Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.Zur Lebensbeschreibung Heinrichs von Uleist. nicht die Poesie? Aus welchem Grunde sucht er die Unabhängigkeit, wenn nicht Weiter: "Nicht ein bestimmtes wissenschaftliches Ziel schwebt ihm bor"; Otto Brahms Stellung zu dieser letztern Frage ist miederum so verschieden Zur Lebensbeschreibung Heinrichs von Uleist. nicht die Poesie? Aus welchem Grunde sucht er die Unabhängigkeit, wenn nicht Weiter: „Nicht ein bestimmtes wissenschaftliches Ziel schwebt ihm bor"; Otto Brahms Stellung zu dieser letztern Frage ist miederum so verschieden <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0333" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/199687"/> <fw type="header" place="top"> Zur Lebensbeschreibung Heinrichs von Uleist.</fw><lb/> <p xml:id="ID_1332" prev="#ID_1331"> nicht die Poesie? Aus welchem Grunde sucht er die Unabhängigkeit, wenn nicht<lb/> um der Poesie willen? Nur auf sein Herz will er bauen; sein Herz aber<lb/> sagt ihm mit lauter Stimme: Dein Genius bedarf der Freiheit, du darfst ihn<lb/> durch ein Amt nimmermehr beengen! Und er hat auf sein leidenschaftliches Herz<lb/> gebaut, er hat dem Rufe desselben Folge gegeben und jeder andern Stimme<lb/> das Ohr versagt.</p><lb/> <p xml:id="ID_1333"> Weiter: „Nicht ein bestimmtes wissenschaftliches Ziel schwebt ihm bor";<lb/> vielmehr will er alles auf einmal studiren: Mathematik, Philosophie, die klassischen<lb/> Sprachen, Literatur, Physik, sogar von „höherer Theologie" ist die Rede. Hinter<lb/> dieser allumfassenden Absicht bleibt natürlich die That weit zurück. Sein<lb/> Studium ist nicht ein ruhiges Erfassen der Wissenschaften, sondern ein rastloses<lb/> Haschen bald nach dieser, bald nach jener. Er macht nicht den Eindruck eines<lb/> Mannes, dem es einzig um den Besitz des Wissens zu thun ist, sondern eines,<lb/> der stets in der Angst lebt, bei dem einen Thun das andre, wichtigere zu ver¬<lb/> säumen. Er stürzt sich von Wissenschaft zu Wissenschaft, wird bald aller über¬<lb/> drüssig und „sehnt sich aus den Gefilden der Wissenschaften in diejenigen der<lb/> Kunst" — „zunächst als ein Genießender" setzt Otto Brahm hinzu, indem er<lb/> sich nicht denken kann, daß Kleist schon damals das Bedürfnis dichterischen<lb/> Schaffens sollte gelaunt haben. Brahm muß diese Ansicht hegen, gemäß seiner<lb/> Überzeugung, daß Heinrich erst in Würzburg seinen wahren Beruf „entdeckt"<lb/> habe. Wir aber haben durchaus keinen Grund, bei Kleist ein lediglich passives<lb/> Interesse für die Kunst vorauszusetzen. Übrigens wissen wir bestimmt, daß<lb/> Heinrich in der Studienzeit sich mit der Dramatisirung von Sprichwörtern be¬<lb/> schäftigte und die Aufführung derselben, die seine Freundinnen veranstalteten,<lb/> überwachte — eine Thätigkeit, die uns auf das gewisseste zeigt, daß Kleist bereits<lb/> in jener Zeit nicht nur ein thätiges Interesse für die „Kunst" überhaupt hegte,<lb/> sondern daß er sogar derjenigen Kunstgattnng, die ihm zeitlebens die teuerste blieb,<lb/> dem Drama, nahe genug getreten war, um Vorübungen für dieselbe zu macheu.</p><lb/> <p xml:id="ID_1334" next="#ID_1335"> Otto Brahms Stellung zu dieser letztern Frage ist miederum so verschieden<lb/> von der oben entwickelten Ansicht, daß sein Standpunkt eine kurze Beleuchtung<lb/> erfordert. Er erzählt uns, indem er sich in diesem Punkte auf Julian Schmidt<lb/> stützt, daß bei Kleist, dem Studenten, der Lchrtrieb sich überstark erwiesen und,<lb/> wie später der Trieb zur Poesie, alles andre ertötet habe. „Er lehrte selbst<lb/> — schreibt Brahm — was er gestern gelernt hatte, und regte die Frauen an, auch<lb/> auf andre Art ihre sehr unvollkommene Bildung zu erhöhen. ... Es las ihnen<lb/> ein Kolleg über Kulturgeschichte . . . Auch auf die Spiele der jungen Mädchen<lb/> achtete er, er dramatisirte Sprichwörter für sie und studirte die Aufführung<lb/> ein, und an andern Gelegenheitsgedichten wird es gleichfalls nicht gefehlt haben."<lb/> Wunderbar! Brahm erkennt, wenn er den Dramatiker Kleist mit der Verferti¬<lb/> gung kleiner Dramen beschäftigt sieht, darin nichts andres, als die Äußerungen<lb/> eines Pädagogischen Geistes. Nun wahrlich, wenn man die ersten Knospen eines</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0333]
Zur Lebensbeschreibung Heinrichs von Uleist.
nicht die Poesie? Aus welchem Grunde sucht er die Unabhängigkeit, wenn nicht
um der Poesie willen? Nur auf sein Herz will er bauen; sein Herz aber
sagt ihm mit lauter Stimme: Dein Genius bedarf der Freiheit, du darfst ihn
durch ein Amt nimmermehr beengen! Und er hat auf sein leidenschaftliches Herz
gebaut, er hat dem Rufe desselben Folge gegeben und jeder andern Stimme
das Ohr versagt.
Weiter: „Nicht ein bestimmtes wissenschaftliches Ziel schwebt ihm bor";
vielmehr will er alles auf einmal studiren: Mathematik, Philosophie, die klassischen
Sprachen, Literatur, Physik, sogar von „höherer Theologie" ist die Rede. Hinter
dieser allumfassenden Absicht bleibt natürlich die That weit zurück. Sein
Studium ist nicht ein ruhiges Erfassen der Wissenschaften, sondern ein rastloses
Haschen bald nach dieser, bald nach jener. Er macht nicht den Eindruck eines
Mannes, dem es einzig um den Besitz des Wissens zu thun ist, sondern eines,
der stets in der Angst lebt, bei dem einen Thun das andre, wichtigere zu ver¬
säumen. Er stürzt sich von Wissenschaft zu Wissenschaft, wird bald aller über¬
drüssig und „sehnt sich aus den Gefilden der Wissenschaften in diejenigen der
Kunst" — „zunächst als ein Genießender" setzt Otto Brahm hinzu, indem er
sich nicht denken kann, daß Kleist schon damals das Bedürfnis dichterischen
Schaffens sollte gelaunt haben. Brahm muß diese Ansicht hegen, gemäß seiner
Überzeugung, daß Heinrich erst in Würzburg seinen wahren Beruf „entdeckt"
habe. Wir aber haben durchaus keinen Grund, bei Kleist ein lediglich passives
Interesse für die Kunst vorauszusetzen. Übrigens wissen wir bestimmt, daß
Heinrich in der Studienzeit sich mit der Dramatisirung von Sprichwörtern be¬
schäftigte und die Aufführung derselben, die seine Freundinnen veranstalteten,
überwachte — eine Thätigkeit, die uns auf das gewisseste zeigt, daß Kleist bereits
in jener Zeit nicht nur ein thätiges Interesse für die „Kunst" überhaupt hegte,
sondern daß er sogar derjenigen Kunstgattnng, die ihm zeitlebens die teuerste blieb,
dem Drama, nahe genug getreten war, um Vorübungen für dieselbe zu macheu.
Otto Brahms Stellung zu dieser letztern Frage ist miederum so verschieden
von der oben entwickelten Ansicht, daß sein Standpunkt eine kurze Beleuchtung
erfordert. Er erzählt uns, indem er sich in diesem Punkte auf Julian Schmidt
stützt, daß bei Kleist, dem Studenten, der Lchrtrieb sich überstark erwiesen und,
wie später der Trieb zur Poesie, alles andre ertötet habe. „Er lehrte selbst
— schreibt Brahm — was er gestern gelernt hatte, und regte die Frauen an, auch
auf andre Art ihre sehr unvollkommene Bildung zu erhöhen. ... Es las ihnen
ein Kolleg über Kulturgeschichte . . . Auch auf die Spiele der jungen Mädchen
achtete er, er dramatisirte Sprichwörter für sie und studirte die Aufführung
ein, und an andern Gelegenheitsgedichten wird es gleichfalls nicht gefehlt haben."
Wunderbar! Brahm erkennt, wenn er den Dramatiker Kleist mit der Verferti¬
gung kleiner Dramen beschäftigt sieht, darin nichts andres, als die Äußerungen
eines Pädagogischen Geistes. Nun wahrlich, wenn man die ersten Knospen eines
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