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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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ziehen, welche zugleich die Ursachen und die Entwicklung derselben ins Auge
fassen und die Mittel betrachten wird, die dem Übel Einhalt zu thun und be¬
friedigende Verhältnisse zu schaffen geeignet wären. Für jetzt geben wir nnr
als Einleitung und Vorbereitung einen historisch-statistischen Überblick über das
Deutschtum im österreichisch-ungarischen Doppelstaate überhaupt. Zunächst aber
wolle man uns einige Bemerkungen gestatten, die uns vor Mißdeutung unsers
Unternehmens sicherstellen sollen.

Die Pflichten, welche uns die Bedrängnis der Deutschen in Schleswig-
Holstein um die Mitte und bis über das Ende der fünfziger Jahre hinaus,
dann die Angriffe auf das nationale Interesse unsrer Volksgenossen in den
baltischen Provinzen des russischen Reiches und zuletzt die Vergewaltigung des
deutschen Elementes in den Habsburgischen Landen diesseits und jenseits der
Leitha auferlegten, waren ähnliche, aber nicht gleiche, zunächst weil uns im
zweiten und dritten Falle nicht dasselbe Recht, dann, weil uns in ihnen nicht die¬
selbe Macht, einzugreifen und Wandel zu schaffen, zur Seite steht wie im ersten.
Die "Schleswig-Holsteinischen Briefe" der Grenzboten gehörten zu den Sturm¬
vögeln, welche in dunkler Zeit einem Befreiungskriege vvrausflogeu, der übrigens
auch erst möglich wurde, als die dänische Negierung, von der Kopenhagener Demo¬
kratie gezwungen, eine völkerrechtliche Verpflichtung gebrochen hatte. In Betreff
der baltischen Frage, wo die russische Regierung ebenfalls mehr einer Partei
zu folgen, als aus eigner Überzeugung zu handeln scheint, vermögen wir für
die deutsche Politik gegenwärtig keinerlei Befugnis zur Einmischung, bestünde
sie auch nur in freundschaftlichen diplomatischen Vorstellungen, zu entdecken,
wohl aber raten Gründe, die zu Tage liegen, dringend, davon abzusehen. Nur
das Gefühl braucht sich hier sein Recht nicht nehmen zu lassen. Unsre Presse
darf über das Unheil klagen, durch Mitempfinden einigermaßen trösten und
vielleicht auf die Möglichkeit besserer Tage hindeuten, die aber, von jetzt wohl
fernen großen politischen Wendungen abgesehen, immer nnr darin liegen würde,
daß man in Petersburg einmal zu der Erkenntnis gelangte, man schade mit
den betreffenden Maßregeln gegen den sittlich tüchtigsten, intelligentesten und
loyalsten Teil der Untertanen des Zaren sich selbst. Nicht viel anders verhält
es sich mit unsrer Stellung zu der Übeln Lage, in welche sich das Deutschtum
in Österreich und Ungarn durch die Ansprüche und Erfolge der Slawen und
Magyaren gebracht sieht. Auch hier handelt die Regierung mehr geschoben
und gezogen als aus eignem Antriebe, auch hier läuft sie Gefahr, dem Reiche
schwere Nachteile zuzufügen und verhängnisvolles Unheil heraufzubeschwören,
aber auch hier haben wir uus zu bescheiden und zu beschränken; denn auch hier
stehen wir Deutschen im Reiche vor einer innern Frage im Hause des Nachbars, der
uns zudem seit 1879 in eminenten Sinne ein getreuer Nachbar ist. Ob bei
ihm wohlwollende Vorstellungen privater Natur, die auf die Gefahr hinwiesen,
nicht, wenn sie von der rechten Stelle ausgingen, an maßgebenden Orte Ver-


ziehen, welche zugleich die Ursachen und die Entwicklung derselben ins Auge
fassen und die Mittel betrachten wird, die dem Übel Einhalt zu thun und be¬
friedigende Verhältnisse zu schaffen geeignet wären. Für jetzt geben wir nnr
als Einleitung und Vorbereitung einen historisch-statistischen Überblick über das
Deutschtum im österreichisch-ungarischen Doppelstaate überhaupt. Zunächst aber
wolle man uns einige Bemerkungen gestatten, die uns vor Mißdeutung unsers
Unternehmens sicherstellen sollen.

Die Pflichten, welche uns die Bedrängnis der Deutschen in Schleswig-
Holstein um die Mitte und bis über das Ende der fünfziger Jahre hinaus,
dann die Angriffe auf das nationale Interesse unsrer Volksgenossen in den
baltischen Provinzen des russischen Reiches und zuletzt die Vergewaltigung des
deutschen Elementes in den Habsburgischen Landen diesseits und jenseits der
Leitha auferlegten, waren ähnliche, aber nicht gleiche, zunächst weil uns im
zweiten und dritten Falle nicht dasselbe Recht, dann, weil uns in ihnen nicht die¬
selbe Macht, einzugreifen und Wandel zu schaffen, zur Seite steht wie im ersten.
Die „Schleswig-Holsteinischen Briefe" der Grenzboten gehörten zu den Sturm¬
vögeln, welche in dunkler Zeit einem Befreiungskriege vvrausflogeu, der übrigens
auch erst möglich wurde, als die dänische Negierung, von der Kopenhagener Demo¬
kratie gezwungen, eine völkerrechtliche Verpflichtung gebrochen hatte. In Betreff
der baltischen Frage, wo die russische Regierung ebenfalls mehr einer Partei
zu folgen, als aus eigner Überzeugung zu handeln scheint, vermögen wir für
die deutsche Politik gegenwärtig keinerlei Befugnis zur Einmischung, bestünde
sie auch nur in freundschaftlichen diplomatischen Vorstellungen, zu entdecken,
wohl aber raten Gründe, die zu Tage liegen, dringend, davon abzusehen. Nur
das Gefühl braucht sich hier sein Recht nicht nehmen zu lassen. Unsre Presse
darf über das Unheil klagen, durch Mitempfinden einigermaßen trösten und
vielleicht auf die Möglichkeit besserer Tage hindeuten, die aber, von jetzt wohl
fernen großen politischen Wendungen abgesehen, immer nnr darin liegen würde,
daß man in Petersburg einmal zu der Erkenntnis gelangte, man schade mit
den betreffenden Maßregeln gegen den sittlich tüchtigsten, intelligentesten und
loyalsten Teil der Untertanen des Zaren sich selbst. Nicht viel anders verhält
es sich mit unsrer Stellung zu der Übeln Lage, in welche sich das Deutschtum
in Österreich und Ungarn durch die Ansprüche und Erfolge der Slawen und
Magyaren gebracht sieht. Auch hier handelt die Regierung mehr geschoben
und gezogen als aus eignem Antriebe, auch hier läuft sie Gefahr, dem Reiche
schwere Nachteile zuzufügen und verhängnisvolles Unheil heraufzubeschwören,
aber auch hier haben wir uus zu bescheiden und zu beschränken; denn auch hier
stehen wir Deutschen im Reiche vor einer innern Frage im Hause des Nachbars, der
uns zudem seit 1879 in eminenten Sinne ein getreuer Nachbar ist. Ob bei
ihm wohlwollende Vorstellungen privater Natur, die auf die Gefahr hinwiesen,
nicht, wenn sie von der rechten Stelle ausgingen, an maßgebenden Orte Ver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/362>, abgerufen am 19.10.2024.