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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Deutsche Sorgen in (Österreich.

Erzgebirges, vorzüglich in der Umgebung von Kremnitz und Deutsch-Praben,
dann in der Zips, im Bakonyer Walde, sowie in den Komitaten Zala, Somogy,
Raab, Gran und Stnhlweißenbnrg seit einigen Jahrzehnten mit einer Schnellig¬
keit, die befremden und erschrecken muß. Die 25 000 Einwohner ferner, welche
Ofen vor etwa sechzig Jahren hatte, sprachen fast ohne Ausnahme deutsch, und
von den 62 000 Bewohnern des damaligen Pest rechnete sich die Mehrzahl
zu unsrer Nationalität. Dagegen ergab die Volkszählung von 1880 für die
Doppelstadt Ofen-Pest 198 000 Magyaren und nur 120 000 Deutsche. Zu
beklagen ist, daß dieses Verhältnis sich nicht allein durch Einwanderung von
Magyaren, sondern auch dadurch so ungünstig gestaltet hat, daß viele Deutsche
ihre Nationalität aufgaben. Indes tröstet einigermaßen der Umstand, daß unter
jenen Söhnen Arpads eine große Menge von Söhnen Israels, die einst Deutsche
sein wollten, mitgerechnet sind, weil sie es für vorteilhaft hielten, den Schein
der Nationalität zu wechseln. Bei frühern Volkszählungen bekannten sich von
den Juden die meisten zur deutschen Umgangssprache, jetzt wollten von den
670 000 Seelen des semitischen Stammes, mit denen Ungarn gesegnet ist, die
meisten magyarische Seelen sein. Aber weiter in unsrer Überschau. Jenseits
der Donau existirten vor fünfzig Jahren zwei königliche Freistätte und 43 Markt¬
flecken, die sämtlich rein deutschen Charakter trugen. Heute sind sie alle, wie
man in österreichischem Zeitungsjargvn sich ausdrückt, "gemischtsprachig." Unter
den 12 000 Einwohnern, welche die Stadt Ödenburg um das Jahr 1835
zählte, befanden sich nnr einige hundert Magyaren; heute hat dieselbe unter
ihrer Bevölkerung von 23 000 Seelen nicht weniger als 5000 Magyaren.
Raab war noch vor fünf Jahrzehnten eine überwiegend deutsche, jetzt ist es eine
fast ganz magyarische Stadt, obwohl man hier sehr vielen deutschen Familien¬
namen begegnet. Ähnlich verhält es sich mit Steinamcmgcr, wo jetzt neben
9000 Magyaren nur noch ungefähr 1000 Deutsche wohnen. In Tirnau
lebten ehedem gar keine Magyaren, jetzt haben sich 1500 dort ansässig gemacht.
In Fünfkirchen, welches einst fast so deutsch war wie sein Name, verhalten sich
jetzt die Deutschen zu den Magyaren wie 5 zu 20. Nicht so schlimm steht es
in Preßburg, doch giebt es immerhin hier von diesen 7500 neben etwa 32000
von jenen und ungefähr 8000 Slowaken. In Mariatheresiopel waren die
Deutschen zu Anfang unsers Jahrhunderts an Zahl fast so stark wie die Ma¬
gyaren, jetzt leben dort nur uoch 1400 Deutsche und sechsmal so viel Magyaren
und Serben. In Umsatz gab es vor einem halben Jahrhundert nur Deutsche
und Serben, jetzt hat es mehr magyarische als deutsche Bewohner. In Zombor,
wo das deutsche Element damals bei weitem überwog, ist es jetzt nnr noch halb
so zahlreich zu finden als das magyarische. Damals hatte Temesvar uuter
seinen 14 000 Einwohnern kaum ein Dutzend magyarische, jetzt hat es deren
unter einer Bevölkerung von 29 000 Seelen bereits 7000. In Arad bildete
1835 das Deutschtum die Mehrheit gegenüber dem Magyarentume, beide Ele-


Deutsche Sorgen in (Österreich.

Erzgebirges, vorzüglich in der Umgebung von Kremnitz und Deutsch-Praben,
dann in der Zips, im Bakonyer Walde, sowie in den Komitaten Zala, Somogy,
Raab, Gran und Stnhlweißenbnrg seit einigen Jahrzehnten mit einer Schnellig¬
keit, die befremden und erschrecken muß. Die 25 000 Einwohner ferner, welche
Ofen vor etwa sechzig Jahren hatte, sprachen fast ohne Ausnahme deutsch, und
von den 62 000 Bewohnern des damaligen Pest rechnete sich die Mehrzahl
zu unsrer Nationalität. Dagegen ergab die Volkszählung von 1880 für die
Doppelstadt Ofen-Pest 198 000 Magyaren und nur 120 000 Deutsche. Zu
beklagen ist, daß dieses Verhältnis sich nicht allein durch Einwanderung von
Magyaren, sondern auch dadurch so ungünstig gestaltet hat, daß viele Deutsche
ihre Nationalität aufgaben. Indes tröstet einigermaßen der Umstand, daß unter
jenen Söhnen Arpads eine große Menge von Söhnen Israels, die einst Deutsche
sein wollten, mitgerechnet sind, weil sie es für vorteilhaft hielten, den Schein
der Nationalität zu wechseln. Bei frühern Volkszählungen bekannten sich von
den Juden die meisten zur deutschen Umgangssprache, jetzt wollten von den
670 000 Seelen des semitischen Stammes, mit denen Ungarn gesegnet ist, die
meisten magyarische Seelen sein. Aber weiter in unsrer Überschau. Jenseits
der Donau existirten vor fünfzig Jahren zwei königliche Freistätte und 43 Markt¬
flecken, die sämtlich rein deutschen Charakter trugen. Heute sind sie alle, wie
man in österreichischem Zeitungsjargvn sich ausdrückt, „gemischtsprachig." Unter
den 12 000 Einwohnern, welche die Stadt Ödenburg um das Jahr 1835
zählte, befanden sich nnr einige hundert Magyaren; heute hat dieselbe unter
ihrer Bevölkerung von 23 000 Seelen nicht weniger als 5000 Magyaren.
Raab war noch vor fünf Jahrzehnten eine überwiegend deutsche, jetzt ist es eine
fast ganz magyarische Stadt, obwohl man hier sehr vielen deutschen Familien¬
namen begegnet. Ähnlich verhält es sich mit Steinamcmgcr, wo jetzt neben
9000 Magyaren nur noch ungefähr 1000 Deutsche wohnen. In Tirnau
lebten ehedem gar keine Magyaren, jetzt haben sich 1500 dort ansässig gemacht.
In Fünfkirchen, welches einst fast so deutsch war wie sein Name, verhalten sich
jetzt die Deutschen zu den Magyaren wie 5 zu 20. Nicht so schlimm steht es
in Preßburg, doch giebt es immerhin hier von diesen 7500 neben etwa 32000
von jenen und ungefähr 8000 Slowaken. In Mariatheresiopel waren die
Deutschen zu Anfang unsers Jahrhunderts an Zahl fast so stark wie die Ma¬
gyaren, jetzt leben dort nur uoch 1400 Deutsche und sechsmal so viel Magyaren
und Serben. In Umsatz gab es vor einem halben Jahrhundert nur Deutsche
und Serben, jetzt hat es mehr magyarische als deutsche Bewohner. In Zombor,
wo das deutsche Element damals bei weitem überwog, ist es jetzt nnr noch halb
so zahlreich zu finden als das magyarische. Damals hatte Temesvar uuter
seinen 14 000 Einwohnern kaum ein Dutzend magyarische, jetzt hat es deren
unter einer Bevölkerung von 29 000 Seelen bereits 7000. In Arad bildete
1835 das Deutschtum die Mehrheit gegenüber dem Magyarentume, beide Ele-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/515>, abgerufen am 27.09.2024.