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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Französische Lharakterköpfe.

Taines Geschichtswerk wird eine epochemachende Arbeit bleiben, wir zweifeln
aber, daß seine Methode, Geschichte zu schreiben, die richtige oder, besser gesagt,
die geschichtlichste sei. Sie bietet Vorzüge dar, welche andern, namentlich der
des Jdealphilosophen, nicht eigen sind, sie giebt aber auch kein wahrheitsgetreues
Bild der geschichtlichen Vorgänge, weil sie alles verallgemeinert, weil sie allge¬
mein giltige Gesetze aus diesen ableiten muß, weil sie dem lebendigen Einwirken
des individuellen Geistes und Charakters zu wenig Rechnung trägt. Die
Wissenschaft kann uns die materiellen Vorgänge beim Denken und geistigen
Schaffen erklären, sie wird uns niemals alle Eigentümlichkeiten dieser Funktionen
des Gehirns beim gegebenen Individuum zeigen und uns das Wie und Warum
dieser Eigentümlichkeiten nachweisen. Gewiß wird Taines Methode der Ge¬
schichte große Dienste leisten und die Geschichtschreibung vervollkommnen helfen,
niemals aber wird bei ihrem Ausschluß aller Leben und Wahrheit wieder¬
gebenden Hilfsmittel, jeder Versenkung des Geschichtschreibers in die Persönlich¬
keiten und Zeiten der Geschichte, damit eine "Geschichte" entstehen. Wir er¬
blicken in dem Geschichtschreiber den objektiven und unparteiischen Zuschauer,
der die an ihn: vorüberrvllenden Ereignisse einer näheren oder entlegneren Zeit
aufzeichnet, die von ihm behandelte Zeit mitlebt und seine Leser mitleben läßt,
nicht den kalten Anatomen, der uns die Menschheit am Leichname demonstrirt
und uns sagt: das war der Mechanismus des Herzschlags und dies die Ma¬
schinerie des Denkvermögens.

Wir haben gesagt, daß Taine in seinem Geschichtswerke seine Individualität
ganz in den Hintergrund drängt, sich ängstlich hütet, eine persönliche Ansicht
auszusprechen, sich durch den Abscheu vor dem zu erzählenden Ereignis, durch
die Bewunderung vor dem zu schildernden Charakter zu einer Äußerung der
Zuneigung oder Abneigung, zu einem warmen Worte hinreißen zu lassen, daß
er sich bemüht, sich jene Gefühllosigkeit zu bewahren, mit der der Anatom die
Sezirung seines Freundes und die des gewöhnlichsten Amphitheatermaterials
ohne Namen und Individualität vornimmt. Man bedauert dies in diesem
trostlos pessimistischen Werke umsomehr, als Taine, als Stilist betrachtet, seiner
Eigenschaft als Franzose treu in seinen andern Schriften auf den Stil ein
Hauptgewicht legt. Der Schönschreiber Buffon, der jedenfalls mit dem Ver¬
fasser der "Ursprünge Frankreichs" nichts geniein hat, konnte in seiner Eitel¬
keit das Wort aussprechen: Jto 8tM e'v8t> 1'Qonrinö. Taine führt diese These
weiter ans und schreibt in einem feinen und gefeilten, nicht schönrednerischen,
immer aber dem Gegenstande angepaßten und seiner eignen Individualität ent¬
fließenden Stile: "Nach dem Stil beurteilt man einen Geist, der Stil enthüllt
dessen vorherrschende Eigenschaften; der Stil giebt das Maß seiner Kraft und
seiner Schwäche und läßt damit seine Macht und seine Irrtümer voraussehen.
Denn was ist der Stil anders als der gewohnte Ton? Und was bestimmt
diesen Ton, wenn nicht der gewöhnliche Zustand des Geistes? Sobald man


Französische Lharakterköpfe.

Taines Geschichtswerk wird eine epochemachende Arbeit bleiben, wir zweifeln
aber, daß seine Methode, Geschichte zu schreiben, die richtige oder, besser gesagt,
die geschichtlichste sei. Sie bietet Vorzüge dar, welche andern, namentlich der
des Jdealphilosophen, nicht eigen sind, sie giebt aber auch kein wahrheitsgetreues
Bild der geschichtlichen Vorgänge, weil sie alles verallgemeinert, weil sie allge¬
mein giltige Gesetze aus diesen ableiten muß, weil sie dem lebendigen Einwirken
des individuellen Geistes und Charakters zu wenig Rechnung trägt. Die
Wissenschaft kann uns die materiellen Vorgänge beim Denken und geistigen
Schaffen erklären, sie wird uns niemals alle Eigentümlichkeiten dieser Funktionen
des Gehirns beim gegebenen Individuum zeigen und uns das Wie und Warum
dieser Eigentümlichkeiten nachweisen. Gewiß wird Taines Methode der Ge¬
schichte große Dienste leisten und die Geschichtschreibung vervollkommnen helfen,
niemals aber wird bei ihrem Ausschluß aller Leben und Wahrheit wieder¬
gebenden Hilfsmittel, jeder Versenkung des Geschichtschreibers in die Persönlich¬
keiten und Zeiten der Geschichte, damit eine „Geschichte" entstehen. Wir er¬
blicken in dem Geschichtschreiber den objektiven und unparteiischen Zuschauer,
der die an ihn: vorüberrvllenden Ereignisse einer näheren oder entlegneren Zeit
aufzeichnet, die von ihm behandelte Zeit mitlebt und seine Leser mitleben läßt,
nicht den kalten Anatomen, der uns die Menschheit am Leichname demonstrirt
und uns sagt: das war der Mechanismus des Herzschlags und dies die Ma¬
schinerie des Denkvermögens.

Wir haben gesagt, daß Taine in seinem Geschichtswerke seine Individualität
ganz in den Hintergrund drängt, sich ängstlich hütet, eine persönliche Ansicht
auszusprechen, sich durch den Abscheu vor dem zu erzählenden Ereignis, durch
die Bewunderung vor dem zu schildernden Charakter zu einer Äußerung der
Zuneigung oder Abneigung, zu einem warmen Worte hinreißen zu lassen, daß
er sich bemüht, sich jene Gefühllosigkeit zu bewahren, mit der der Anatom die
Sezirung seines Freundes und die des gewöhnlichsten Amphitheatermaterials
ohne Namen und Individualität vornimmt. Man bedauert dies in diesem
trostlos pessimistischen Werke umsomehr, als Taine, als Stilist betrachtet, seiner
Eigenschaft als Franzose treu in seinen andern Schriften auf den Stil ein
Hauptgewicht legt. Der Schönschreiber Buffon, der jedenfalls mit dem Ver¬
fasser der „Ursprünge Frankreichs" nichts geniein hat, konnte in seiner Eitel¬
keit das Wort aussprechen: Jto 8tM e'v8t> 1'Qonrinö. Taine führt diese These
weiter ans und schreibt in einem feinen und gefeilten, nicht schönrednerischen,
immer aber dem Gegenstande angepaßten und seiner eignen Individualität ent¬
fließenden Stile: „Nach dem Stil beurteilt man einen Geist, der Stil enthüllt
dessen vorherrschende Eigenschaften; der Stil giebt das Maß seiner Kraft und
seiner Schwäche und läßt damit seine Macht und seine Irrtümer voraussehen.
Denn was ist der Stil anders als der gewohnte Ton? Und was bestimmt
diesen Ton, wenn nicht der gewöhnliche Zustand des Geistes? Sobald man


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[0382] Französische Lharakterköpfe. Taines Geschichtswerk wird eine epochemachende Arbeit bleiben, wir zweifeln aber, daß seine Methode, Geschichte zu schreiben, die richtige oder, besser gesagt, die geschichtlichste sei. Sie bietet Vorzüge dar, welche andern, namentlich der des Jdealphilosophen, nicht eigen sind, sie giebt aber auch kein wahrheitsgetreues Bild der geschichtlichen Vorgänge, weil sie alles verallgemeinert, weil sie allge¬ mein giltige Gesetze aus diesen ableiten muß, weil sie dem lebendigen Einwirken des individuellen Geistes und Charakters zu wenig Rechnung trägt. Die Wissenschaft kann uns die materiellen Vorgänge beim Denken und geistigen Schaffen erklären, sie wird uns niemals alle Eigentümlichkeiten dieser Funktionen des Gehirns beim gegebenen Individuum zeigen und uns das Wie und Warum dieser Eigentümlichkeiten nachweisen. Gewiß wird Taines Methode der Ge¬ schichte große Dienste leisten und die Geschichtschreibung vervollkommnen helfen, niemals aber wird bei ihrem Ausschluß aller Leben und Wahrheit wieder¬ gebenden Hilfsmittel, jeder Versenkung des Geschichtschreibers in die Persönlich¬ keiten und Zeiten der Geschichte, damit eine „Geschichte" entstehen. Wir er¬ blicken in dem Geschichtschreiber den objektiven und unparteiischen Zuschauer, der die an ihn: vorüberrvllenden Ereignisse einer näheren oder entlegneren Zeit aufzeichnet, die von ihm behandelte Zeit mitlebt und seine Leser mitleben läßt, nicht den kalten Anatomen, der uns die Menschheit am Leichname demonstrirt und uns sagt: das war der Mechanismus des Herzschlags und dies die Ma¬ schinerie des Denkvermögens. Wir haben gesagt, daß Taine in seinem Geschichtswerke seine Individualität ganz in den Hintergrund drängt, sich ängstlich hütet, eine persönliche Ansicht auszusprechen, sich durch den Abscheu vor dem zu erzählenden Ereignis, durch die Bewunderung vor dem zu schildernden Charakter zu einer Äußerung der Zuneigung oder Abneigung, zu einem warmen Worte hinreißen zu lassen, daß er sich bemüht, sich jene Gefühllosigkeit zu bewahren, mit der der Anatom die Sezirung seines Freundes und die des gewöhnlichsten Amphitheatermaterials ohne Namen und Individualität vornimmt. Man bedauert dies in diesem trostlos pessimistischen Werke umsomehr, als Taine, als Stilist betrachtet, seiner Eigenschaft als Franzose treu in seinen andern Schriften auf den Stil ein Hauptgewicht legt. Der Schönschreiber Buffon, der jedenfalls mit dem Ver¬ fasser der „Ursprünge Frankreichs" nichts geniein hat, konnte in seiner Eitel¬ keit das Wort aussprechen: Jto 8tM e'v8t> 1'Qonrinö. Taine führt diese These weiter ans und schreibt in einem feinen und gefeilten, nicht schönrednerischen, immer aber dem Gegenstande angepaßten und seiner eignen Individualität ent¬ fließenden Stile: „Nach dem Stil beurteilt man einen Geist, der Stil enthüllt dessen vorherrschende Eigenschaften; der Stil giebt das Maß seiner Kraft und seiner Schwäche und läßt damit seine Macht und seine Irrtümer voraussehen. Denn was ist der Stil anders als der gewohnte Ton? Und was bestimmt diesen Ton, wenn nicht der gewöhnliche Zustand des Geistes? Sobald man

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/382>, abgerufen am 22.07.2024.