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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Als der Großvater die Großmutter nahm.

Allmählich fangen nun auch die Zeitereignisse an, die volkstümliche Dich¬
tung zu beeinflussen. Schon in Schubarts Kaplied: Auf, auf! ihr Brüder
und seid stark, der Abschiedstag ist da! 1787 erschienen, mischt sich mit dem
Abschiede von der Heimat eine politische Empfindung, aber erst die Franzosen¬
zeit weckte das politische Lied. Kriegslieder, patriotische Lieder, Spottlieder
wechseln miteinander ab. Weder der dreißigjährige, noch der siebenjährige Krieg
hatten das Volk nachhaltig angeregt, in der Poesie einen Ausdruck nationaler
Begeisterung zu suchen, die dahinzielenden Kuustdichtungeu, wie Gleims Kriegs¬
lieder eines preußischen Grenadiers oder Kleists Oden, gingen spurlos an ihm
vorüber, nur im Volksliede machte sich der nationale Humor Luft:


Und wenn der große Friedrich kommt
Und klopft nur ans die Hosen,
So läuft die ganze Reichsnrmee,
Pandurcn und Franzosen.

Die Despotie Napoleons erregte den Zorn der Deutschen; Körners, Schenkcn-
dorfs, Arndts Lieder drangen sogleich in die Menge ein und entzündeten die
Kampflust. Aber auch andre Gesänge von minder bedeutenden Dichtern machten
die Runde: Die Feldflasche (Helft Leutchen mir vom Wagen doch) von Veith,
Mahlmanns Gott segne Sachsenland, Körners Gelehriger Bauer und
Kleine Krebse. Die Kampfesfreudigkeit erlosch nicht wieder. Hauffs Lieder:
Reiters Morgengesang (Morgenrot, leuchtest mir zum frühen Tod) und
Soldatenliebe (Steh' ich in finstrer Mitternacht) sind in den zwanziger
Jahren gedichtet. Wie sie alten Volksliedern entstammten, so wurden sie selbst
wieder Volkslieder. Überhaupt erweitert sich der Horizont des Volksbewußt¬
seins zusehends. Der Blick schweift in die Ferne und kehrt doch immer wieder
mit innigem Behagen zur heimische" Erde zurück. Kletkes In die Ferne
(Siehst du im Abend die Wolken ziehn), Geibels Zigeunerknabe im Norden
(Fern im Süd das schöne Spanien) und Nikolaus Beckers Deutscher Rhein
(Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein) sind frühe schöne
Blüten dieser bis in die Gegenwart reichenden Freude am Fernen und Nahen.
Merkwürdig ist die Teilnahme des Volkes an dem Schicksale Polens bei der
Erhebung von 1830. Während andre politische Ereignisse, z. B. die Juli-
revolution in Frankreich ziemlich spurlos am Herzen der Nation vorüberglitten,
erweckte diese große Tragödie des Ostens lebhaftes Mitgefühl. Ortlepps
^mis ?0l0iÜAg (Noch ist Polen nicht verloren) und Mosers: Die letzten Zehn
vom vierten Regiment drangen bis in die Kinderstube.

Von den literarischen Strömungen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts
ging die eine ganz über den Häuptern der Bürger und Bauern hinweg, wäh¬
rend die andre den innersten Grund des Volkslebens berührte. Die roman¬
tische Schule wirkte trotz der zarten Minnelieder und trotz ihrer Wald-, Feld-
und Bergmärchen nur auf die gelehrte Welt, aber die schwäbischen Dichter,


Als der Großvater die Großmutter nahm.

Allmählich fangen nun auch die Zeitereignisse an, die volkstümliche Dich¬
tung zu beeinflussen. Schon in Schubarts Kaplied: Auf, auf! ihr Brüder
und seid stark, der Abschiedstag ist da! 1787 erschienen, mischt sich mit dem
Abschiede von der Heimat eine politische Empfindung, aber erst die Franzosen¬
zeit weckte das politische Lied. Kriegslieder, patriotische Lieder, Spottlieder
wechseln miteinander ab. Weder der dreißigjährige, noch der siebenjährige Krieg
hatten das Volk nachhaltig angeregt, in der Poesie einen Ausdruck nationaler
Begeisterung zu suchen, die dahinzielenden Kuustdichtungeu, wie Gleims Kriegs¬
lieder eines preußischen Grenadiers oder Kleists Oden, gingen spurlos an ihm
vorüber, nur im Volksliede machte sich der nationale Humor Luft:


Und wenn der große Friedrich kommt
Und klopft nur ans die Hosen,
So läuft die ganze Reichsnrmee,
Pandurcn und Franzosen.

Die Despotie Napoleons erregte den Zorn der Deutschen; Körners, Schenkcn-
dorfs, Arndts Lieder drangen sogleich in die Menge ein und entzündeten die
Kampflust. Aber auch andre Gesänge von minder bedeutenden Dichtern machten
die Runde: Die Feldflasche (Helft Leutchen mir vom Wagen doch) von Veith,
Mahlmanns Gott segne Sachsenland, Körners Gelehriger Bauer und
Kleine Krebse. Die Kampfesfreudigkeit erlosch nicht wieder. Hauffs Lieder:
Reiters Morgengesang (Morgenrot, leuchtest mir zum frühen Tod) und
Soldatenliebe (Steh' ich in finstrer Mitternacht) sind in den zwanziger
Jahren gedichtet. Wie sie alten Volksliedern entstammten, so wurden sie selbst
wieder Volkslieder. Überhaupt erweitert sich der Horizont des Volksbewußt¬
seins zusehends. Der Blick schweift in die Ferne und kehrt doch immer wieder
mit innigem Behagen zur heimische» Erde zurück. Kletkes In die Ferne
(Siehst du im Abend die Wolken ziehn), Geibels Zigeunerknabe im Norden
(Fern im Süd das schöne Spanien) und Nikolaus Beckers Deutscher Rhein
(Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein) sind frühe schöne
Blüten dieser bis in die Gegenwart reichenden Freude am Fernen und Nahen.
Merkwürdig ist die Teilnahme des Volkes an dem Schicksale Polens bei der
Erhebung von 1830. Während andre politische Ereignisse, z. B. die Juli-
revolution in Frankreich ziemlich spurlos am Herzen der Nation vorüberglitten,
erweckte diese große Tragödie des Ostens lebhaftes Mitgefühl. Ortlepps
^mis ?0l0iÜAg (Noch ist Polen nicht verloren) und Mosers: Die letzten Zehn
vom vierten Regiment drangen bis in die Kinderstube.

Von den literarischen Strömungen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts
ging die eine ganz über den Häuptern der Bürger und Bauern hinweg, wäh¬
rend die andre den innersten Grund des Volkslebens berührte. Die roman¬
tische Schule wirkte trotz der zarten Minnelieder und trotz ihrer Wald-, Feld-
und Bergmärchen nur auf die gelehrte Welt, aber die schwäbischen Dichter,


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[0399] Als der Großvater die Großmutter nahm. Allmählich fangen nun auch die Zeitereignisse an, die volkstümliche Dich¬ tung zu beeinflussen. Schon in Schubarts Kaplied: Auf, auf! ihr Brüder und seid stark, der Abschiedstag ist da! 1787 erschienen, mischt sich mit dem Abschiede von der Heimat eine politische Empfindung, aber erst die Franzosen¬ zeit weckte das politische Lied. Kriegslieder, patriotische Lieder, Spottlieder wechseln miteinander ab. Weder der dreißigjährige, noch der siebenjährige Krieg hatten das Volk nachhaltig angeregt, in der Poesie einen Ausdruck nationaler Begeisterung zu suchen, die dahinzielenden Kuustdichtungeu, wie Gleims Kriegs¬ lieder eines preußischen Grenadiers oder Kleists Oden, gingen spurlos an ihm vorüber, nur im Volksliede machte sich der nationale Humor Luft: Und wenn der große Friedrich kommt Und klopft nur ans die Hosen, So läuft die ganze Reichsnrmee, Pandurcn und Franzosen. Die Despotie Napoleons erregte den Zorn der Deutschen; Körners, Schenkcn- dorfs, Arndts Lieder drangen sogleich in die Menge ein und entzündeten die Kampflust. Aber auch andre Gesänge von minder bedeutenden Dichtern machten die Runde: Die Feldflasche (Helft Leutchen mir vom Wagen doch) von Veith, Mahlmanns Gott segne Sachsenland, Körners Gelehriger Bauer und Kleine Krebse. Die Kampfesfreudigkeit erlosch nicht wieder. Hauffs Lieder: Reiters Morgengesang (Morgenrot, leuchtest mir zum frühen Tod) und Soldatenliebe (Steh' ich in finstrer Mitternacht) sind in den zwanziger Jahren gedichtet. Wie sie alten Volksliedern entstammten, so wurden sie selbst wieder Volkslieder. Überhaupt erweitert sich der Horizont des Volksbewußt¬ seins zusehends. Der Blick schweift in die Ferne und kehrt doch immer wieder mit innigem Behagen zur heimische» Erde zurück. Kletkes In die Ferne (Siehst du im Abend die Wolken ziehn), Geibels Zigeunerknabe im Norden (Fern im Süd das schöne Spanien) und Nikolaus Beckers Deutscher Rhein (Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein) sind frühe schöne Blüten dieser bis in die Gegenwart reichenden Freude am Fernen und Nahen. Merkwürdig ist die Teilnahme des Volkes an dem Schicksale Polens bei der Erhebung von 1830. Während andre politische Ereignisse, z. B. die Juli- revolution in Frankreich ziemlich spurlos am Herzen der Nation vorüberglitten, erweckte diese große Tragödie des Ostens lebhaftes Mitgefühl. Ortlepps ^mis ?0l0iÜAg (Noch ist Polen nicht verloren) und Mosers: Die letzten Zehn vom vierten Regiment drangen bis in die Kinderstube. Von den literarischen Strömungen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts ging die eine ganz über den Häuptern der Bürger und Bauern hinweg, wäh¬ rend die andre den innersten Grund des Volkslebens berührte. Die roman¬ tische Schule wirkte trotz der zarten Minnelieder und trotz ihrer Wald-, Feld- und Bergmärchen nur auf die gelehrte Welt, aber die schwäbischen Dichter,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/399>, abgerufen am 15.01.2025.