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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Die moderne Arbeiterbewegung.

suchtigen Volkscharakter und die darniederliegenden wirtschaftlichen Zustände
dieser Länder nicht weiter befremden.

Die Verschiedenartigkeit der geschilderten drei Richtungen verkörpert sich
gewissermaßen in ihren geistigen Leitern, die ebenso gut die Produkte dieser
Verhältnisse sind, als letztere von ihnen beeinflußt werden, sodciß hier wie so oft
Ursache und Wirkung durcheinauderlcmfen. Während die erstgenannte, reforma¬
torische Bewegung meist noch wirkliche Arbeiter ausweist, welche unter ihren
Fachgenossen entsprechende Vertrauensstellungen einnehmen und die Berufs-
interessen ernstlich zu fördern suchen, obgleich sie unter der Führung der Bündnis-
Parteien meist zu "Geführten" werden, so finden sich in der sozialistischen
Führerschaft fast gar keine "Arbeiter," aber desto mehr Literaten und sonstige
bourgeoismäßige Erscheinungen, welche das Leithammeln und Verhetzen der
Arbeitermassen sich zum Gewerbe machen und damit ein für ihren Ehrgeiz wie
ihren Lebensbedarf gleich ergiebiges Gebiet erschlossen haben. In der anarchistischen
Bewegung endlich begegnet man allen möglichen oder, besser gesagt, lauter un¬
möglichen Figuren, die insgesamt die Brücke hinter sich abgebrochen und allem
Bestehenden den Vernichtungskampf geschworen haben. Da giebt es vor allem
die Deklassirten (ckvolg-ssös), d. h. schiffbrüchig gewordene Existenzen aus den
sogenannten gebildeten Ständen, welche für ihr persönliches Fiasko die bestehenden
Zustände verantwortlich machen und nun mit fanatischem Haß an deren Zer¬
störung arbeiten; sodann die Parias der modernen Gesellschaft, d. h. sittlich
und geistig verwahrloste Gestalten, die, jeder höheren Regung bar, die allgemeine
Annektirnngs- und Zerstörungstheorie bei jeder Gelegenheit ins Praktische zu
übersetzen suchen und bei diesen Vorstoßen gewissermaßen das Kanonenfutter für
jene abgeben. Sehr bedenklich aber ist es, wenn neuerdings diesen Irrlehren
allmählich auch sittlich und wirtschaftlich tüchtige Kräfte des Arbeiterstandes zum
Opfer fallen, weil sie unter dem Druck wirtschaftlicher Depression aller An¬
strengungen ungeachtet den nötigen Verdienst nicht zu finden vermögen und
schließlich in dumpfer Verzweiflung mit sich, der Menschheit und Gott zerfallend
zu fanatischen Gegnern der bestehenden Ordnung werden.

Aus dem verschleimen Charakter der Arbeiterbewegung in ihren einzelnen
Stufen und Richtungen erklärt sich, daß die reformatorische Bewegung ebenso
öffentlich als die anarchistische im Geheimen sich abspielt, während die sozialistische
ihrer Mittelstellung entsprechend mit beiden Momenten rechnet und je nach
Umständen bald das eine, bald das andre stärker hervortreten läßt.

Erwägt man nach alledem, wie diese emporwachsende Arbeiterbewegung, inso¬
weit sie eine Leitung gefunden hat, mißleitet worden ist und, soweit sie sich selbst
überlassen geblieben ist, auf die gefährlichsten Irrwege geraten ist, anderseits
wie die maßgebenden politischen Parteien zumeist durch wechselseitigen Partei¬
hader sich zersplittern, in unfruchtbaren politischen Streitfragen Kraft und Zeit
vergeuden, auch von den eignen Interessen für das Gemeinwohl kaum manners-


Die moderne Arbeiterbewegung.

suchtigen Volkscharakter und die darniederliegenden wirtschaftlichen Zustände
dieser Länder nicht weiter befremden.

Die Verschiedenartigkeit der geschilderten drei Richtungen verkörpert sich
gewissermaßen in ihren geistigen Leitern, die ebenso gut die Produkte dieser
Verhältnisse sind, als letztere von ihnen beeinflußt werden, sodciß hier wie so oft
Ursache und Wirkung durcheinauderlcmfen. Während die erstgenannte, reforma¬
torische Bewegung meist noch wirkliche Arbeiter ausweist, welche unter ihren
Fachgenossen entsprechende Vertrauensstellungen einnehmen und die Berufs-
interessen ernstlich zu fördern suchen, obgleich sie unter der Führung der Bündnis-
Parteien meist zu „Geführten" werden, so finden sich in der sozialistischen
Führerschaft fast gar keine „Arbeiter," aber desto mehr Literaten und sonstige
bourgeoismäßige Erscheinungen, welche das Leithammeln und Verhetzen der
Arbeitermassen sich zum Gewerbe machen und damit ein für ihren Ehrgeiz wie
ihren Lebensbedarf gleich ergiebiges Gebiet erschlossen haben. In der anarchistischen
Bewegung endlich begegnet man allen möglichen oder, besser gesagt, lauter un¬
möglichen Figuren, die insgesamt die Brücke hinter sich abgebrochen und allem
Bestehenden den Vernichtungskampf geschworen haben. Da giebt es vor allem
die Deklassirten (ckvolg-ssös), d. h. schiffbrüchig gewordene Existenzen aus den
sogenannten gebildeten Ständen, welche für ihr persönliches Fiasko die bestehenden
Zustände verantwortlich machen und nun mit fanatischem Haß an deren Zer¬
störung arbeiten; sodann die Parias der modernen Gesellschaft, d. h. sittlich
und geistig verwahrloste Gestalten, die, jeder höheren Regung bar, die allgemeine
Annektirnngs- und Zerstörungstheorie bei jeder Gelegenheit ins Praktische zu
übersetzen suchen und bei diesen Vorstoßen gewissermaßen das Kanonenfutter für
jene abgeben. Sehr bedenklich aber ist es, wenn neuerdings diesen Irrlehren
allmählich auch sittlich und wirtschaftlich tüchtige Kräfte des Arbeiterstandes zum
Opfer fallen, weil sie unter dem Druck wirtschaftlicher Depression aller An¬
strengungen ungeachtet den nötigen Verdienst nicht zu finden vermögen und
schließlich in dumpfer Verzweiflung mit sich, der Menschheit und Gott zerfallend
zu fanatischen Gegnern der bestehenden Ordnung werden.

Aus dem verschleimen Charakter der Arbeiterbewegung in ihren einzelnen
Stufen und Richtungen erklärt sich, daß die reformatorische Bewegung ebenso
öffentlich als die anarchistische im Geheimen sich abspielt, während die sozialistische
ihrer Mittelstellung entsprechend mit beiden Momenten rechnet und je nach
Umständen bald das eine, bald das andre stärker hervortreten läßt.

Erwägt man nach alledem, wie diese emporwachsende Arbeiterbewegung, inso¬
weit sie eine Leitung gefunden hat, mißleitet worden ist und, soweit sie sich selbst
überlassen geblieben ist, auf die gefährlichsten Irrwege geraten ist, anderseits
wie die maßgebenden politischen Parteien zumeist durch wechselseitigen Partei¬
hader sich zersplittern, in unfruchtbaren politischen Streitfragen Kraft und Zeit
vergeuden, auch von den eignen Interessen für das Gemeinwohl kaum manners-


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[0069] Die moderne Arbeiterbewegung. suchtigen Volkscharakter und die darniederliegenden wirtschaftlichen Zustände dieser Länder nicht weiter befremden. Die Verschiedenartigkeit der geschilderten drei Richtungen verkörpert sich gewissermaßen in ihren geistigen Leitern, die ebenso gut die Produkte dieser Verhältnisse sind, als letztere von ihnen beeinflußt werden, sodciß hier wie so oft Ursache und Wirkung durcheinauderlcmfen. Während die erstgenannte, reforma¬ torische Bewegung meist noch wirkliche Arbeiter ausweist, welche unter ihren Fachgenossen entsprechende Vertrauensstellungen einnehmen und die Berufs- interessen ernstlich zu fördern suchen, obgleich sie unter der Führung der Bündnis- Parteien meist zu „Geführten" werden, so finden sich in der sozialistischen Führerschaft fast gar keine „Arbeiter," aber desto mehr Literaten und sonstige bourgeoismäßige Erscheinungen, welche das Leithammeln und Verhetzen der Arbeitermassen sich zum Gewerbe machen und damit ein für ihren Ehrgeiz wie ihren Lebensbedarf gleich ergiebiges Gebiet erschlossen haben. In der anarchistischen Bewegung endlich begegnet man allen möglichen oder, besser gesagt, lauter un¬ möglichen Figuren, die insgesamt die Brücke hinter sich abgebrochen und allem Bestehenden den Vernichtungskampf geschworen haben. Da giebt es vor allem die Deklassirten (ckvolg-ssös), d. h. schiffbrüchig gewordene Existenzen aus den sogenannten gebildeten Ständen, welche für ihr persönliches Fiasko die bestehenden Zustände verantwortlich machen und nun mit fanatischem Haß an deren Zer¬ störung arbeiten; sodann die Parias der modernen Gesellschaft, d. h. sittlich und geistig verwahrloste Gestalten, die, jeder höheren Regung bar, die allgemeine Annektirnngs- und Zerstörungstheorie bei jeder Gelegenheit ins Praktische zu übersetzen suchen und bei diesen Vorstoßen gewissermaßen das Kanonenfutter für jene abgeben. Sehr bedenklich aber ist es, wenn neuerdings diesen Irrlehren allmählich auch sittlich und wirtschaftlich tüchtige Kräfte des Arbeiterstandes zum Opfer fallen, weil sie unter dem Druck wirtschaftlicher Depression aller An¬ strengungen ungeachtet den nötigen Verdienst nicht zu finden vermögen und schließlich in dumpfer Verzweiflung mit sich, der Menschheit und Gott zerfallend zu fanatischen Gegnern der bestehenden Ordnung werden. Aus dem verschleimen Charakter der Arbeiterbewegung in ihren einzelnen Stufen und Richtungen erklärt sich, daß die reformatorische Bewegung ebenso öffentlich als die anarchistische im Geheimen sich abspielt, während die sozialistische ihrer Mittelstellung entsprechend mit beiden Momenten rechnet und je nach Umständen bald das eine, bald das andre stärker hervortreten läßt. Erwägt man nach alledem, wie diese emporwachsende Arbeiterbewegung, inso¬ weit sie eine Leitung gefunden hat, mißleitet worden ist und, soweit sie sich selbst überlassen geblieben ist, auf die gefährlichsten Irrwege geraten ist, anderseits wie die maßgebenden politischen Parteien zumeist durch wechselseitigen Partei¬ hader sich zersplittern, in unfruchtbaren politischen Streitfragen Kraft und Zeit vergeuden, auch von den eignen Interessen für das Gemeinwohl kaum manners-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/69>, abgerufen am 28.09.2024.