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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Die moderne Arbeiterbewegung.

lischen Arbeiter zu neuem Glänze zu verhelfen und die Arbeiter auch ferner an
ihre Parteifahne zu fesseln. Deshalb wurden, um die Aufmerksamkeit der Ar¬
beiter von den eigentlichen Brennpunkten der Arbeiterfrage möglichst abzulenken,
vornehmlich allgemeine und gewerbliche Fortbildung, Arbcitsstatistik, Rechts¬
schutz und Schiedsgerichte -- unter möglichster Verpönung der Streiks -- Ge¬
nossenschaftswesen und ähnliche unverfängliche Dinge auf das Programm gesetzt
und, um auch etwas Greifbares zu bieten, die Gründung von Hilfskasseu aller
Art (darunter die so berühmt gewordene Verbands-Invalidenkasse) in Angriff
genommen; dagegen wurde die Behandlung aller grundlegenden, insbesondre poli¬
tischen Fragen der alleinigen Weisheit der Fortschrittsparlei vorbehalten und die
ganze Machtfülle der zentral!hirten Gesamtorganisation trotz aller statutarischen
Vertlansulirung thatsächlich in die Hand des "Verbandsanwaltes" gelegt, dem
überdies noch die Redaktion des Verbandsorgans "Der Gewerkverein" zufiel.

So kam eine in Organisation, Zweck und Mitteln mehrfach verfehlte Zwitter¬
schöpfung zu stände, die trotz ihres liberal-manchesterlichen Glorienscheines und
trotz der wohlwollenden Neutralität der Behörden, welche die Gewerkvereine
nicht einmal den vereinsgesetzlichen Bestimmungen unterwarfen, zu keiner lebens¬
kräftigen Entwicklung gelangen wollte. Die bisherige Statistik ihrer Ausbreitung
ergiebt nämlich folgende Ziffern:

1869 .. 35 000 Mitglieder,
1870 ,. 10 000
1873 ., 13 000
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1878 ,. 16 525 " in38S Ortsvcrcinen und14 nationalen Gewerkvereinen
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also noch nicht zwei Prozent der industriellen Arbeiterschaft, während die Ira,<Z.6L
Ilnions in ihrer Blütezeit weit über zehn Prozent zählten. Der starke Fall
der Mitgliederzahl von 1869 zu 1870 ist auf den unglücklichen Verlauf des
bekannten Waldenburger Streiks zurückzuführen, während der merkliche Auf¬
schwung von 1884 zu 1885 der Einführung des Krankenversicherungszwanges
und der Zwangskassen durch das Neichsgesetz vom Is. Juni 1883 zuzuschreiben
ist, indem bei der grundsätzlichen Verwerfung jeder staatlichen Einmischung und
jeden Zwanges allerorten für die den Arbeitern anscheinend sympathischeren so¬
genannten freien Kassen (eingeschriebene Hilfskassen nach dem Reichsgesetze vom
7. April 1876) eingetreten wurde. Gleichwohl ist auch das Kassenwesen zu
keiner Blüte gekommen, denn die ., Verbands-Invalidenkasse" zählt trotz ihres
fast achtzehnjährigen Bestehens nur 3770 Mitglieder bei 263 800 Mark Ver-


Die moderne Arbeiterbewegung.

lischen Arbeiter zu neuem Glänze zu verhelfen und die Arbeiter auch ferner an
ihre Parteifahne zu fesseln. Deshalb wurden, um die Aufmerksamkeit der Ar¬
beiter von den eigentlichen Brennpunkten der Arbeiterfrage möglichst abzulenken,
vornehmlich allgemeine und gewerbliche Fortbildung, Arbcitsstatistik, Rechts¬
schutz und Schiedsgerichte — unter möglichster Verpönung der Streiks — Ge¬
nossenschaftswesen und ähnliche unverfängliche Dinge auf das Programm gesetzt
und, um auch etwas Greifbares zu bieten, die Gründung von Hilfskasseu aller
Art (darunter die so berühmt gewordene Verbands-Invalidenkasse) in Angriff
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ganze Machtfülle der zentral!hirten Gesamtorganisation trotz aller statutarischen
Vertlansulirung thatsächlich in die Hand des „Verbandsanwaltes" gelegt, dem
überdies noch die Redaktion des Verbandsorgans „Der Gewerkverein" zufiel.

So kam eine in Organisation, Zweck und Mitteln mehrfach verfehlte Zwitter¬
schöpfung zu stände, die trotz ihres liberal-manchesterlichen Glorienscheines und
trotz der wohlwollenden Neutralität der Behörden, welche die Gewerkvereine
nicht einmal den vereinsgesetzlichen Bestimmungen unterwarfen, zu keiner lebens¬
kräftigen Entwicklung gelangen wollte. Die bisherige Statistik ihrer Ausbreitung
ergiebt nämlich folgende Ziffern:

1869 .. 35 000 Mitglieder,
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Ilnions in ihrer Blütezeit weit über zehn Prozent zählten. Der starke Fall
der Mitgliederzahl von 1869 zu 1870 ist auf den unglücklichen Verlauf des
bekannten Waldenburger Streiks zurückzuführen, während der merkliche Auf¬
schwung von 1884 zu 1885 der Einführung des Krankenversicherungszwanges
und der Zwangskassen durch das Neichsgesetz vom Is. Juni 1883 zuzuschreiben
ist, indem bei der grundsätzlichen Verwerfung jeder staatlichen Einmischung und
jeden Zwanges allerorten für die den Arbeitern anscheinend sympathischeren so¬
genannten freien Kassen (eingeschriebene Hilfskassen nach dem Reichsgesetze vom
7. April 1876) eingetreten wurde. Gleichwohl ist auch das Kassenwesen zu
keiner Blüte gekommen, denn die ., Verbands-Invalidenkasse" zählt trotz ihres
fast achtzehnjährigen Bestehens nur 3770 Mitglieder bei 263 800 Mark Ver-


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[0072] Die moderne Arbeiterbewegung. lischen Arbeiter zu neuem Glänze zu verhelfen und die Arbeiter auch ferner an ihre Parteifahne zu fesseln. Deshalb wurden, um die Aufmerksamkeit der Ar¬ beiter von den eigentlichen Brennpunkten der Arbeiterfrage möglichst abzulenken, vornehmlich allgemeine und gewerbliche Fortbildung, Arbcitsstatistik, Rechts¬ schutz und Schiedsgerichte — unter möglichster Verpönung der Streiks — Ge¬ nossenschaftswesen und ähnliche unverfängliche Dinge auf das Programm gesetzt und, um auch etwas Greifbares zu bieten, die Gründung von Hilfskasseu aller Art (darunter die so berühmt gewordene Verbands-Invalidenkasse) in Angriff genommen; dagegen wurde die Behandlung aller grundlegenden, insbesondre poli¬ tischen Fragen der alleinigen Weisheit der Fortschrittsparlei vorbehalten und die ganze Machtfülle der zentral!hirten Gesamtorganisation trotz aller statutarischen Vertlansulirung thatsächlich in die Hand des „Verbandsanwaltes" gelegt, dem überdies noch die Redaktion des Verbandsorgans „Der Gewerkverein" zufiel. So kam eine in Organisation, Zweck und Mitteln mehrfach verfehlte Zwitter¬ schöpfung zu stände, die trotz ihres liberal-manchesterlichen Glorienscheines und trotz der wohlwollenden Neutralität der Behörden, welche die Gewerkvereine nicht einmal den vereinsgesetzlichen Bestimmungen unterwarfen, zu keiner lebens¬ kräftigen Entwicklung gelangen wollte. Die bisherige Statistik ihrer Ausbreitung ergiebt nämlich folgende Ziffern: 1869 .. 35 000 Mitglieder, 1870 ,. 10 000 1873 ., 13 000 1874 ., 22 000 1878 ,. 16 525 » in38S Ortsvcrcinen und14 nationalen Gewerkvereinen 1880 .. 17 579 » ,43714 » » 1881 .. 19 893 » »521 1832 .. 20S23 » »611 1883 ,. 25 531 -> »710 1884 .. 34 178 - »830 1885 ,. 55 ISO » »95317 1886 .. 49 901 » »102721 also noch nicht zwei Prozent der industriellen Arbeiterschaft, während die Ira,<Z.6L Ilnions in ihrer Blütezeit weit über zehn Prozent zählten. Der starke Fall der Mitgliederzahl von 1869 zu 1870 ist auf den unglücklichen Verlauf des bekannten Waldenburger Streiks zurückzuführen, während der merkliche Auf¬ schwung von 1884 zu 1885 der Einführung des Krankenversicherungszwanges und der Zwangskassen durch das Neichsgesetz vom Is. Juni 1883 zuzuschreiben ist, indem bei der grundsätzlichen Verwerfung jeder staatlichen Einmischung und jeden Zwanges allerorten für die den Arbeitern anscheinend sympathischeren so¬ genannten freien Kassen (eingeschriebene Hilfskassen nach dem Reichsgesetze vom 7. April 1876) eingetreten wurde. Gleichwohl ist auch das Kassenwesen zu keiner Blüte gekommen, denn die ., Verbands-Invalidenkasse" zählt trotz ihres fast achtzehnjährigen Bestehens nur 3770 Mitglieder bei 263 800 Mark Ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/72>, abgerufen am 28.09.2024.