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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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gange der Via Maia) sagte, er sei Romane und habe früher kein Wort Deutsch
gekonnt, seine Frau sei germanisirte Nomauin, und seine Kinder verstünden
gar kein Romanisch mehr. Er meinte, in zwanzig bis fünfzig Jahren sei das
Romanische, außer in Gebirgswinkeln, ausgestorben. Das noch vor kurzem
romanische Thusis ist schou jetzt als deutsche Ortschaft anzusehen. So fast
überall: die Jugend spricht oder versteht wenigstens Deutsch, selbst in durchaus
romanischen Thälern, wie im Oberengadin, man glaubt dort beinahe, auf
deutschem Sprachgebiete zu weilen.

Der Hauptgrund für die reißende Abnahme des anderthalb Jahrtausend
behaupteten Idioms besteht offenbar in dem modernen Drange nach Nationalität.
Unser Zeitalter ist geradezu das der Nationalitäten; wo man es zu einem solchen
gebracht hat, gebracht glaubt oder glaubt bringen zu können, macht er sich
leidenschaftlich geltend; wir erinnern nur an die Tschechen, Polen, Ungarn, Serben
und Bulgaren. Anders dort, wo die Sprache kein Volkstum umschließt, wo
es nicht zu einer Literatur, zu sprachlichen Geistesprvdukten gekommen ist, wie
bei deu Wenden Sachsens und Preußens, wie bei den Churwälschen Graubündens;
dort fehlt dem Stoffe der nötige Rückhalt, um den umgarnenden Nationalitäten
widerstehen zu können. Es darf sogar als wahrscheinlich gelten, daß der Rück¬
gang des Deutschen in Tirol guteutcils von dem kräftigen Nationalempfiudeu
Italiens ausgeht, dem in dem vielsprachigen Österreich, dem partikularistisch ab¬
gesonderte" Tirol nichts Ebenbürtiges entgegenwirkt. Der Mangel eigentlichen
Volkstums erleichtert aber uicht nur die Auflösung, sondern macht auch An-
bequemung an fremde Elemente, das Einleben in dieselben, die Erlernung ihrer
Sprache leicht. Am See von Silvciplana im Oberengadin traf ich einen
Fischerbnben von zwölf bis vierzehn Jahren, der Romanisch, Deutsch, Italienisch
und Französisch sprach; ja die Kenntnis von ersteren drei Sprachen erscheint
dort geradezu als landesüblich. Dabei macht sich uoch ein weiteres bemerkbar,
die dialektlose Verwendung der Sprache. Die Lockerheit des Churwälschen
genügt nicht, um der fremden Sprache ihren Tonfall anfzuzwängen, dazu kommt,
daß es ziemlich schriftgemäß ausgesprochen wird. Gewöhnliche Bauern reden
in Graubünden ein nahezu reines und wohlklingendes Deutsch, fern von den
dumpfen Gutturallauten ihrer übrigen schweizerischen Brüder. Hier zeigt sich
besonders, daß der Schulmeister thätig gewesen ist. Das Schulhaus ist nicht
selten das ansehnlichste Gebände der ganzen Gemeinde, und auf seinen Besuch
für sieben bis neun Monate wird streng gesehen.

Der Mangel einer churwälschen Nationalität mußte von Jahr zu Jahr
deutlicher hervortreten, je stärker sich gerade in Graubünden der Verkehr ent¬
wickelte, sei es, daß die Söhne des rauhen Gebirgslandcs zeitweise die Heimat
verließen und im Auslande thätig waren, sei es, daß Fremde einströmten, um
die Großartigkeit und Gesundheit der Hochalpennatur zu genießen. Die Aus¬
wandernde" begeben sich gewöhnlich nach der deutschen Schweiz, den? deutschen


gange der Via Maia) sagte, er sei Romane und habe früher kein Wort Deutsch
gekonnt, seine Frau sei germanisirte Nomauin, und seine Kinder verstünden
gar kein Romanisch mehr. Er meinte, in zwanzig bis fünfzig Jahren sei das
Romanische, außer in Gebirgswinkeln, ausgestorben. Das noch vor kurzem
romanische Thusis ist schou jetzt als deutsche Ortschaft anzusehen. So fast
überall: die Jugend spricht oder versteht wenigstens Deutsch, selbst in durchaus
romanischen Thälern, wie im Oberengadin, man glaubt dort beinahe, auf
deutschem Sprachgebiete zu weilen.

Der Hauptgrund für die reißende Abnahme des anderthalb Jahrtausend
behaupteten Idioms besteht offenbar in dem modernen Drange nach Nationalität.
Unser Zeitalter ist geradezu das der Nationalitäten; wo man es zu einem solchen
gebracht hat, gebracht glaubt oder glaubt bringen zu können, macht er sich
leidenschaftlich geltend; wir erinnern nur an die Tschechen, Polen, Ungarn, Serben
und Bulgaren. Anders dort, wo die Sprache kein Volkstum umschließt, wo
es nicht zu einer Literatur, zu sprachlichen Geistesprvdukten gekommen ist, wie
bei deu Wenden Sachsens und Preußens, wie bei den Churwälschen Graubündens;
dort fehlt dem Stoffe der nötige Rückhalt, um den umgarnenden Nationalitäten
widerstehen zu können. Es darf sogar als wahrscheinlich gelten, daß der Rück¬
gang des Deutschen in Tirol guteutcils von dem kräftigen Nationalempfiudeu
Italiens ausgeht, dem in dem vielsprachigen Österreich, dem partikularistisch ab¬
gesonderte» Tirol nichts Ebenbürtiges entgegenwirkt. Der Mangel eigentlichen
Volkstums erleichtert aber uicht nur die Auflösung, sondern macht auch An-
bequemung an fremde Elemente, das Einleben in dieselben, die Erlernung ihrer
Sprache leicht. Am See von Silvciplana im Oberengadin traf ich einen
Fischerbnben von zwölf bis vierzehn Jahren, der Romanisch, Deutsch, Italienisch
und Französisch sprach; ja die Kenntnis von ersteren drei Sprachen erscheint
dort geradezu als landesüblich. Dabei macht sich uoch ein weiteres bemerkbar,
die dialektlose Verwendung der Sprache. Die Lockerheit des Churwälschen
genügt nicht, um der fremden Sprache ihren Tonfall anfzuzwängen, dazu kommt,
daß es ziemlich schriftgemäß ausgesprochen wird. Gewöhnliche Bauern reden
in Graubünden ein nahezu reines und wohlklingendes Deutsch, fern von den
dumpfen Gutturallauten ihrer übrigen schweizerischen Brüder. Hier zeigt sich
besonders, daß der Schulmeister thätig gewesen ist. Das Schulhaus ist nicht
selten das ansehnlichste Gebände der ganzen Gemeinde, und auf seinen Besuch
für sieben bis neun Monate wird streng gesehen.

Der Mangel einer churwälschen Nationalität mußte von Jahr zu Jahr
deutlicher hervortreten, je stärker sich gerade in Graubünden der Verkehr ent¬
wickelte, sei es, daß die Söhne des rauhen Gebirgslandcs zeitweise die Heimat
verließen und im Auslande thätig waren, sei es, daß Fremde einströmten, um
die Großartigkeit und Gesundheit der Hochalpennatur zu genießen. Die Aus¬
wandernde» begeben sich gewöhnlich nach der deutschen Schweiz, den? deutschen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/546>, abgerufen am 27.09.2024.