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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Wieder die ägyptische Frage.

Kanal zwischen dem Mittelländischen und dem Rothen Meere ist der Lebensnerv
oder die große Arterie, wodurch beide Körper sich gegenseitig ihre Kräfte mit¬
teilen, und gerät er unter den Einfluß oder gar direkt in die Gewalt einer
dritten Macht, so ist die Folge Lähmung beider. Ägypten allein ist zu schwach,
um eine solche Gefahr, die größte für England, abwehren zu können. Diese
Gefahr ist in den letzten Jahren gewachsen, und zwar in doppelter Weise: ein¬
mal durch die russische" Eroberungen in Mittelasien, die dein Zarenreiche den
Landweg nach Indien abkürzten, dann durch die Ausbreitung des russischen Ein¬
flusses auf der Valkanhalbinsel, welche Rußland mit der Zeit die Stellung
einer Mittelmcermacht verschaffen kann, die zur See eher als England nach
Ägypten zu gelangen imstande ist. Es handelt sich also für England geradezu
um Leben und Sterben, wenn es mit allen Kräften und Mitteln darnach strebt,
sich soweit, als die Umstände es gestatten, im thatsächlichen Besitze des Landes
zu erhalten, durch welches der Kanal führt. Eine Einverleibung desselben in
die britischen Besitzungen ist dazu uicht nötig, es genügt, wenigstens für jetzt,
daß der Hauptinteresseut an dem Kanale dort auch den Haupteinfluß behält,
und das widerstreitet dem Bedürfnisse Westeuropas, abgesehen von Frankreich,
keineswegs. Es ist daher eine begründete Meinung, wenn man in London der
Überzeugung lebt, daß die ägyptische Politik der englischen Regierung, sofern
nur die Interessen der Inhaber der ägyptischen Schuldpapiere gewahrt bleiben
und hinreichende Bürgschaften für die Freiheit des internationalen Handelsver¬
kehrs, der durch deu Suezkanal sich bewegt, vorhanden sind, Vonseiten Deutsch¬
lands, Österreichs und Italiens nichts in den Weg gelegt werden wird.

Anderseits waren vor kurzem Gerüchte im Umlauf, nach denen nicht bloß
Frankreich, sondern mit diesem im Verein Nußland und die Pforte mit der
Absicht umgingen, von dem englischen Kabinet bestimmte Erklärungen hin¬
sichtlich des Termins zu verlangen, an welchem England der Okkupation
Ägyptens ein Ende machen werde. Diese Gerüchte wurden von französischer
Seite für unbegründet erklärt, und zu gleicher Zeit meldete ein offiziöses Blatt
in Berlin, Frankreich sei es nicht gelungen, den Sultan zur Beteiligung an
einem diplomatischen Vorgehen gegen die englische Stellung am Nil zu bewegen.
Die letztere Mitteilung war aber offenbar eine halbe Bestätigung der betreffenden
Gerüchte; es war in Konstantinopel ein Versuch gemacht worden, und derselbe
war mißlungen, er konnte indes wiederholt werden, und dann mit bessern: Er¬
folge, und es konnte zu den beiden Mächten in Gestalt Rußlands eine dritte
treten und dasselbe Verlangen aussprechen oder vorlünfig dieselben Vorstellungen
machen. Die angeführten Gerüchte werden also nicht falsch, sondern nur in¬
korrekt sein, nur der Zeit vorgreifen, nur Anfänge oder Vorbereitungen von
Thatsachen als bereits fertige oder nahegerückte Thatsachen hinstellen. Daß die
Sache möglich ist, wird sich uicht wohl bestreiten lassen. Nichts von cilledem,
was wir vou den Anschauungen und Tendenzen der drei genannten Mächte


Wieder die ägyptische Frage.

Kanal zwischen dem Mittelländischen und dem Rothen Meere ist der Lebensnerv
oder die große Arterie, wodurch beide Körper sich gegenseitig ihre Kräfte mit¬
teilen, und gerät er unter den Einfluß oder gar direkt in die Gewalt einer
dritten Macht, so ist die Folge Lähmung beider. Ägypten allein ist zu schwach,
um eine solche Gefahr, die größte für England, abwehren zu können. Diese
Gefahr ist in den letzten Jahren gewachsen, und zwar in doppelter Weise: ein¬
mal durch die russische» Eroberungen in Mittelasien, die dein Zarenreiche den
Landweg nach Indien abkürzten, dann durch die Ausbreitung des russischen Ein¬
flusses auf der Valkanhalbinsel, welche Rußland mit der Zeit die Stellung
einer Mittelmcermacht verschaffen kann, die zur See eher als England nach
Ägypten zu gelangen imstande ist. Es handelt sich also für England geradezu
um Leben und Sterben, wenn es mit allen Kräften und Mitteln darnach strebt,
sich soweit, als die Umstände es gestatten, im thatsächlichen Besitze des Landes
zu erhalten, durch welches der Kanal führt. Eine Einverleibung desselben in
die britischen Besitzungen ist dazu uicht nötig, es genügt, wenigstens für jetzt,
daß der Hauptinteresseut an dem Kanale dort auch den Haupteinfluß behält,
und das widerstreitet dem Bedürfnisse Westeuropas, abgesehen von Frankreich,
keineswegs. Es ist daher eine begründete Meinung, wenn man in London der
Überzeugung lebt, daß die ägyptische Politik der englischen Regierung, sofern
nur die Interessen der Inhaber der ägyptischen Schuldpapiere gewahrt bleiben
und hinreichende Bürgschaften für die Freiheit des internationalen Handelsver¬
kehrs, der durch deu Suezkanal sich bewegt, vorhanden sind, Vonseiten Deutsch¬
lands, Österreichs und Italiens nichts in den Weg gelegt werden wird.

Anderseits waren vor kurzem Gerüchte im Umlauf, nach denen nicht bloß
Frankreich, sondern mit diesem im Verein Nußland und die Pforte mit der
Absicht umgingen, von dem englischen Kabinet bestimmte Erklärungen hin¬
sichtlich des Termins zu verlangen, an welchem England der Okkupation
Ägyptens ein Ende machen werde. Diese Gerüchte wurden von französischer
Seite für unbegründet erklärt, und zu gleicher Zeit meldete ein offiziöses Blatt
in Berlin, Frankreich sei es nicht gelungen, den Sultan zur Beteiligung an
einem diplomatischen Vorgehen gegen die englische Stellung am Nil zu bewegen.
Die letztere Mitteilung war aber offenbar eine halbe Bestätigung der betreffenden
Gerüchte; es war in Konstantinopel ein Versuch gemacht worden, und derselbe
war mißlungen, er konnte indes wiederholt werden, und dann mit bessern: Er¬
folge, und es konnte zu den beiden Mächten in Gestalt Rußlands eine dritte
treten und dasselbe Verlangen aussprechen oder vorlünfig dieselben Vorstellungen
machen. Die angeführten Gerüchte werden also nicht falsch, sondern nur in¬
korrekt sein, nur der Zeit vorgreifen, nur Anfänge oder Vorbereitungen von
Thatsachen als bereits fertige oder nahegerückte Thatsachen hinstellen. Daß die
Sache möglich ist, wird sich uicht wohl bestreiten lassen. Nichts von cilledem,
was wir vou den Anschauungen und Tendenzen der drei genannten Mächte


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[0264] Wieder die ägyptische Frage. Kanal zwischen dem Mittelländischen und dem Rothen Meere ist der Lebensnerv oder die große Arterie, wodurch beide Körper sich gegenseitig ihre Kräfte mit¬ teilen, und gerät er unter den Einfluß oder gar direkt in die Gewalt einer dritten Macht, so ist die Folge Lähmung beider. Ägypten allein ist zu schwach, um eine solche Gefahr, die größte für England, abwehren zu können. Diese Gefahr ist in den letzten Jahren gewachsen, und zwar in doppelter Weise: ein¬ mal durch die russische» Eroberungen in Mittelasien, die dein Zarenreiche den Landweg nach Indien abkürzten, dann durch die Ausbreitung des russischen Ein¬ flusses auf der Valkanhalbinsel, welche Rußland mit der Zeit die Stellung einer Mittelmcermacht verschaffen kann, die zur See eher als England nach Ägypten zu gelangen imstande ist. Es handelt sich also für England geradezu um Leben und Sterben, wenn es mit allen Kräften und Mitteln darnach strebt, sich soweit, als die Umstände es gestatten, im thatsächlichen Besitze des Landes zu erhalten, durch welches der Kanal führt. Eine Einverleibung desselben in die britischen Besitzungen ist dazu uicht nötig, es genügt, wenigstens für jetzt, daß der Hauptinteresseut an dem Kanale dort auch den Haupteinfluß behält, und das widerstreitet dem Bedürfnisse Westeuropas, abgesehen von Frankreich, keineswegs. Es ist daher eine begründete Meinung, wenn man in London der Überzeugung lebt, daß die ägyptische Politik der englischen Regierung, sofern nur die Interessen der Inhaber der ägyptischen Schuldpapiere gewahrt bleiben und hinreichende Bürgschaften für die Freiheit des internationalen Handelsver¬ kehrs, der durch deu Suezkanal sich bewegt, vorhanden sind, Vonseiten Deutsch¬ lands, Österreichs und Italiens nichts in den Weg gelegt werden wird. Anderseits waren vor kurzem Gerüchte im Umlauf, nach denen nicht bloß Frankreich, sondern mit diesem im Verein Nußland und die Pforte mit der Absicht umgingen, von dem englischen Kabinet bestimmte Erklärungen hin¬ sichtlich des Termins zu verlangen, an welchem England der Okkupation Ägyptens ein Ende machen werde. Diese Gerüchte wurden von französischer Seite für unbegründet erklärt, und zu gleicher Zeit meldete ein offiziöses Blatt in Berlin, Frankreich sei es nicht gelungen, den Sultan zur Beteiligung an einem diplomatischen Vorgehen gegen die englische Stellung am Nil zu bewegen. Die letztere Mitteilung war aber offenbar eine halbe Bestätigung der betreffenden Gerüchte; es war in Konstantinopel ein Versuch gemacht worden, und derselbe war mißlungen, er konnte indes wiederholt werden, und dann mit bessern: Er¬ folge, und es konnte zu den beiden Mächten in Gestalt Rußlands eine dritte treten und dasselbe Verlangen aussprechen oder vorlünfig dieselben Vorstellungen machen. Die angeführten Gerüchte werden also nicht falsch, sondern nur in¬ korrekt sein, nur der Zeit vorgreifen, nur Anfänge oder Vorbereitungen von Thatsachen als bereits fertige oder nahegerückte Thatsachen hinstellen. Daß die Sache möglich ist, wird sich uicht wohl bestreiten lassen. Nichts von cilledem, was wir vou den Anschauungen und Tendenzen der drei genannten Mächte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/264>, abgerufen am 27.09.2024.