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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Als der Großvater die Großmutter nahm.

lieber" kennt man die Verfasser, bei vielen ist der Name des bescheidnen Pfarrers
oder Lehrers, der sie gedichtet hat, verloren gegangen. Die Kinder, das "kleine
Volk," ist übrigens el" sehr wichtiger Teil des Publikums, von dessen Beifall
die Unsterblichkeit unsrer Hauspoesie abhängt. Ans die Kinder folgen die "jungen
Leute," die freudcheischenden, liebebedürftigen, aber auch sehr gern in schwer¬
mütigen Todesbetrachtungen wühlenden Jünglinge und Mädchen. Ihnen ge¬
hören die Balladen, Romanzen, Liebeslieder, Trinklieder, Soldatenlieder, Wander¬
lieder und die sentimentalen Naturbetrachtungen. Mit besondrer Vorliebe führen
sie ein handschriftliches Liederbuch, in das sie sorgfältig eintragen, was ihnen
in den Sammlungen andrer besonders gefällt. Im Tornister des Soldaten, im
Ränzel des Handwerksburschen, in der Truhe des Bauermädchens und in der
Lade unsrer städtischen Dienstmädchen führen diese Sammlungen ein geheimnis¬
volles Dasein. Nur Gleichalterigen, Mitfühlenden ist es vergönnt, einen Blick
zu thun in das Tagebuch der jugendlichen Schwärmerei oder des jugendlichen
Übermutes, vor ältern Leuten wird es verborgen gehalten. Durch dieses Ab¬
schreiben, welches mit dem Bücherschreiben der Mönche und Ritterdamen im
Mittelalter verwandt ist, nur daß es diese alte Art des Büchcrerwerbs in einer
größern Tiefe des Volkslebens weiter betreibt, werden viele Kunstdichtungen zu
Volksliedern. Was kümmert den rüstigen Burschen und das sinnende Mägdlein
der Name des Dichters! In meiner Jngend galt das Lied eines Lcuidmannes
in der Fremde von Salis: Tränke Heimat meiner Lieben ganz als Volkslied.
Meine Großmutter erzählte mir, ein Student, der aus Brandes (etwa drei
Stunden östlich von Leipzig) stamme, habe es gedichtet und seinen Eltern ge¬
schickt, die es dann als ein Heiligtum aufbewahrt hätten. So wurde der Ab¬
schreiber für den Dichter gehalten. Daß sich in den geschriebenen Liederbüchern
zuweilen auch entsetzliche Gassenhauer, ja unanständige Reimereien vorfinden, ist
bekannt, und es ist merkwürdig, mit welcher Naivität diese Dinge "des Spaßes
wegen" weiter getragen werden. Doch das gehört nicht hierher, unser Liederbuch
hat es nur mit dem echten, wahrhaft poetischen Besitztume des Volkes zu thun.

Das, was am entschiedensten einem Gedichte die volkstümliche Weihe giebt,
es gleichsam mit derselben durchdringt, ist die Melodie, die Musik. Durch sie werden
Schullieder, Liebes-, Trink-, Soldatenlieder, Opcrntexte populär. Der Komponist
ist der Herold des Dichters; wie dieser die Thaten des Helden verklärt, so führt
der Komponist die Dichterwerke ins Leben ein. Freilich hat die Musik auch ihre
Launen. Sie entscheidet meist über die Zeitdauer der Popularität. Wenn die
Melodie veraltet, dann altert anch sehr oft das Gedicht; die Musik, die es zu
den Sternen getragen hat, zieht es anch mit sich herab. So erklärt sich das
Kommen und Gehen der Lieblingsgedichte des Volkes. Manche haben nur eine
sehr kurze Dauer, sie überleben kaum ein Jahr, manche verleihen einer ganzen
Generation von Kindern oder jungen Leuten den eigentümlichen Zauber einer
bestimmten Weltanschauung oder einer bestimmten Gefühlslagc, und wehmütig


Als der Großvater die Großmutter nahm.

lieber" kennt man die Verfasser, bei vielen ist der Name des bescheidnen Pfarrers
oder Lehrers, der sie gedichtet hat, verloren gegangen. Die Kinder, das „kleine
Volk," ist übrigens el» sehr wichtiger Teil des Publikums, von dessen Beifall
die Unsterblichkeit unsrer Hauspoesie abhängt. Ans die Kinder folgen die „jungen
Leute," die freudcheischenden, liebebedürftigen, aber auch sehr gern in schwer¬
mütigen Todesbetrachtungen wühlenden Jünglinge und Mädchen. Ihnen ge¬
hören die Balladen, Romanzen, Liebeslieder, Trinklieder, Soldatenlieder, Wander¬
lieder und die sentimentalen Naturbetrachtungen. Mit besondrer Vorliebe führen
sie ein handschriftliches Liederbuch, in das sie sorgfältig eintragen, was ihnen
in den Sammlungen andrer besonders gefällt. Im Tornister des Soldaten, im
Ränzel des Handwerksburschen, in der Truhe des Bauermädchens und in der
Lade unsrer städtischen Dienstmädchen führen diese Sammlungen ein geheimnis¬
volles Dasein. Nur Gleichalterigen, Mitfühlenden ist es vergönnt, einen Blick
zu thun in das Tagebuch der jugendlichen Schwärmerei oder des jugendlichen
Übermutes, vor ältern Leuten wird es verborgen gehalten. Durch dieses Ab¬
schreiben, welches mit dem Bücherschreiben der Mönche und Ritterdamen im
Mittelalter verwandt ist, nur daß es diese alte Art des Büchcrerwerbs in einer
größern Tiefe des Volkslebens weiter betreibt, werden viele Kunstdichtungen zu
Volksliedern. Was kümmert den rüstigen Burschen und das sinnende Mägdlein
der Name des Dichters! In meiner Jngend galt das Lied eines Lcuidmannes
in der Fremde von Salis: Tränke Heimat meiner Lieben ganz als Volkslied.
Meine Großmutter erzählte mir, ein Student, der aus Brandes (etwa drei
Stunden östlich von Leipzig) stamme, habe es gedichtet und seinen Eltern ge¬
schickt, die es dann als ein Heiligtum aufbewahrt hätten. So wurde der Ab¬
schreiber für den Dichter gehalten. Daß sich in den geschriebenen Liederbüchern
zuweilen auch entsetzliche Gassenhauer, ja unanständige Reimereien vorfinden, ist
bekannt, und es ist merkwürdig, mit welcher Naivität diese Dinge „des Spaßes
wegen" weiter getragen werden. Doch das gehört nicht hierher, unser Liederbuch
hat es nur mit dem echten, wahrhaft poetischen Besitztume des Volkes zu thun.

Das, was am entschiedensten einem Gedichte die volkstümliche Weihe giebt,
es gleichsam mit derselben durchdringt, ist die Melodie, die Musik. Durch sie werden
Schullieder, Liebes-, Trink-, Soldatenlieder, Opcrntexte populär. Der Komponist
ist der Herold des Dichters; wie dieser die Thaten des Helden verklärt, so führt
der Komponist die Dichterwerke ins Leben ein. Freilich hat die Musik auch ihre
Launen. Sie entscheidet meist über die Zeitdauer der Popularität. Wenn die
Melodie veraltet, dann altert anch sehr oft das Gedicht; die Musik, die es zu
den Sternen getragen hat, zieht es anch mit sich herab. So erklärt sich das
Kommen und Gehen der Lieblingsgedichte des Volkes. Manche haben nur eine
sehr kurze Dauer, sie überleben kaum ein Jahr, manche verleihen einer ganzen
Generation von Kindern oder jungen Leuten den eigentümlichen Zauber einer
bestimmten Weltanschauung oder einer bestimmten Gefühlslagc, und wehmütig


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[0396] Als der Großvater die Großmutter nahm. lieber" kennt man die Verfasser, bei vielen ist der Name des bescheidnen Pfarrers oder Lehrers, der sie gedichtet hat, verloren gegangen. Die Kinder, das „kleine Volk," ist übrigens el» sehr wichtiger Teil des Publikums, von dessen Beifall die Unsterblichkeit unsrer Hauspoesie abhängt. Ans die Kinder folgen die „jungen Leute," die freudcheischenden, liebebedürftigen, aber auch sehr gern in schwer¬ mütigen Todesbetrachtungen wühlenden Jünglinge und Mädchen. Ihnen ge¬ hören die Balladen, Romanzen, Liebeslieder, Trinklieder, Soldatenlieder, Wander¬ lieder und die sentimentalen Naturbetrachtungen. Mit besondrer Vorliebe führen sie ein handschriftliches Liederbuch, in das sie sorgfältig eintragen, was ihnen in den Sammlungen andrer besonders gefällt. Im Tornister des Soldaten, im Ränzel des Handwerksburschen, in der Truhe des Bauermädchens und in der Lade unsrer städtischen Dienstmädchen führen diese Sammlungen ein geheimnis¬ volles Dasein. Nur Gleichalterigen, Mitfühlenden ist es vergönnt, einen Blick zu thun in das Tagebuch der jugendlichen Schwärmerei oder des jugendlichen Übermutes, vor ältern Leuten wird es verborgen gehalten. Durch dieses Ab¬ schreiben, welches mit dem Bücherschreiben der Mönche und Ritterdamen im Mittelalter verwandt ist, nur daß es diese alte Art des Büchcrerwerbs in einer größern Tiefe des Volkslebens weiter betreibt, werden viele Kunstdichtungen zu Volksliedern. Was kümmert den rüstigen Burschen und das sinnende Mägdlein der Name des Dichters! In meiner Jngend galt das Lied eines Lcuidmannes in der Fremde von Salis: Tränke Heimat meiner Lieben ganz als Volkslied. Meine Großmutter erzählte mir, ein Student, der aus Brandes (etwa drei Stunden östlich von Leipzig) stamme, habe es gedichtet und seinen Eltern ge¬ schickt, die es dann als ein Heiligtum aufbewahrt hätten. So wurde der Ab¬ schreiber für den Dichter gehalten. Daß sich in den geschriebenen Liederbüchern zuweilen auch entsetzliche Gassenhauer, ja unanständige Reimereien vorfinden, ist bekannt, und es ist merkwürdig, mit welcher Naivität diese Dinge „des Spaßes wegen" weiter getragen werden. Doch das gehört nicht hierher, unser Liederbuch hat es nur mit dem echten, wahrhaft poetischen Besitztume des Volkes zu thun. Das, was am entschiedensten einem Gedichte die volkstümliche Weihe giebt, es gleichsam mit derselben durchdringt, ist die Melodie, die Musik. Durch sie werden Schullieder, Liebes-, Trink-, Soldatenlieder, Opcrntexte populär. Der Komponist ist der Herold des Dichters; wie dieser die Thaten des Helden verklärt, so führt der Komponist die Dichterwerke ins Leben ein. Freilich hat die Musik auch ihre Launen. Sie entscheidet meist über die Zeitdauer der Popularität. Wenn die Melodie veraltet, dann altert anch sehr oft das Gedicht; die Musik, die es zu den Sternen getragen hat, zieht es anch mit sich herab. So erklärt sich das Kommen und Gehen der Lieblingsgedichte des Volkes. Manche haben nur eine sehr kurze Dauer, sie überleben kaum ein Jahr, manche verleihen einer ganzen Generation von Kindern oder jungen Leuten den eigentümlichen Zauber einer bestimmten Weltanschauung oder einer bestimmten Gefühlslagc, und wehmütig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/396>, abgerufen am 20.10.2024.