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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Die Zunahme der Rohheit in Deutschland.

mehr, den Platz beanspruchen, der bisher den strafbaren Verletzungen des Eigen¬
tums zuteil wurde? Was hilft es, daß das Vermögen in Deutschland nicht
mehr in der Weise den verbrecherischen Angriffen gesetzloser Menschen ausgesetzt
ist, wie zu Ende der siebziger Jahre, wenn Ehre, Gesundheit und Sittlichkeit
sich mit jedem Jahre mehr bedroht sehen, wenn der Widerstand gegen die
Staatsgewalt und der Hausfriedensbruch, wenn die Beleidigung und die gewalt¬
same Unzucht, wenn vor allem die Körperverletzung im größten Maße begangen
wird? Der Gewinn, welcher dem Volksleben durch den Rückgang der Diebstähle
erwächst, wird mehr als aufgewogen durch den Schaden, den es durch die
Verrohung und Verwilderung der Volksseele erleidet, welche mit der größern
Häufigkeit jener Verbrechen Hand in Hand geht. Vor allem sind es die
Körperverletzungen, welche sich durch eine geradezu ungeheuerlich zu nennende
Vermehrung auszeichnen. Im Jahre 1882 betrug die Zahl der wegen einfacher
Körperverletzung verurteilten 16 627; nach den vorläufigen Ergebnissen der
Strafrechtspflege im Jahre 1885 war sie in diesem Jahre bereits auf 18 620
gestiegen. Noch viel bedeutender aber ist die Zunahme der ungleich schlimmern
Klasse dieser Vergehen, der gefährlichen Körperverletzungen; von 38 291 ist
ihre Zahl innerhalb derselben Zeit auf 51 449 gestiegen, während die schweren
Körperverletzungen sich von 373 auf 663 vermehrt haben. In derselben Zeit
ist die Zahl der wegen einfachen Diebstahls verurteilte" von 79116 auf
69 241 gesunken, und ebenso verhält es sich mit der Bewegung der übrigen
Arten des Diebstahls. Da wir hier keine Darstellung der deutschen Kriminal¬
statistik zu geben beabsichtigen, sondern lediglich die Aufmerksamkeit auf den
gewaltigen Umfang und die übermüßige Ausdehnung der Antastungen des Leibes
und Lebens lenken wollen, so sehen wir von einer weitern Mitteilung statistischer
Angaben ab und können dies umsomehr, als aus den voranstehenden in völlig
ausreichender Weise die Thatsache hervorgeht, daß die gegenwärtige Menge der
Körperverletzungen zu keiner frühern Zeit auch nur annähernd erreicht wurde.
Geht die Bewegung der Körperverletzungen in der bisherigen Weise weiter, so
wird mit der Zeit das Messer in Deutschland dieselbe Rolle spielen wie in
Amerika, und während der Strafvollzug ängstlich bemüht ist, den Übelthäter,
der das Leben und die Gesundheit seines Nebenmenschen geringer achtet als
einen Schnaps, mit Glaceehandschuhen anzufassen und um jede" Preis zu ver¬
meiden, daß die Strafe auf den Bestraften als Übel und Pein wirke, nimmt
die Schutzlosigkeit des wichtigsten aller Rechtsgüter und die öffentliche Rechts¬
unsicherheit über Hand, und immer dringender wird der Hilferuf der Gesell¬
schaft, welche sich den wüsten Ausschreitungen roher Gesellen preisgegeben sieht.

Es ist nicht schwierig, die Gründe anzugeben, auf welchen diese be¬
klagenswerte Erscheinung beruht; freilich muß man sich bei der Aufdeckung
derselben der Gefahr aussetzen, als "Reaktionär" verschrieen zu werden, weil
man dabei in der gegenwärtigen Rechtspflege nicht alles vollkommen und


Die Zunahme der Rohheit in Deutschland.

mehr, den Platz beanspruchen, der bisher den strafbaren Verletzungen des Eigen¬
tums zuteil wurde? Was hilft es, daß das Vermögen in Deutschland nicht
mehr in der Weise den verbrecherischen Angriffen gesetzloser Menschen ausgesetzt
ist, wie zu Ende der siebziger Jahre, wenn Ehre, Gesundheit und Sittlichkeit
sich mit jedem Jahre mehr bedroht sehen, wenn der Widerstand gegen die
Staatsgewalt und der Hausfriedensbruch, wenn die Beleidigung und die gewalt¬
same Unzucht, wenn vor allem die Körperverletzung im größten Maße begangen
wird? Der Gewinn, welcher dem Volksleben durch den Rückgang der Diebstähle
erwächst, wird mehr als aufgewogen durch den Schaden, den es durch die
Verrohung und Verwilderung der Volksseele erleidet, welche mit der größern
Häufigkeit jener Verbrechen Hand in Hand geht. Vor allem sind es die
Körperverletzungen, welche sich durch eine geradezu ungeheuerlich zu nennende
Vermehrung auszeichnen. Im Jahre 1882 betrug die Zahl der wegen einfacher
Körperverletzung verurteilten 16 627; nach den vorläufigen Ergebnissen der
Strafrechtspflege im Jahre 1885 war sie in diesem Jahre bereits auf 18 620
gestiegen. Noch viel bedeutender aber ist die Zunahme der ungleich schlimmern
Klasse dieser Vergehen, der gefährlichen Körperverletzungen; von 38 291 ist
ihre Zahl innerhalb derselben Zeit auf 51 449 gestiegen, während die schweren
Körperverletzungen sich von 373 auf 663 vermehrt haben. In derselben Zeit
ist die Zahl der wegen einfachen Diebstahls verurteilte» von 79116 auf
69 241 gesunken, und ebenso verhält es sich mit der Bewegung der übrigen
Arten des Diebstahls. Da wir hier keine Darstellung der deutschen Kriminal¬
statistik zu geben beabsichtigen, sondern lediglich die Aufmerksamkeit auf den
gewaltigen Umfang und die übermüßige Ausdehnung der Antastungen des Leibes
und Lebens lenken wollen, so sehen wir von einer weitern Mitteilung statistischer
Angaben ab und können dies umsomehr, als aus den voranstehenden in völlig
ausreichender Weise die Thatsache hervorgeht, daß die gegenwärtige Menge der
Körperverletzungen zu keiner frühern Zeit auch nur annähernd erreicht wurde.
Geht die Bewegung der Körperverletzungen in der bisherigen Weise weiter, so
wird mit der Zeit das Messer in Deutschland dieselbe Rolle spielen wie in
Amerika, und während der Strafvollzug ängstlich bemüht ist, den Übelthäter,
der das Leben und die Gesundheit seines Nebenmenschen geringer achtet als
einen Schnaps, mit Glaceehandschuhen anzufassen und um jede« Preis zu ver¬
meiden, daß die Strafe auf den Bestraften als Übel und Pein wirke, nimmt
die Schutzlosigkeit des wichtigsten aller Rechtsgüter und die öffentliche Rechts¬
unsicherheit über Hand, und immer dringender wird der Hilferuf der Gesell¬
schaft, welche sich den wüsten Ausschreitungen roher Gesellen preisgegeben sieht.

Es ist nicht schwierig, die Gründe anzugeben, auf welchen diese be¬
klagenswerte Erscheinung beruht; freilich muß man sich bei der Aufdeckung
derselben der Gefahr aussetzen, als „Reaktionär" verschrieen zu werden, weil
man dabei in der gegenwärtigen Rechtspflege nicht alles vollkommen und


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[0483] Die Zunahme der Rohheit in Deutschland. mehr, den Platz beanspruchen, der bisher den strafbaren Verletzungen des Eigen¬ tums zuteil wurde? Was hilft es, daß das Vermögen in Deutschland nicht mehr in der Weise den verbrecherischen Angriffen gesetzloser Menschen ausgesetzt ist, wie zu Ende der siebziger Jahre, wenn Ehre, Gesundheit und Sittlichkeit sich mit jedem Jahre mehr bedroht sehen, wenn der Widerstand gegen die Staatsgewalt und der Hausfriedensbruch, wenn die Beleidigung und die gewalt¬ same Unzucht, wenn vor allem die Körperverletzung im größten Maße begangen wird? Der Gewinn, welcher dem Volksleben durch den Rückgang der Diebstähle erwächst, wird mehr als aufgewogen durch den Schaden, den es durch die Verrohung und Verwilderung der Volksseele erleidet, welche mit der größern Häufigkeit jener Verbrechen Hand in Hand geht. Vor allem sind es die Körperverletzungen, welche sich durch eine geradezu ungeheuerlich zu nennende Vermehrung auszeichnen. Im Jahre 1882 betrug die Zahl der wegen einfacher Körperverletzung verurteilten 16 627; nach den vorläufigen Ergebnissen der Strafrechtspflege im Jahre 1885 war sie in diesem Jahre bereits auf 18 620 gestiegen. Noch viel bedeutender aber ist die Zunahme der ungleich schlimmern Klasse dieser Vergehen, der gefährlichen Körperverletzungen; von 38 291 ist ihre Zahl innerhalb derselben Zeit auf 51 449 gestiegen, während die schweren Körperverletzungen sich von 373 auf 663 vermehrt haben. In derselben Zeit ist die Zahl der wegen einfachen Diebstahls verurteilte» von 79116 auf 69 241 gesunken, und ebenso verhält es sich mit der Bewegung der übrigen Arten des Diebstahls. Da wir hier keine Darstellung der deutschen Kriminal¬ statistik zu geben beabsichtigen, sondern lediglich die Aufmerksamkeit auf den gewaltigen Umfang und die übermüßige Ausdehnung der Antastungen des Leibes und Lebens lenken wollen, so sehen wir von einer weitern Mitteilung statistischer Angaben ab und können dies umsomehr, als aus den voranstehenden in völlig ausreichender Weise die Thatsache hervorgeht, daß die gegenwärtige Menge der Körperverletzungen zu keiner frühern Zeit auch nur annähernd erreicht wurde. Geht die Bewegung der Körperverletzungen in der bisherigen Weise weiter, so wird mit der Zeit das Messer in Deutschland dieselbe Rolle spielen wie in Amerika, und während der Strafvollzug ängstlich bemüht ist, den Übelthäter, der das Leben und die Gesundheit seines Nebenmenschen geringer achtet als einen Schnaps, mit Glaceehandschuhen anzufassen und um jede« Preis zu ver¬ meiden, daß die Strafe auf den Bestraften als Übel und Pein wirke, nimmt die Schutzlosigkeit des wichtigsten aller Rechtsgüter und die öffentliche Rechts¬ unsicherheit über Hand, und immer dringender wird der Hilferuf der Gesell¬ schaft, welche sich den wüsten Ausschreitungen roher Gesellen preisgegeben sieht. Es ist nicht schwierig, die Gründe anzugeben, auf welchen diese be¬ klagenswerte Erscheinung beruht; freilich muß man sich bei der Aufdeckung derselben der Gefahr aussetzen, als „Reaktionär" verschrieen zu werden, weil man dabei in der gegenwärtigen Rechtspflege nicht alles vollkommen und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/483>, abgerufen am 03.07.2024.