Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.Die Ziele der Reform des höhern Schulwesens. unter unsern Verhältnissen der einzig mögliche Ausdruck, Ja, sie ist der Verufs- Nur der oberflächliche Beurteiler wird hohnlächelnd auf den freilich oft Die Ziele der Reform des höhern Schulwesens. unter unsern Verhältnissen der einzig mögliche Ausdruck, Ja, sie ist der Verufs- Nur der oberflächliche Beurteiler wird hohnlächelnd auf den freilich oft <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0223" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/199577"/> <fw type="header" place="top"> Die Ziele der Reform des höhern Schulwesens.</fw><lb/> <p xml:id="ID_859" prev="#ID_858"> unter unsern Verhältnissen der einzig mögliche Ausdruck, Ja, sie ist der Verufs-<lb/> drillung auf das schärfste entgegengesetzt, denn auch heute noch lebt in wahr¬<lb/> haft vorwärtsstrebender Menschen die Überzeugung, daß hoch über allen Be¬<lb/> rufen der Beruf stehe, „Mensch" zu sein. Und wenn wir es nach jahr¬<lb/> tausendelanger Arbeit noch nicht einmal so weit gebracht haben sollten, daß<lb/> wenigstens die Glücklicheren unter uns die paar Mußejahre der reiferen Jugend<lb/> zum Ansätze dazu benutzen können, für welchen Zweck arbeiten wir denn eigentlich?<lb/> Ist diese Idee nicht eine Antizipation des idealen Menschheitszustandes? Sollte<lb/> sie uns verwehrt sein, weil noch so unendlich viel zu arbeiten ist? O, es wird<lb/> immer noch unendlich viel zu arbeiten geben, so wie es immer genug gegeben<lb/> hat, und trotzdem, bewegt sich uicht seit Uranfang das strebende Schaffen der<lb/> Menschheit in Antizipationen?</p><lb/> <p xml:id="ID_860" next="#ID_861"> Nur der oberflächliche Beurteiler wird hohnlächelnd auf den freilich oft<lb/> entmutigenden Kontrast zwischen Schönheit und ästhetischer Erziehung einerseits<lb/> und der Grammatik und Einpaukerei unsrer Gymnasien anderseits hinweisen.<lb/> Jede menschliche Einrichtung muß mit den Kräften rechnen, die ihr zur Ver¬<lb/> fügung stehen, mit den Verhältnissen, denen sie sich anzubequemen hat. Die<lb/> Sprache ist nun einmal das allgemeinste ästhetische Bildungsmittel, das Nächst¬<lb/> liegende, das unentbehrliche. Die „Schönheit der Natur," welche die Militaristen<lb/> im Gefühl der traurigen Lücke ihres Programms so beiläufig erwähnen, wird<lb/> sich — wahrhaft und im ästhetischen Sinne — immer wenigen sensibleren<lb/> Naturen erschließen, die Musik ist ihrem eigensten Charakter nach cholerisch, die<lb/> bildende Kunst für die Erziehung aus äußern Gründen unbrauchbar, auch<lb/> moralisch bedenklich. So bleibt nur die Sprache, das weiteste und zugleich das<lb/> höchste ästhetische Material, das in seinen Gestaltungen, als Dicht- und Rede¬<lb/> kunst, in seiner Wirksamkeit geradezu keine Grenzen hat. Sie wird immer den<lb/> Grundstock der Erziehung bilden müssen, alles übrige sich an sie nur anschließen<lb/> dürfen. Virtuose Beherrschung der Sprache zu erzielen liegt nicht in ihrer<lb/> Aufgabe; das hängt von der Befähigung und Übung des Einzelnen ab. Sie<lb/> will nur ihre oben vorangestellte Idee mittels der Sprache zur Ausführung<lb/> bringen. Hieraus geht schon hervor, wie falsch die Zweckanschauung ist, welche<lb/> die Gegner der Humanitätsschule in ihren Schulplan hineinbringen. Die Schule<lb/> kann und will ihre Schüler auch nicht zu Franzosen und Engländern machen.<lb/> Viele derselben könnten gerade dies vielleicht in ihrem spätern Leben nicht<lb/> brauchen. Sie würden vielleicht dann lieber Russisch oder Arabisch oder wer<lb/> weiß was sonst in ihrer Jugend gelernt haben. Das Französische und Englische<lb/> wird herbeigezogen wegen seiner Bedeutung für die allgemeine Menschheits-<lb/> bilduug. Will es der Schüler praktisch verwerten, so gehört etwas ganz andres<lb/> dazu, als was die Schule ihm geben kaun. Das lehrt die tägliche Erfahrung.<lb/> Und daß man dies uicht etwa bestreite mit der beliebten Hinweisung auf die<lb/> geringe Stundenzahl, die den modernen Sprachen eingeräumt sind! Man nehme</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0223]
Die Ziele der Reform des höhern Schulwesens.
unter unsern Verhältnissen der einzig mögliche Ausdruck, Ja, sie ist der Verufs-
drillung auf das schärfste entgegengesetzt, denn auch heute noch lebt in wahr¬
haft vorwärtsstrebender Menschen die Überzeugung, daß hoch über allen Be¬
rufen der Beruf stehe, „Mensch" zu sein. Und wenn wir es nach jahr¬
tausendelanger Arbeit noch nicht einmal so weit gebracht haben sollten, daß
wenigstens die Glücklicheren unter uns die paar Mußejahre der reiferen Jugend
zum Ansätze dazu benutzen können, für welchen Zweck arbeiten wir denn eigentlich?
Ist diese Idee nicht eine Antizipation des idealen Menschheitszustandes? Sollte
sie uns verwehrt sein, weil noch so unendlich viel zu arbeiten ist? O, es wird
immer noch unendlich viel zu arbeiten geben, so wie es immer genug gegeben
hat, und trotzdem, bewegt sich uicht seit Uranfang das strebende Schaffen der
Menschheit in Antizipationen?
Nur der oberflächliche Beurteiler wird hohnlächelnd auf den freilich oft
entmutigenden Kontrast zwischen Schönheit und ästhetischer Erziehung einerseits
und der Grammatik und Einpaukerei unsrer Gymnasien anderseits hinweisen.
Jede menschliche Einrichtung muß mit den Kräften rechnen, die ihr zur Ver¬
fügung stehen, mit den Verhältnissen, denen sie sich anzubequemen hat. Die
Sprache ist nun einmal das allgemeinste ästhetische Bildungsmittel, das Nächst¬
liegende, das unentbehrliche. Die „Schönheit der Natur," welche die Militaristen
im Gefühl der traurigen Lücke ihres Programms so beiläufig erwähnen, wird
sich — wahrhaft und im ästhetischen Sinne — immer wenigen sensibleren
Naturen erschließen, die Musik ist ihrem eigensten Charakter nach cholerisch, die
bildende Kunst für die Erziehung aus äußern Gründen unbrauchbar, auch
moralisch bedenklich. So bleibt nur die Sprache, das weiteste und zugleich das
höchste ästhetische Material, das in seinen Gestaltungen, als Dicht- und Rede¬
kunst, in seiner Wirksamkeit geradezu keine Grenzen hat. Sie wird immer den
Grundstock der Erziehung bilden müssen, alles übrige sich an sie nur anschließen
dürfen. Virtuose Beherrschung der Sprache zu erzielen liegt nicht in ihrer
Aufgabe; das hängt von der Befähigung und Übung des Einzelnen ab. Sie
will nur ihre oben vorangestellte Idee mittels der Sprache zur Ausführung
bringen. Hieraus geht schon hervor, wie falsch die Zweckanschauung ist, welche
die Gegner der Humanitätsschule in ihren Schulplan hineinbringen. Die Schule
kann und will ihre Schüler auch nicht zu Franzosen und Engländern machen.
Viele derselben könnten gerade dies vielleicht in ihrem spätern Leben nicht
brauchen. Sie würden vielleicht dann lieber Russisch oder Arabisch oder wer
weiß was sonst in ihrer Jugend gelernt haben. Das Französische und Englische
wird herbeigezogen wegen seiner Bedeutung für die allgemeine Menschheits-
bilduug. Will es der Schüler praktisch verwerten, so gehört etwas ganz andres
dazu, als was die Schule ihm geben kaun. Das lehrt die tägliche Erfahrung.
Und daß man dies uicht etwa bestreite mit der beliebten Hinweisung auf die
geringe Stundenzahl, die den modernen Sprachen eingeräumt sind! Man nehme
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