht, jene allzu furchtsamen zu verhöhnen,
welche auf dem Theater und in den Romanen überall nur die Saat zu Ver¬
brechen ausgestreut sehen.

Etwas andres aber ist es mit denjenigen Erzeugnissen der Phantasie, die
mit der echten Kunst wenig oder garnichts mehr zu thun haben, mit den
wollüstigen Ausmalungen raffinirter Greuelszenen, mit den umständlichen Schil¬
derungen exemplarischer Betrugs- und Dicbesfälle, mit den wilden Darstellungen
von Rohheit, Sinnlichkeit und Verbrechen. Wie viel Unheil unsre Hintertreppen-
Literatur, unsre Kolportage-Romantik angestiftet hat, kann man nicht berechnen,
aber die Sache selbst läßt sich nicht wegleugnen. Man hat allen Grund, die
literarische Jämmerlichkeit dieser Erzeugnisse als ein Glück anzusehen; denn nur
ihrer plumpen, schwerfälligen und ungeschickten Ausdrucksweise ist es zuzu¬
schreiben, daß ihre unheilvolle Wirkung sich in so engen Grenzen erhält, daß
sie sich noch nicht als ein spezifisches Volksgift von besonderen Charakter wahr¬
nehmen läßt. Es giebt aber auch Erzeugnisse, bei denen dieser Milderungs-
grnnd wegfüllt; es giebt Erzeugnisse, die mit großer Kraft der Phantasie, mit
bedeutender schriftstellerischer Geschicklichkeit, mit lebendiger Darstellungsgabe
und hinreißender Beredsamkeit geschrieben sind, nicht um einem Kunstzweck zu
dienen, sondern um die gefährliche Stelle in der menschlichen Seele aufzureizen,
wo die Verbrechen schlummrrn. Diese Literatur', die ein Zeitalter wie mit
glühenden Nadeln auf eine bestimmte Art von Bestialität hinstößt, kann diese
epidemisch machen und in einer Weise das Leben beeinflussen, welche mehr


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/492>, abgerufen am 22.12.2024.