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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Das Wachstum der Sozialdemokratie nach der Statistik der Reichstagswahlen.

demokratischen Kandidaten bei den Stichwahlen, sondern auch in der Zer¬
splitterung der sozialdemokratischen Stimmen über das ganze Reich. Nur in
den preußischen Regierungsbezirken Marienwerder, Stralsund, Oppeln, Münster,
Aachen, Koblenz, drei kleinen Fürstentümern und Elsaß-Lothringen gab es keine
sozialdemokratische Stimme. In Berlin gingen 31500, in Breslciu 8600, in
den freien Städten 35 200, in Elberfeld-Barmer 11400 Sozialdemokraten zur
Wahlurne. In ganz Schlesien zählte man jetzt 23450, im Königreich Sachsen
124 000, in der Provinz Sachsen 20000 sozialdemokratische Stimmen, während
in Ostpreußen, Westpreußen und Posen die kommunistische Idee keine oder eine
kaum nennenswerte Propaganda gemacht hatte. Mehring hat in seiner historisch¬
kritischen Darstellung der Sozialdemokratie (1878) die zutreffende Bemerkung
gemacht: "Wo bereits eine starke Opposition gegell das Reich vorhanden ist
(in den Protestlerischen, welfischen, polnischen und ultramontanen Wahlkreisen),
bleibt die Sozialdemokratie auf die Dauer machtlos." Nur wird man zugeben
müssen, daß die Zentrumspartei noch andre Umstände als ihre Opposition gegen
die Kultnrkampfgcsetze im Reiche und in Preußen zu ihren Gunsten gegen die
Sozialdemokratie hundelt darf.

Die Wahlen des Jahres 1878 brachten der Partei nur einen Abgang von
50000 Stimmen und verminderten ihre Abgeordneten um drei. In Berlin, dem
Schauplatze der beiden fluchwürdige" Attentate, gewann sie nicht weniger als
25 000 Stimmen, verlor aber trotzdem ein Mandat. Auch im Königreiche
Sachsen waren neue Anhänger hinzugekommen. Schlesien blieb auf den, alten
Stande, Kapell wurde aus Reichenbach-Neurode verdrängt, in Breslau (Ost) siegte
aber zum erstenmale ein Sozialdemokrat, Reinders. Sehr gelichtet waren die so¬
zialdemokratischen Reihen namentlich in Thüringen und in Schleswig-Holstein.

Das Sozialisteugcsetz löste nicht nnr die äußere Organisation der Partei
auf, sondern verursachte zunächst auch heftige innere Wirren. Die Frage war,
wie man sich null zu verhalten habe; sollte man sich, wie Most lind Hassel-
mann wollten, als Nevvlutionspartei bekennen, den sofortigen Umsturz predigen
und an die Gewalt appelliren, oder, wie Bebel und Liebknecht wollten, die
Agitation von der Oberfläche verschwinden lassen, die stille Arbeit der Unter¬
grabung betreiben und durch Ruhe lind Geduld beweisen, daß das Sozialisten¬
gesetz auf der irrigen Voraussetzung von der Gemeingefährlichkeit der Sozial¬
demokratie beruhe? Die mildere Tonart siegte, Most und Hasselmann gingen
ins Ausland und wurden Anarchisten. Was es indessen mit der milderen
Tonart auf sich hatte, bewies der Beschluß des Wydeuer Kongresses (1880),
aus der Stelle des Gothaer Programms: "Die sozialistische Arbeiterpartei
Deutschlands erstrebt mit allen gesetzlichen Mitteln den freien Staat:c." das
Wort "gesetzlich" zu streichen. Gegenüber den Anarchisten, für welche das
Wählen ein überwundener Standpunkt war, schrieb der "Sozialdemokrat":
"Wir wählen, um die Massen zu revolutioniren."


Das Wachstum der Sozialdemokratie nach der Statistik der Reichstagswahlen.

demokratischen Kandidaten bei den Stichwahlen, sondern auch in der Zer¬
splitterung der sozialdemokratischen Stimmen über das ganze Reich. Nur in
den preußischen Regierungsbezirken Marienwerder, Stralsund, Oppeln, Münster,
Aachen, Koblenz, drei kleinen Fürstentümern und Elsaß-Lothringen gab es keine
sozialdemokratische Stimme. In Berlin gingen 31500, in Breslciu 8600, in
den freien Städten 35 200, in Elberfeld-Barmer 11400 Sozialdemokraten zur
Wahlurne. In ganz Schlesien zählte man jetzt 23450, im Königreich Sachsen
124 000, in der Provinz Sachsen 20000 sozialdemokratische Stimmen, während
in Ostpreußen, Westpreußen und Posen die kommunistische Idee keine oder eine
kaum nennenswerte Propaganda gemacht hatte. Mehring hat in seiner historisch¬
kritischen Darstellung der Sozialdemokratie (1878) die zutreffende Bemerkung
gemacht: „Wo bereits eine starke Opposition gegell das Reich vorhanden ist
(in den Protestlerischen, welfischen, polnischen und ultramontanen Wahlkreisen),
bleibt die Sozialdemokratie auf die Dauer machtlos." Nur wird man zugeben
müssen, daß die Zentrumspartei noch andre Umstände als ihre Opposition gegen
die Kultnrkampfgcsetze im Reiche und in Preußen zu ihren Gunsten gegen die
Sozialdemokratie hundelt darf.

Die Wahlen des Jahres 1878 brachten der Partei nur einen Abgang von
50000 Stimmen und verminderten ihre Abgeordneten um drei. In Berlin, dem
Schauplatze der beiden fluchwürdige» Attentate, gewann sie nicht weniger als
25 000 Stimmen, verlor aber trotzdem ein Mandat. Auch im Königreiche
Sachsen waren neue Anhänger hinzugekommen. Schlesien blieb auf den, alten
Stande, Kapell wurde aus Reichenbach-Neurode verdrängt, in Breslau (Ost) siegte
aber zum erstenmale ein Sozialdemokrat, Reinders. Sehr gelichtet waren die so¬
zialdemokratischen Reihen namentlich in Thüringen und in Schleswig-Holstein.

Das Sozialisteugcsetz löste nicht nnr die äußere Organisation der Partei
auf, sondern verursachte zunächst auch heftige innere Wirren. Die Frage war,
wie man sich null zu verhalten habe; sollte man sich, wie Most lind Hassel-
mann wollten, als Nevvlutionspartei bekennen, den sofortigen Umsturz predigen
und an die Gewalt appelliren, oder, wie Bebel und Liebknecht wollten, die
Agitation von der Oberfläche verschwinden lassen, die stille Arbeit der Unter¬
grabung betreiben und durch Ruhe lind Geduld beweisen, daß das Sozialisten¬
gesetz auf der irrigen Voraussetzung von der Gemeingefährlichkeit der Sozial¬
demokratie beruhe? Die mildere Tonart siegte, Most und Hasselmann gingen
ins Ausland und wurden Anarchisten. Was es indessen mit der milderen
Tonart auf sich hatte, bewies der Beschluß des Wydeuer Kongresses (1880),
aus der Stelle des Gothaer Programms: „Die sozialistische Arbeiterpartei
Deutschlands erstrebt mit allen gesetzlichen Mitteln den freien Staat:c." das
Wort „gesetzlich" zu streichen. Gegenüber den Anarchisten, für welche das
Wählen ein überwundener Standpunkt war, schrieb der „Sozialdemokrat":
„Wir wählen, um die Massen zu revolutioniren."


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[0314] Das Wachstum der Sozialdemokratie nach der Statistik der Reichstagswahlen. demokratischen Kandidaten bei den Stichwahlen, sondern auch in der Zer¬ splitterung der sozialdemokratischen Stimmen über das ganze Reich. Nur in den preußischen Regierungsbezirken Marienwerder, Stralsund, Oppeln, Münster, Aachen, Koblenz, drei kleinen Fürstentümern und Elsaß-Lothringen gab es keine sozialdemokratische Stimme. In Berlin gingen 31500, in Breslciu 8600, in den freien Städten 35 200, in Elberfeld-Barmer 11400 Sozialdemokraten zur Wahlurne. In ganz Schlesien zählte man jetzt 23450, im Königreich Sachsen 124 000, in der Provinz Sachsen 20000 sozialdemokratische Stimmen, während in Ostpreußen, Westpreußen und Posen die kommunistische Idee keine oder eine kaum nennenswerte Propaganda gemacht hatte. Mehring hat in seiner historisch¬ kritischen Darstellung der Sozialdemokratie (1878) die zutreffende Bemerkung gemacht: „Wo bereits eine starke Opposition gegell das Reich vorhanden ist (in den Protestlerischen, welfischen, polnischen und ultramontanen Wahlkreisen), bleibt die Sozialdemokratie auf die Dauer machtlos." Nur wird man zugeben müssen, daß die Zentrumspartei noch andre Umstände als ihre Opposition gegen die Kultnrkampfgcsetze im Reiche und in Preußen zu ihren Gunsten gegen die Sozialdemokratie hundelt darf. Die Wahlen des Jahres 1878 brachten der Partei nur einen Abgang von 50000 Stimmen und verminderten ihre Abgeordneten um drei. In Berlin, dem Schauplatze der beiden fluchwürdige» Attentate, gewann sie nicht weniger als 25 000 Stimmen, verlor aber trotzdem ein Mandat. Auch im Königreiche Sachsen waren neue Anhänger hinzugekommen. Schlesien blieb auf den, alten Stande, Kapell wurde aus Reichenbach-Neurode verdrängt, in Breslau (Ost) siegte aber zum erstenmale ein Sozialdemokrat, Reinders. Sehr gelichtet waren die so¬ zialdemokratischen Reihen namentlich in Thüringen und in Schleswig-Holstein. Das Sozialisteugcsetz löste nicht nnr die äußere Organisation der Partei auf, sondern verursachte zunächst auch heftige innere Wirren. Die Frage war, wie man sich null zu verhalten habe; sollte man sich, wie Most lind Hassel- mann wollten, als Nevvlutionspartei bekennen, den sofortigen Umsturz predigen und an die Gewalt appelliren, oder, wie Bebel und Liebknecht wollten, die Agitation von der Oberfläche verschwinden lassen, die stille Arbeit der Unter¬ grabung betreiben und durch Ruhe lind Geduld beweisen, daß das Sozialisten¬ gesetz auf der irrigen Voraussetzung von der Gemeingefährlichkeit der Sozial¬ demokratie beruhe? Die mildere Tonart siegte, Most und Hasselmann gingen ins Ausland und wurden Anarchisten. Was es indessen mit der milderen Tonart auf sich hatte, bewies der Beschluß des Wydeuer Kongresses (1880), aus der Stelle des Gothaer Programms: „Die sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands erstrebt mit allen gesetzlichen Mitteln den freien Staat:c." das Wort „gesetzlich" zu streichen. Gegenüber den Anarchisten, für welche das Wählen ein überwundener Standpunkt war, schrieb der „Sozialdemokrat": „Wir wählen, um die Massen zu revolutioniren."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/314>, abgerufen am 20.10.2024.