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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Friedrich hebbels Tagebücher von ^8^2 bis ^863.

immer ein wenig besticht, bei Gelegenheit meiner ausgesprochen worden wären.
Fahren Sie fort, sich in dies Mysterium, in dem alle andern, welche die Welt
darbietet, mit enthalten sind, zu vertiefen, und besorgen Sie nicht, von der
Afterkritik des Tages erschreckt, ihre Naivität dadurch zu verlieren. Die Phantasie
bleibt ewig jungfräulich, und auch der größte Physiolog zeugt seine Kinder im
Traum." Dieser Überzeugung entspricht auch die mächtige und bündige Aus¬
einandersetzung, welche (an Siegmund Engländer gerichtet) Hebbel am 1. Mai 1863
im "Tagebuch" einzeichnet und welche noch einmal sein ganzes Glaubensbekenntnis
über die Poesie zusammenfaßt: "Sie werden überhaupt finden, um tiefer auf-
zugreifen, daß die Lebensprozesse nichts mit dem Bewußtsein zu thun haben,
und die künstlerische Zeugung ist der höchste von allen; sie unterscheiden sich ja
eben dadurch von den logischen, daß man sie absolut nicht auf bestimmte
Faktoren zurückführen kann. Wer hat das Werden je in irgendeiner seiner
Phasen belauscht, und was hat die Befruchtungstheorie der Physiologie trotz
der mikroskopisch genanen Beschreibung des arbeitenden Apparats für die Lösung
des Gruudgeheimuisses gethan? Kann sie auch nur einen Buckel erklären?
Dagegen kann es keine Kombination geben, die nicht in allen ihren Schlangen¬
windungen zu verfolgen und endlich aufzulösen wäre, das Weltgebäude ist uns
erschlossen, zum Tanz der Himmelskörper könne" wir allenfalls die Geige streichen,
aber der sprossende Halm ist uns ein Rätsel und wird es ewig bleiben. Sie
hätten daher vollkommen Recht, Newton auszulachen, wenn er das naive Kind
spielen und behaupten wollte, der fallende Apfel habe ihn mit dem Gravitations¬
system inspirirt, während er ihm recht gern den ersten Anstoß zum Reflektiren
über den Gegenstand gegeben haben kann, während Sie Dante zu nahe treten
würden, wenn Sie es bezweifeln wollten, daß ihm Himmel und Hölle zugleich
beim Anblick eines halb hellen, halb dunkeln Waldes in kolossalen Umrissen vor
der Seele aufgestiegen seien. Denn Systeme werden nicht erträumt, Kunstwerke
aber auch nicht errechnet oder, was auf das nämliche hinausläuft, da das
Denken nur ein höheres Rechnen ist, erdacht. Die künstlerische Phantasie ist
eben das Organ, welches diejenigen Tiefen der Welt erschöpft, die den übrigen
Fakultäten unzugänglich siud, und meine Anschanungsweise setzt demnach an die
Stelle eines falschen Realismus, der den Teil für das Ganze nimmt, mir den
wahren, der auch das mit umfaßt, was nicht ans der Oberfläche liegt."

Wir können hier abbrechen, denn die Fülle der Anschauungen und zugleich
die Tiefe, welche Friedrich Hebbel eigen waren, spiegeln sich wundersam i"
diesen wenigen Sätzen. Die deutsche Literatur war von jeher diejenige der
großen Individualitäten, in denen sich die ursprüngliche Macht des Talents
und der unablässige Drang der Vervollkommung begegnen. Friedrich Hebbels
"Tagebücher" sind samt seinen poetischen Werken ein Zeugnis dafür, daß diese
großen Individualitäten auch in der jüngsten Vergangenheit noch gediehen.
Was die verzerrte und bis zur Abgeschmacktheit "aktuell" gewordne Literatur


Friedrich hebbels Tagebücher von ^8^2 bis ^863.

immer ein wenig besticht, bei Gelegenheit meiner ausgesprochen worden wären.
Fahren Sie fort, sich in dies Mysterium, in dem alle andern, welche die Welt
darbietet, mit enthalten sind, zu vertiefen, und besorgen Sie nicht, von der
Afterkritik des Tages erschreckt, ihre Naivität dadurch zu verlieren. Die Phantasie
bleibt ewig jungfräulich, und auch der größte Physiolog zeugt seine Kinder im
Traum." Dieser Überzeugung entspricht auch die mächtige und bündige Aus¬
einandersetzung, welche (an Siegmund Engländer gerichtet) Hebbel am 1. Mai 1863
im „Tagebuch" einzeichnet und welche noch einmal sein ganzes Glaubensbekenntnis
über die Poesie zusammenfaßt: „Sie werden überhaupt finden, um tiefer auf-
zugreifen, daß die Lebensprozesse nichts mit dem Bewußtsein zu thun haben,
und die künstlerische Zeugung ist der höchste von allen; sie unterscheiden sich ja
eben dadurch von den logischen, daß man sie absolut nicht auf bestimmte
Faktoren zurückführen kann. Wer hat das Werden je in irgendeiner seiner
Phasen belauscht, und was hat die Befruchtungstheorie der Physiologie trotz
der mikroskopisch genanen Beschreibung des arbeitenden Apparats für die Lösung
des Gruudgeheimuisses gethan? Kann sie auch nur einen Buckel erklären?
Dagegen kann es keine Kombination geben, die nicht in allen ihren Schlangen¬
windungen zu verfolgen und endlich aufzulösen wäre, das Weltgebäude ist uns
erschlossen, zum Tanz der Himmelskörper könne» wir allenfalls die Geige streichen,
aber der sprossende Halm ist uns ein Rätsel und wird es ewig bleiben. Sie
hätten daher vollkommen Recht, Newton auszulachen, wenn er das naive Kind
spielen und behaupten wollte, der fallende Apfel habe ihn mit dem Gravitations¬
system inspirirt, während er ihm recht gern den ersten Anstoß zum Reflektiren
über den Gegenstand gegeben haben kann, während Sie Dante zu nahe treten
würden, wenn Sie es bezweifeln wollten, daß ihm Himmel und Hölle zugleich
beim Anblick eines halb hellen, halb dunkeln Waldes in kolossalen Umrissen vor
der Seele aufgestiegen seien. Denn Systeme werden nicht erträumt, Kunstwerke
aber auch nicht errechnet oder, was auf das nämliche hinausläuft, da das
Denken nur ein höheres Rechnen ist, erdacht. Die künstlerische Phantasie ist
eben das Organ, welches diejenigen Tiefen der Welt erschöpft, die den übrigen
Fakultäten unzugänglich siud, und meine Anschanungsweise setzt demnach an die
Stelle eines falschen Realismus, der den Teil für das Ganze nimmt, mir den
wahren, der auch das mit umfaßt, was nicht ans der Oberfläche liegt."

Wir können hier abbrechen, denn die Fülle der Anschauungen und zugleich
die Tiefe, welche Friedrich Hebbel eigen waren, spiegeln sich wundersam i»
diesen wenigen Sätzen. Die deutsche Literatur war von jeher diejenige der
großen Individualitäten, in denen sich die ursprüngliche Macht des Talents
und der unablässige Drang der Vervollkommung begegnen. Friedrich Hebbels
„Tagebücher" sind samt seinen poetischen Werken ein Zeugnis dafür, daß diese
großen Individualitäten auch in der jüngsten Vergangenheit noch gediehen.
Was die verzerrte und bis zur Abgeschmacktheit „aktuell" gewordne Literatur


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/37>, abgerufen am 01.07.2024.