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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Toynbee-Hall.

bition. Seitdem wurde" die Ausstellungen stets zu Ostern wiederholt. All¬
jährlich locken sie Menschenstrome aus West-Loudon herbei; unter den Besuchern
sieht man nicht wenige Kunstschüler aus South-Kensington: ein gutes Zeichen
für die künstlerische Stufe der Ausstellungen.

Wie war es möglich, daß Barret in so kurzer Zeit seinen Plan zu glän¬
zender Ausführung brachte? Als Vertreter des Ostens hatte er sich mit drin¬
genden Worten an Künstler und Kunstbesitzcr gewandt, und es ist ein schönes
Zeichen des in jenen Kreisen herrschenden Gemeinsinnes, daß er für seine Bitten
Gehör fand. Nicht ohne eine gewisse Besorgnis mag sich, besonders das erste¬
mal, mancher Eigentümer von seinen Lieblingen getrennt haben; trotzdem fand
sich von vornherein eine genügende Zahl von Männern bereit, ihre Kunstwerke
für einige Zeit leihweise der Se. Judasschnle zu überlassen. Bei der Art des
Publikums, das die Hauptmasse der Besucher bildet, ist die Sicherung der Kunst¬
werke keine leichte. Man braucht doppelt so viel Aufseher wie in andern Aus¬
stellungen. Nur unbezahlte Herren werden zu diesem Dienste angestellt. Ein
Hauptteil der Aufgabe fällt den Residenten von Toynbee-Hall zu, die Thür an
Thür mit der Judasschule wohnen. Daß ihre Pflichten nicht leicht sind, geht
schon ans ihren Vorschriften hervor: "sie sollen das Rauchen, das Berühren der
Bilder, lautes Geschwätz, Spielen von Kindern in den Räumlichkeiten verhindern,
den Verkehr der Menge aufrecht erhalten u. s. w."

Die Hauptzahl der Bilder ist natürlich neueren, englischen Ursprungs.
Ältere Bilder, obwohl vorhanden, sind für die Zwecke der Ausstellung weniger
geeignet. Nur der höher gebildete kann sich in die Empfindungsweise eines ver¬
gangenen Zeitalters zurückversetzen; den ungebildeten Betrachter werden neuere
Bilder stets mehr ansprechen. Besonders bevorzugen die Besucher der Aus¬
stellung in White-Chapel solche Bilder, die ihnen eine Geschichte erzählen:
Genrebilder, geschichtliche und Schlachtenbilder; daneben erfreuen sie farbcn-
glänzende Landschaften. Der Katalog ist dem Bedürfnis der Besucher ent¬
sprechend eingerichtet. Er unterscheidet sich dadurch von Katalogen andrer Aus¬
stellungen, daß er jede Nummer durch eine eingehendere Beschreibung oder
wenigstens ein Dichterwort erläutert. Eigentümlich berührte es mich, ans dem
Katalog von 1885 als Motto die Worte ans Platos Republik zu lesen: "Dem
jungen Bürger sollte es nicht erlaubt sei", aufzuwachsen unter Bildern des Übels,
damit seine Seele sich nicht die Häßlichkeit seiner Umgebung aneigne. Vielmehr
sollten sie wie Menschen sein, die in einer schönen und gesunden Gegend wohnen.
Von allem, was sie sehen und hören, sollte Lieblichkeit wie ein Windeshauch in
ihre Seelen strömen, und ihnen, ohne daß sie dieselbe kennen, die Wahrheit
lehren, deren Verkörpern"", die Schönheit ist." War es richtig, uns, den ge¬
bildeten Besucher -- denn für den ungebildeten wird das Wort wirkungslos
bleiben -- an das griechische Menschheitsideal zu erinnern, gerade an diesem
Ort und in dem Augenblick, in welchen: eine der einfachen Besucherinnen auf


Toynbee-Hall.

bition. Seitdem wurde» die Ausstellungen stets zu Ostern wiederholt. All¬
jährlich locken sie Menschenstrome aus West-Loudon herbei; unter den Besuchern
sieht man nicht wenige Kunstschüler aus South-Kensington: ein gutes Zeichen
für die künstlerische Stufe der Ausstellungen.

Wie war es möglich, daß Barret in so kurzer Zeit seinen Plan zu glän¬
zender Ausführung brachte? Als Vertreter des Ostens hatte er sich mit drin¬
genden Worten an Künstler und Kunstbesitzcr gewandt, und es ist ein schönes
Zeichen des in jenen Kreisen herrschenden Gemeinsinnes, daß er für seine Bitten
Gehör fand. Nicht ohne eine gewisse Besorgnis mag sich, besonders das erste¬
mal, mancher Eigentümer von seinen Lieblingen getrennt haben; trotzdem fand
sich von vornherein eine genügende Zahl von Männern bereit, ihre Kunstwerke
für einige Zeit leihweise der Se. Judasschnle zu überlassen. Bei der Art des
Publikums, das die Hauptmasse der Besucher bildet, ist die Sicherung der Kunst¬
werke keine leichte. Man braucht doppelt so viel Aufseher wie in andern Aus¬
stellungen. Nur unbezahlte Herren werden zu diesem Dienste angestellt. Ein
Hauptteil der Aufgabe fällt den Residenten von Toynbee-Hall zu, die Thür an
Thür mit der Judasschule wohnen. Daß ihre Pflichten nicht leicht sind, geht
schon ans ihren Vorschriften hervor: „sie sollen das Rauchen, das Berühren der
Bilder, lautes Geschwätz, Spielen von Kindern in den Räumlichkeiten verhindern,
den Verkehr der Menge aufrecht erhalten u. s. w."

Die Hauptzahl der Bilder ist natürlich neueren, englischen Ursprungs.
Ältere Bilder, obwohl vorhanden, sind für die Zwecke der Ausstellung weniger
geeignet. Nur der höher gebildete kann sich in die Empfindungsweise eines ver¬
gangenen Zeitalters zurückversetzen; den ungebildeten Betrachter werden neuere
Bilder stets mehr ansprechen. Besonders bevorzugen die Besucher der Aus¬
stellung in White-Chapel solche Bilder, die ihnen eine Geschichte erzählen:
Genrebilder, geschichtliche und Schlachtenbilder; daneben erfreuen sie farbcn-
glänzende Landschaften. Der Katalog ist dem Bedürfnis der Besucher ent¬
sprechend eingerichtet. Er unterscheidet sich dadurch von Katalogen andrer Aus¬
stellungen, daß er jede Nummer durch eine eingehendere Beschreibung oder
wenigstens ein Dichterwort erläutert. Eigentümlich berührte es mich, ans dem
Katalog von 1885 als Motto die Worte ans Platos Republik zu lesen: „Dem
jungen Bürger sollte es nicht erlaubt sei», aufzuwachsen unter Bildern des Übels,
damit seine Seele sich nicht die Häßlichkeit seiner Umgebung aneigne. Vielmehr
sollten sie wie Menschen sein, die in einer schönen und gesunden Gegend wohnen.
Von allem, was sie sehen und hören, sollte Lieblichkeit wie ein Windeshauch in
ihre Seelen strömen, und ihnen, ohne daß sie dieselbe kennen, die Wahrheit
lehren, deren Verkörpern««, die Schönheit ist." War es richtig, uns, den ge¬
bildeten Besucher — denn für den ungebildeten wird das Wort wirkungslos
bleiben — an das griechische Menschheitsideal zu erinnern, gerade an diesem
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/478>, abgerufen am 23.12.2024.