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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Der Ministerwechsel in Paris.

Ministerium aus dem Amte fegte, nicht gerade durch "zufälliges Zusammenwirken
von Atomen" zustande gekommen sein wird. Zuerst wendete sich das Komitee,
welches die Bilanzbogen des Budgets durchzusehen und zu beurteile" hatte,
gegen den Finanzminister Sadi-Carnot und stieß ihm alle seine Berechnungen
um. Er drohte, seine Entlassung zu geben, und that es wirklich, wie es sein
Kollege, der Minister des Jnnern, Sarrien, gethan hatte; doch kam es in
beiden Fällen zu einer Verständigung, durch welche diese den Vestaud des Kabinets
gefährdenden Rücktritte verhindert wurden. Der Finanzminister hätte vielerlei
für sich sagen können, aber obwohl er im Amte blieb, nahm er an den heftigen
Scharmützeln, welche die Sitzungen belebten, nur geringen Anteil, und zwar aus
gutem Grunde: die Pläne, mit deren Ausführung er in die Finanzen Stabilität
und Gesundheit zu bringen beabsichtigte, wurden großenteils verworfen, und es
ging nicht wohl an, daß er für die Meinungen seiner Kritiker das Wort ergriff.
Der Streit spann sich weiter fort, und das Ministerium fristete sich uur dadurch
kümmerlich das Leben, daß es die Vorwürfe, die ihm täglich von den Rednern
der Opposition zugeschleudert wurde", gelassen hinnahm. Nur ein Minister,
Baihaut, hielt es für geraten, seinen Posten, der ihm unbehaglich geworden war,
und ein Kabinet, welches seinen Halt in der Kammer verloren hatte, ohne
Verzug zu verlassen. Die übrigen Herren setzten ihrem Präsidenten Freycinet
zu, endlich aufzustehen und eine entschiedne und wirksame Rede zur Verteidigung
der Regierung und der an ihnen getadelten Politik zu halten. Er gab ihren
Bitten Folge, und als man an die Erörterung der Forderungen des Budgets
für die auswärtige Politik ging, ließ er eine große Ansprache vom Stapel und
gewann einigen Beifall durch "patriotische" Ansichten über Ägypten und durch
die Verkündigung, daß "die Ära der Erwerbungen nunmehr geschlossen sei,"
Frankreich also keinerlei Gebiet an fernen Meeren annektircn werde, was zwar
die Anhänger Jules Ferrys verstimmen, aber dem General Boulanger angenehm
klingen konnte. Der Premier erlebte infolgedessen einen kleinen Triumph und
schien sich und seinen Amtsgenossen den Ministersessel wieder gesichert zu haben
Es sollte aber nur für wenige Tage sein. Kaum war der neue auf dreißig
Millionen Franken bemessene Kredit für Tvnking auf die Tagesordnung gebracht
worden, so erschien die hinter die Kulissen gebannte Gefahr von neuem auf der
parlamentarischen Schaubühne, und nur mit knapper Not erwehrte sich der
Minister ihrer. Er bat, um dem Auslande imponiren zu können, um möglichst
einstimmige Bewilligung der Forderung, begegnete aber heftigen Widersprüche"?
Vonseiten der Radikalen. Raoul Duval und ebenso Clemenceau, der die Ver-
streuung französischer Soldaten und Zwanzigfrankstücke über die Inseln und
Sumpfläuder Asiens und Afrikas mit besonders ungünstigen Augen ansieht,
sagten ihm in den bittersten Reden, was sie für wahr, nützlich und unnützlich
hielten. Jener nannte Tonking ungescheut "eine Kloake" und erklärte unter dem
Beifallsrufe feiner Partei, daß sein Patriotismus ihm gerade verbiete, was


Der Ministerwechsel in Paris.

Ministerium aus dem Amte fegte, nicht gerade durch „zufälliges Zusammenwirken
von Atomen" zustande gekommen sein wird. Zuerst wendete sich das Komitee,
welches die Bilanzbogen des Budgets durchzusehen und zu beurteile» hatte,
gegen den Finanzminister Sadi-Carnot und stieß ihm alle seine Berechnungen
um. Er drohte, seine Entlassung zu geben, und that es wirklich, wie es sein
Kollege, der Minister des Jnnern, Sarrien, gethan hatte; doch kam es in
beiden Fällen zu einer Verständigung, durch welche diese den Vestaud des Kabinets
gefährdenden Rücktritte verhindert wurden. Der Finanzminister hätte vielerlei
für sich sagen können, aber obwohl er im Amte blieb, nahm er an den heftigen
Scharmützeln, welche die Sitzungen belebten, nur geringen Anteil, und zwar aus
gutem Grunde: die Pläne, mit deren Ausführung er in die Finanzen Stabilität
und Gesundheit zu bringen beabsichtigte, wurden großenteils verworfen, und es
ging nicht wohl an, daß er für die Meinungen seiner Kritiker das Wort ergriff.
Der Streit spann sich weiter fort, und das Ministerium fristete sich uur dadurch
kümmerlich das Leben, daß es die Vorwürfe, die ihm täglich von den Rednern
der Opposition zugeschleudert wurde», gelassen hinnahm. Nur ein Minister,
Baihaut, hielt es für geraten, seinen Posten, der ihm unbehaglich geworden war,
und ein Kabinet, welches seinen Halt in der Kammer verloren hatte, ohne
Verzug zu verlassen. Die übrigen Herren setzten ihrem Präsidenten Freycinet
zu, endlich aufzustehen und eine entschiedne und wirksame Rede zur Verteidigung
der Regierung und der an ihnen getadelten Politik zu halten. Er gab ihren
Bitten Folge, und als man an die Erörterung der Forderungen des Budgets
für die auswärtige Politik ging, ließ er eine große Ansprache vom Stapel und
gewann einigen Beifall durch „patriotische" Ansichten über Ägypten und durch
die Verkündigung, daß „die Ära der Erwerbungen nunmehr geschlossen sei,"
Frankreich also keinerlei Gebiet an fernen Meeren annektircn werde, was zwar
die Anhänger Jules Ferrys verstimmen, aber dem General Boulanger angenehm
klingen konnte. Der Premier erlebte infolgedessen einen kleinen Triumph und
schien sich und seinen Amtsgenossen den Ministersessel wieder gesichert zu haben
Es sollte aber nur für wenige Tage sein. Kaum war der neue auf dreißig
Millionen Franken bemessene Kredit für Tvnking auf die Tagesordnung gebracht
worden, so erschien die hinter die Kulissen gebannte Gefahr von neuem auf der
parlamentarischen Schaubühne, und nur mit knapper Not erwehrte sich der
Minister ihrer. Er bat, um dem Auslande imponiren zu können, um möglichst
einstimmige Bewilligung der Forderung, begegnete aber heftigen Widersprüche«?
Vonseiten der Radikalen. Raoul Duval und ebenso Clemenceau, der die Ver-
streuung französischer Soldaten und Zwanzigfrankstücke über die Inseln und
Sumpfläuder Asiens und Afrikas mit besonders ungünstigen Augen ansieht,
sagten ihm in den bittersten Reden, was sie für wahr, nützlich und unnützlich
hielten. Jener nannte Tonking ungescheut „eine Kloake" und erklärte unter dem
Beifallsrufe feiner Partei, daß sein Patriotismus ihm gerade verbiete, was


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[0626] Der Ministerwechsel in Paris. Ministerium aus dem Amte fegte, nicht gerade durch „zufälliges Zusammenwirken von Atomen" zustande gekommen sein wird. Zuerst wendete sich das Komitee, welches die Bilanzbogen des Budgets durchzusehen und zu beurteile» hatte, gegen den Finanzminister Sadi-Carnot und stieß ihm alle seine Berechnungen um. Er drohte, seine Entlassung zu geben, und that es wirklich, wie es sein Kollege, der Minister des Jnnern, Sarrien, gethan hatte; doch kam es in beiden Fällen zu einer Verständigung, durch welche diese den Vestaud des Kabinets gefährdenden Rücktritte verhindert wurden. Der Finanzminister hätte vielerlei für sich sagen können, aber obwohl er im Amte blieb, nahm er an den heftigen Scharmützeln, welche die Sitzungen belebten, nur geringen Anteil, und zwar aus gutem Grunde: die Pläne, mit deren Ausführung er in die Finanzen Stabilität und Gesundheit zu bringen beabsichtigte, wurden großenteils verworfen, und es ging nicht wohl an, daß er für die Meinungen seiner Kritiker das Wort ergriff. Der Streit spann sich weiter fort, und das Ministerium fristete sich uur dadurch kümmerlich das Leben, daß es die Vorwürfe, die ihm täglich von den Rednern der Opposition zugeschleudert wurde», gelassen hinnahm. Nur ein Minister, Baihaut, hielt es für geraten, seinen Posten, der ihm unbehaglich geworden war, und ein Kabinet, welches seinen Halt in der Kammer verloren hatte, ohne Verzug zu verlassen. Die übrigen Herren setzten ihrem Präsidenten Freycinet zu, endlich aufzustehen und eine entschiedne und wirksame Rede zur Verteidigung der Regierung und der an ihnen getadelten Politik zu halten. Er gab ihren Bitten Folge, und als man an die Erörterung der Forderungen des Budgets für die auswärtige Politik ging, ließ er eine große Ansprache vom Stapel und gewann einigen Beifall durch „patriotische" Ansichten über Ägypten und durch die Verkündigung, daß „die Ära der Erwerbungen nunmehr geschlossen sei," Frankreich also keinerlei Gebiet an fernen Meeren annektircn werde, was zwar die Anhänger Jules Ferrys verstimmen, aber dem General Boulanger angenehm klingen konnte. Der Premier erlebte infolgedessen einen kleinen Triumph und schien sich und seinen Amtsgenossen den Ministersessel wieder gesichert zu haben Es sollte aber nur für wenige Tage sein. Kaum war der neue auf dreißig Millionen Franken bemessene Kredit für Tvnking auf die Tagesordnung gebracht worden, so erschien die hinter die Kulissen gebannte Gefahr von neuem auf der parlamentarischen Schaubühne, und nur mit knapper Not erwehrte sich der Minister ihrer. Er bat, um dem Auslande imponiren zu können, um möglichst einstimmige Bewilligung der Forderung, begegnete aber heftigen Widersprüche«? Vonseiten der Radikalen. Raoul Duval und ebenso Clemenceau, der die Ver- streuung französischer Soldaten und Zwanzigfrankstücke über die Inseln und Sumpfläuder Asiens und Afrikas mit besonders ungünstigen Augen ansieht, sagten ihm in den bittersten Reden, was sie für wahr, nützlich und unnützlich hielten. Jener nannte Tonking ungescheut „eine Kloake" und erklärte unter dem Beifallsrufe feiner Partei, daß sein Patriotismus ihm gerade verbiete, was

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/626>, abgerufen am 20.10.2024.