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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Toynbee-Hall.

lesuugsraume. Wir haben den Abend für unsern Besuch in Toynbee-Hall gut
gewählt. Man hat für heute die Looporators, d. h. die Mitglieder der Koope¬
rationsvereine des Bezirkes, eingeladen. Diese Vereine entsprechen ihrer wirt¬
schaftlichen Bedeutung nach unsern deutschen "eingeschriebenen Genossenschaften."
Ihr Zweck ist, durch gemeinsame Anschaffungen den Gewinn des Zwischen¬
händlers oder durch gemeinsame Produktion den Gewinn, der dem Unternehmer
zufallen würde, auf die Mitglieder der Gesellschaft zu verteilen und dadurch
deren wirtschaftliche Lage zu heben. Derartige Vereine spielen in England eine
größere Rolle als bei uns'"); ihre Entwicklung wird von Toynbee-Hall in seinem
Bezirke möglichst begünstigt. Insbesondre knüpft man an die durchaus gesunde
Bestrebung dieser Vereine an, sich zu vollständigen Lebensgemeinschaften zu er¬
weitern, ähnlich wie mittelalterliche Zünfte wahre <üonkrg.törniKtvL waren, die
neben andern Zwecken auch für Vergnügen und Geselligkeit ihrer Mitglieder sorgten.

Für den heutigen Abend hat man einen Herrn, der Vorstand solcher Ver¬
eine in Nvrdcngland ist und sich zur Zeit als Parlamentsmitglied in London
befindet, bewogen, über die Fortschritte des Genossenschaftswesens in seiner
Heimat zu berichten. Die Mitteilungen, großenteils statistischer Natur, be¬
handeln die Ausdehnung und Organisation der nordenglischen Vereine und
haben außerordentliches praktisches Interesse. Die Zuhörer bestehen zur Hälfte
aus Männern, zur Hälfte aus Frauen, denn der Gegenstand ist ja für den
Haushalt von größter Wichtigkeit.

Welcher Klasse die Mehrzahl der Besucher angehört, kaun man daraus
entnehmen, daß mich das künftige Geschlecht nicht unvertreten ist; manchmal
macht sich trotz aller Vcschwichtiguugsversuche eiuer der kleinen Welt¬
bürger vernehmbar. Die Mutter hat ihn mitbringen müssen, weil sie nicht
wußte, wo sie ihn sonst lassen sollte. Trotzdem ist das Interesse ununterbrochen
rege; an den Vortrag knüpfen sich noch verschiedne Fragen, nach deren Er¬
ledigung dem Redner für seine belehrenden Mitteilungen lebhafter Dank zu
Teil wird.

Im weiter" Verlaufe des Abends bildet der Gesellschaftssaal den Mittel-
Punkt. Er ist sehr geräumig. Wenn auch nicht eben verschwenderisch einge¬
richtet, entbehrt er doch nicht jener Behaglichkeit, die dem englischen ora-ving--
Loorir eigen zu sein Pflegt. Da die eingeladenen Gäste von den häufigen
Vereiuszusammcuküuftcu einander alle persönlich gut bekannt sind, so mangelt
es nicht an Stoff für geselliges Gespräch. Auch an sonstiger Unterhaltung
fehlt es uicht. Freilich vernehmen wir keine hochtönenden Künstlernamen wie
im Westen, sondern Freiwillige aus der Gesellschaft treten vor. Gesang wechselt
mit Vortrügen auf dem Klavier und der Geige. Besonders erinnerlich ist mir



*) Von besondrer Bedeutung sür die Ausbreitung der Gcuvsseiischaften war die christlich-
svziale Bewegung der fünfziger Jahre.
Toynbee-Hall.

lesuugsraume. Wir haben den Abend für unsern Besuch in Toynbee-Hall gut
gewählt. Man hat für heute die Looporators, d. h. die Mitglieder der Koope¬
rationsvereine des Bezirkes, eingeladen. Diese Vereine entsprechen ihrer wirt¬
schaftlichen Bedeutung nach unsern deutschen „eingeschriebenen Genossenschaften."
Ihr Zweck ist, durch gemeinsame Anschaffungen den Gewinn des Zwischen¬
händlers oder durch gemeinsame Produktion den Gewinn, der dem Unternehmer
zufallen würde, auf die Mitglieder der Gesellschaft zu verteilen und dadurch
deren wirtschaftliche Lage zu heben. Derartige Vereine spielen in England eine
größere Rolle als bei uns'"); ihre Entwicklung wird von Toynbee-Hall in seinem
Bezirke möglichst begünstigt. Insbesondre knüpft man an die durchaus gesunde
Bestrebung dieser Vereine an, sich zu vollständigen Lebensgemeinschaften zu er¬
weitern, ähnlich wie mittelalterliche Zünfte wahre <üonkrg.törniKtvL waren, die
neben andern Zwecken auch für Vergnügen und Geselligkeit ihrer Mitglieder sorgten.

Für den heutigen Abend hat man einen Herrn, der Vorstand solcher Ver¬
eine in Nvrdcngland ist und sich zur Zeit als Parlamentsmitglied in London
befindet, bewogen, über die Fortschritte des Genossenschaftswesens in seiner
Heimat zu berichten. Die Mitteilungen, großenteils statistischer Natur, be¬
handeln die Ausdehnung und Organisation der nordenglischen Vereine und
haben außerordentliches praktisches Interesse. Die Zuhörer bestehen zur Hälfte
aus Männern, zur Hälfte aus Frauen, denn der Gegenstand ist ja für den
Haushalt von größter Wichtigkeit.

Welcher Klasse die Mehrzahl der Besucher angehört, kaun man daraus
entnehmen, daß mich das künftige Geschlecht nicht unvertreten ist; manchmal
macht sich trotz aller Vcschwichtiguugsversuche eiuer der kleinen Welt¬
bürger vernehmbar. Die Mutter hat ihn mitbringen müssen, weil sie nicht
wußte, wo sie ihn sonst lassen sollte. Trotzdem ist das Interesse ununterbrochen
rege; an den Vortrag knüpfen sich noch verschiedne Fragen, nach deren Er¬
ledigung dem Redner für seine belehrenden Mitteilungen lebhafter Dank zu
Teil wird.

Im weiter» Verlaufe des Abends bildet der Gesellschaftssaal den Mittel-
Punkt. Er ist sehr geräumig. Wenn auch nicht eben verschwenderisch einge¬
richtet, entbehrt er doch nicht jener Behaglichkeit, die dem englischen ora-ving--
Loorir eigen zu sein Pflegt. Da die eingeladenen Gäste von den häufigen
Vereiuszusammcuküuftcu einander alle persönlich gut bekannt sind, so mangelt
es nicht an Stoff für geselliges Gespräch. Auch an sonstiger Unterhaltung
fehlt es uicht. Freilich vernehmen wir keine hochtönenden Künstlernamen wie
im Westen, sondern Freiwillige aus der Gesellschaft treten vor. Gesang wechselt
mit Vortrügen auf dem Klavier und der Geige. Besonders erinnerlich ist mir



*) Von besondrer Bedeutung sür die Ausbreitung der Gcuvsseiischaften war die christlich-
svziale Bewegung der fünfziger Jahre.
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[0319] Toynbee-Hall. lesuugsraume. Wir haben den Abend für unsern Besuch in Toynbee-Hall gut gewählt. Man hat für heute die Looporators, d. h. die Mitglieder der Koope¬ rationsvereine des Bezirkes, eingeladen. Diese Vereine entsprechen ihrer wirt¬ schaftlichen Bedeutung nach unsern deutschen „eingeschriebenen Genossenschaften." Ihr Zweck ist, durch gemeinsame Anschaffungen den Gewinn des Zwischen¬ händlers oder durch gemeinsame Produktion den Gewinn, der dem Unternehmer zufallen würde, auf die Mitglieder der Gesellschaft zu verteilen und dadurch deren wirtschaftliche Lage zu heben. Derartige Vereine spielen in England eine größere Rolle als bei uns'"); ihre Entwicklung wird von Toynbee-Hall in seinem Bezirke möglichst begünstigt. Insbesondre knüpft man an die durchaus gesunde Bestrebung dieser Vereine an, sich zu vollständigen Lebensgemeinschaften zu er¬ weitern, ähnlich wie mittelalterliche Zünfte wahre <üonkrg.törniKtvL waren, die neben andern Zwecken auch für Vergnügen und Geselligkeit ihrer Mitglieder sorgten. Für den heutigen Abend hat man einen Herrn, der Vorstand solcher Ver¬ eine in Nvrdcngland ist und sich zur Zeit als Parlamentsmitglied in London befindet, bewogen, über die Fortschritte des Genossenschaftswesens in seiner Heimat zu berichten. Die Mitteilungen, großenteils statistischer Natur, be¬ handeln die Ausdehnung und Organisation der nordenglischen Vereine und haben außerordentliches praktisches Interesse. Die Zuhörer bestehen zur Hälfte aus Männern, zur Hälfte aus Frauen, denn der Gegenstand ist ja für den Haushalt von größter Wichtigkeit. Welcher Klasse die Mehrzahl der Besucher angehört, kaun man daraus entnehmen, daß mich das künftige Geschlecht nicht unvertreten ist; manchmal macht sich trotz aller Vcschwichtiguugsversuche eiuer der kleinen Welt¬ bürger vernehmbar. Die Mutter hat ihn mitbringen müssen, weil sie nicht wußte, wo sie ihn sonst lassen sollte. Trotzdem ist das Interesse ununterbrochen rege; an den Vortrag knüpfen sich noch verschiedne Fragen, nach deren Er¬ ledigung dem Redner für seine belehrenden Mitteilungen lebhafter Dank zu Teil wird. Im weiter» Verlaufe des Abends bildet der Gesellschaftssaal den Mittel- Punkt. Er ist sehr geräumig. Wenn auch nicht eben verschwenderisch einge¬ richtet, entbehrt er doch nicht jener Behaglichkeit, die dem englischen ora-ving-- Loorir eigen zu sein Pflegt. Da die eingeladenen Gäste von den häufigen Vereiuszusammcuküuftcu einander alle persönlich gut bekannt sind, so mangelt es nicht an Stoff für geselliges Gespräch. Auch an sonstiger Unterhaltung fehlt es uicht. Freilich vernehmen wir keine hochtönenden Künstlernamen wie im Westen, sondern Freiwillige aus der Gesellschaft treten vor. Gesang wechselt mit Vortrügen auf dem Klavier und der Geige. Besonders erinnerlich ist mir *) Von besondrer Bedeutung sür die Ausbreitung der Gcuvsseiischaften war die christlich- svziale Bewegung der fünfziger Jahre.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/319>, abgerufen am 22.07.2024.