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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Jugenderinnerungen.
von Ernst Willkomm. (Fortsetzung.)

is mein älterer Bruder und ich ungefähr tels schulfähige Alter
erreicht hatten, unterrichtete uns der Vater, der als gewesener
Hauslehrer sich Übung darin erworben hatte, selbst. Ungeachtet
der vielen Amtsgeschäfte und der zahllosen Predigten und Ge¬
legenheitsreden, die er jahraus jahrein halten mußte, fand er doch
Zeit, des Vormittags zwei Stunden zu diesem Zwecke zu widmen. Seine Art,
uns die ersten Anfangsgrllude beizubringen, war bequem und leicht faßlich, sodaß
wir rasch vorwärts kamen und alle Kinder in der Dorfschule selbstverständlich
weit überflügelten. Zufällig bemerkte dies mit lächelndem Wohlgefallen ein
angesehener Bauer, der eiues Tages gerade während unsrer Schulzeit deu
Vater besuchte, da er irgendetwas mit ihm zu sprechen hatte. Weder wir noch
der Vater ließen uns durch solche Besuche stören, da sie fast an der Tages¬
ordnung waren und nicht abgewiesen werden konnten. Diesem Manne mochte
die Fertigkeit, mit der wir lasen, nicht weniger unsre gewiß nur sehr geringe
Kenntniß im Schreiben und Rechnen höchlichst imponiren. Sein eignes Wissen
war nicht von Belang, aber er besaß praktischen Verstand, hatte ein gesundes
Urteil und sah deshalb ein, daß es vorteilhaft sein müsse, sich unter veränderten
Verhältnissen etwas mehr Kenntnisse zu erwerben. In der Schule -- das
bevölkerte Dorf besaß der Schulen zwei -- war daran nicht zu denken, da
Knaben und Mädchen zusammen unterrichtet wurden, diese ganze Arbeit auf
den Schultern eines einzigen Lehrers lag und dieser auf die Schwachen, oft
auch auf die Säumigen Rücksicht nehmen mußte. Mehr als eine sehr mäßige
Durchschnittsbildung, wie sie zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in allen
Dorfschulen üblich war, ließ sich für die Gesamtheit aller Schüler nicht erzielen.




Jugenderinnerungen.
von Ernst Willkomm. (Fortsetzung.)

is mein älterer Bruder und ich ungefähr tels schulfähige Alter
erreicht hatten, unterrichtete uns der Vater, der als gewesener
Hauslehrer sich Übung darin erworben hatte, selbst. Ungeachtet
der vielen Amtsgeschäfte und der zahllosen Predigten und Ge¬
legenheitsreden, die er jahraus jahrein halten mußte, fand er doch
Zeit, des Vormittags zwei Stunden zu diesem Zwecke zu widmen. Seine Art,
uns die ersten Anfangsgrllude beizubringen, war bequem und leicht faßlich, sodaß
wir rasch vorwärts kamen und alle Kinder in der Dorfschule selbstverständlich
weit überflügelten. Zufällig bemerkte dies mit lächelndem Wohlgefallen ein
angesehener Bauer, der eiues Tages gerade während unsrer Schulzeit deu
Vater besuchte, da er irgendetwas mit ihm zu sprechen hatte. Weder wir noch
der Vater ließen uns durch solche Besuche stören, da sie fast an der Tages¬
ordnung waren und nicht abgewiesen werden konnten. Diesem Manne mochte
die Fertigkeit, mit der wir lasen, nicht weniger unsre gewiß nur sehr geringe
Kenntniß im Schreiben und Rechnen höchlichst imponiren. Sein eignes Wissen
war nicht von Belang, aber er besaß praktischen Verstand, hatte ein gesundes
Urteil und sah deshalb ein, daß es vorteilhaft sein müsse, sich unter veränderten
Verhältnissen etwas mehr Kenntnisse zu erwerben. In der Schule — das
bevölkerte Dorf besaß der Schulen zwei — war daran nicht zu denken, da
Knaben und Mädchen zusammen unterrichtet wurden, diese ganze Arbeit auf
den Schultern eines einzigen Lehrers lag und dieser auf die Schwachen, oft
auch auf die Säumigen Rücksicht nehmen mußte. Mehr als eine sehr mäßige
Durchschnittsbildung, wie sie zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in allen
Dorfschulen üblich war, ließ sich für die Gesamtheit aller Schüler nicht erzielen.


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[0394] [Abbildung] Jugenderinnerungen. von Ernst Willkomm. (Fortsetzung.) is mein älterer Bruder und ich ungefähr tels schulfähige Alter erreicht hatten, unterrichtete uns der Vater, der als gewesener Hauslehrer sich Übung darin erworben hatte, selbst. Ungeachtet der vielen Amtsgeschäfte und der zahllosen Predigten und Ge¬ legenheitsreden, die er jahraus jahrein halten mußte, fand er doch Zeit, des Vormittags zwei Stunden zu diesem Zwecke zu widmen. Seine Art, uns die ersten Anfangsgrllude beizubringen, war bequem und leicht faßlich, sodaß wir rasch vorwärts kamen und alle Kinder in der Dorfschule selbstverständlich weit überflügelten. Zufällig bemerkte dies mit lächelndem Wohlgefallen ein angesehener Bauer, der eiues Tages gerade während unsrer Schulzeit deu Vater besuchte, da er irgendetwas mit ihm zu sprechen hatte. Weder wir noch der Vater ließen uns durch solche Besuche stören, da sie fast an der Tages¬ ordnung waren und nicht abgewiesen werden konnten. Diesem Manne mochte die Fertigkeit, mit der wir lasen, nicht weniger unsre gewiß nur sehr geringe Kenntniß im Schreiben und Rechnen höchlichst imponiren. Sein eignes Wissen war nicht von Belang, aber er besaß praktischen Verstand, hatte ein gesundes Urteil und sah deshalb ein, daß es vorteilhaft sein müsse, sich unter veränderten Verhältnissen etwas mehr Kenntnisse zu erwerben. In der Schule — das bevölkerte Dorf besaß der Schulen zwei — war daran nicht zu denken, da Knaben und Mädchen zusammen unterrichtet wurden, diese ganze Arbeit auf den Schultern eines einzigen Lehrers lag und dieser auf die Schwachen, oft auch auf die Säumigen Rücksicht nehmen mußte. Mehr als eine sehr mäßige Durchschnittsbildung, wie sie zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in allen Dorfschulen üblich war, ließ sich für die Gesamtheit aller Schüler nicht erzielen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/394>, abgerufen am 29.06.2024.