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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Gymnasialuntcrricht und Fachbildung.

nungen genötigt werden, die Elemente der griechischen Sprache zu erlernen?
Oder will man sich noch immer mit der Rede täuschen, daß mancher Beamte
oder Arzt sein Lebenlang immer wieder die Alten zur Hand nehme, um sich
an ihnen zu erbauen, daß Homer, wie man gesagt hat, die Bibel der Gebildeten
sei? Über den Gebrauch, der nach dem Abiturientenexamen von den Klassikern
gemacht wird, möchten die Antiquare vielleicht die zuverlässigste Auskunft geben
können, und was Homer und die Bibel anlangt, so fürchte ich sehr, daß ihre
Vcrglcichbarteit darauf hinauskommt, daß Homer ebenso selten als die Bibel
in den Händen der Gebildeten zu finden ist."

Selbst wenn man sich die letztere etwas pessimistische Behauptung nicht
aneignet, so ist doch wohl so viel außer Zweifel, daß das Gymnasium den
Grad vou Lesefertigkeit -- und man könnte hinzusetzen, auch von Verständnis
des Altertums -- seinen Abiturienten nicht mit auf den Weg giebt, den es in
seinem Programm verheißen hat. Die Philologen werden vielleicht sagen:
Zugegeben! dies beweist eben nur, daß dem altsprachlichen Unterricht noch nicht
genug Zeit gewidmet ist, daß noch ein Lebensjahr, eine Art von Selekta, dem
Kursus hinzuzufügen wäre. Diese sachlich begründete Folgerung spricht am
deutlichsten für das Vorhandensein eines organischen Fehlers in der jetzigen
Einrichtung. Denn daß einer noch weitergehenden Bevorzugung des altsprach¬
lichen Unterrichts in Zukunft Rechnung getragen werden könnte, werden auch
die begeistertsten Humanisten nicht erwarten. Wenn also -- und das ist das
Ergebnis dieser Erörterung -- die humanistisch-philologische Bildung, wie sie
seit 1816 vielen als Ideal vorschwebt, mit dem verwendbaren Maß an Zeit
und Kräften doch nicht erzielt werden kann, so ist es besser, darauf zu verzichten,
und einen Bildungsgrad anzustreben, der schon deshalb den Vorzug verdient,
weil er erreichbar ist.

Wir sahen, daß weder die Realschule noch das Gymnasium, jedes auf seinem
Wege, den Forderungen des Programms entspricht. Die Anhänger der huma¬
nistischen Richtung sind gezwungen, zuzugeben, daß der altsprachliche Unterricht
nicht gründlich genng, ihre Gegner behaupten, daß zuviel davou getrieben werde.
Da eine prinzipielle Einigung nicht möglich und jeder Kompromiß eine halbe,
beide Parteien unbefriedigende Lösung ist, so bleibt nichts übrig, als die Auf¬
stellung eines neuen Lehrprinzips und, damit verbunden, eine Umwandlung des
Schulwesens überhaupt. Die bisherige" Vorschläge, die alle mehr oder weniger
daraus hinauslaufen, den altsprachlichen Unterricht zu Gunsten der realen Fächer
zu beschränken, oder aber eine der beiden klassischen Sprachen ganz oder teil¬
weise zu opfern, können nicht durchdringen, weil sie den gelehrten Schulen damit
unmittelbar oder mittelbar den Charakter von Fachschulen aufdrücken. Sie
ihres ethischen Bildungszweckes zu entkleiden, kann aber nicht in der Absicht
einer einsichtsvollen Schulverwaltung liegen. Auch wünscht das im Grunde
niemand, mit Ausnahme vielleicht der extremsten Realisten.


Gymnasialuntcrricht und Fachbildung.

nungen genötigt werden, die Elemente der griechischen Sprache zu erlernen?
Oder will man sich noch immer mit der Rede täuschen, daß mancher Beamte
oder Arzt sein Lebenlang immer wieder die Alten zur Hand nehme, um sich
an ihnen zu erbauen, daß Homer, wie man gesagt hat, die Bibel der Gebildeten
sei? Über den Gebrauch, der nach dem Abiturientenexamen von den Klassikern
gemacht wird, möchten die Antiquare vielleicht die zuverlässigste Auskunft geben
können, und was Homer und die Bibel anlangt, so fürchte ich sehr, daß ihre
Vcrglcichbarteit darauf hinauskommt, daß Homer ebenso selten als die Bibel
in den Händen der Gebildeten zu finden ist."

Selbst wenn man sich die letztere etwas pessimistische Behauptung nicht
aneignet, so ist doch wohl so viel außer Zweifel, daß das Gymnasium den
Grad vou Lesefertigkeit — und man könnte hinzusetzen, auch von Verständnis
des Altertums — seinen Abiturienten nicht mit auf den Weg giebt, den es in
seinem Programm verheißen hat. Die Philologen werden vielleicht sagen:
Zugegeben! dies beweist eben nur, daß dem altsprachlichen Unterricht noch nicht
genug Zeit gewidmet ist, daß noch ein Lebensjahr, eine Art von Selekta, dem
Kursus hinzuzufügen wäre. Diese sachlich begründete Folgerung spricht am
deutlichsten für das Vorhandensein eines organischen Fehlers in der jetzigen
Einrichtung. Denn daß einer noch weitergehenden Bevorzugung des altsprach¬
lichen Unterrichts in Zukunft Rechnung getragen werden könnte, werden auch
die begeistertsten Humanisten nicht erwarten. Wenn also — und das ist das
Ergebnis dieser Erörterung — die humanistisch-philologische Bildung, wie sie
seit 1816 vielen als Ideal vorschwebt, mit dem verwendbaren Maß an Zeit
und Kräften doch nicht erzielt werden kann, so ist es besser, darauf zu verzichten,
und einen Bildungsgrad anzustreben, der schon deshalb den Vorzug verdient,
weil er erreichbar ist.

Wir sahen, daß weder die Realschule noch das Gymnasium, jedes auf seinem
Wege, den Forderungen des Programms entspricht. Die Anhänger der huma¬
nistischen Richtung sind gezwungen, zuzugeben, daß der altsprachliche Unterricht
nicht gründlich genng, ihre Gegner behaupten, daß zuviel davou getrieben werde.
Da eine prinzipielle Einigung nicht möglich und jeder Kompromiß eine halbe,
beide Parteien unbefriedigende Lösung ist, so bleibt nichts übrig, als die Auf¬
stellung eines neuen Lehrprinzips und, damit verbunden, eine Umwandlung des
Schulwesens überhaupt. Die bisherige» Vorschläge, die alle mehr oder weniger
daraus hinauslaufen, den altsprachlichen Unterricht zu Gunsten der realen Fächer
zu beschränken, oder aber eine der beiden klassischen Sprachen ganz oder teil¬
weise zu opfern, können nicht durchdringen, weil sie den gelehrten Schulen damit
unmittelbar oder mittelbar den Charakter von Fachschulen aufdrücken. Sie
ihres ethischen Bildungszweckes zu entkleiden, kann aber nicht in der Absicht
einer einsichtsvollen Schulverwaltung liegen. Auch wünscht das im Grunde
niemand, mit Ausnahme vielleicht der extremsten Realisten.


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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/118>, abgerufen am 03.07.2024.