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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Der Entwicklungsgang des englischen Parlaments.

großem Gefolge und Troß erscheinen konnten. Die großen Versammlungen der
karolingischen Monarchie beschränkten sich demgemäß auf eine Heerschau über
einen Teil der bewaffneten Macht und eine damit verbundene Versammlung von
Magnaten. In etwas verkleinerten Maßstabe gelten alle diese Grundverhältnisse
auch für England seit der Vereinigung der Kleinstaaten zu einer nationalen
Monarchie. In einem Lande, bedeckt mit Waldungen, durchschnitten durch tiefe
Ströme oder durch ausgedehnte Sümpfe und nur schlecht versehen mit Verkehrs¬
mitteln, muß der Dienst sogar bei der Grafschaftsversammlung mit den not¬
wendigen Geschäften des Ackerbaues schwer vereinbar gewesen sein; völlig un¬
ausführbar erschien es, eine Versammlung des Gesamtvolkcs zu stände zu bringen
und jeden freien Mann an einen möglicherweise von seinem Wohnsitze sehr ent¬
fernten Ort zu laden. So geschieht es mit Naturnotwendigkeit, daß auch die
angelsächsischen Landesversammlungen ein aristokratisches Gepräge tragen, daß
nur die höhern Klassen an ihnen teilnehmen können, und daß auch hier der
Besuch dieser Versammlungen, der "Witenagemote," der vouveutuL L-Mvuluur
('tvitiui angelsächsisch ^ Lg-pions) oder oousllnr un^u^um, ^rovLruur u. s. w.
nicht sowohl als ein kostbares Recht aufgefaßt wird, sondern als eine lästige
Pflicht. Deshalb sind die Landesversammlungen auch nicht zahlreich besucht
gewesen; beispielsweise ergiebt eine volle Laudesvcrsammlung, welche 934 zu
Winchester gehalten wurde, als anwesend: den König, vier Häuptlinge von
Wales, zwei Erzbischöfe, siebzehn Bischöfe, vier Äbte, zwölf Ealdvrmcn, zwci-
nndfttnfzig Thaue, zusammen also zwciundncnnzig Personen. Das Volk übte bei
diesen Versammlungen so gut wie leinen wirklichen Einfluß; aber wie mau auch
bei der Kaiserwahl in Deutschland den zustimmenden Zuruf der versammelte,?
Volksmasse zur Wahl der Kurfürsten nicht entbehren mochte, so bestand diese
rein formelle Einwirkung des Volks auch in England fort; der "Umstand,"
die Corona der freien Männer, welche beim Witenagemot zugegen war, ließ
es sich schwerlich nehmen, populäre Beschlüsse der "Weisen" mit Beifall zu be¬
grüßen, mißliebigen aber auch Zeichen des Unmuth entgegenzusetzen. Als Gegen¬
stände der Beratung dieser Versammlungen lassen sich bezeichnen: 1. die etwa
notwendig werdenden Änderungen des überkommenen Volksrechtes, d. h. der
Grundsätze über Vermögens-, Familien- und Hausrecht, der Besetzung des Ge¬
richts, der Rechtspflege; 2. die wichtigsten Einrichtungen des weltlichen Gemein¬
wesens, namentlich Anordnungen über das Heerwesen, über die Aufrechthaltung
des Friedens, die Verwaltung des Gerichts u. s. w.; 3. die Gesetzgebung über
die kirchlichen Angelegenheiten. So sind die Einführung des Kirchcnzchntens,
die Heilighaltung des Sabbath, die strengere Beobachtung von Festtagen und
Fastengeboten, die Zulassung des Mönchtums von den Witenagemoteu behandelt
worden. Wir vermissen dabei, daß die Landesversammlung auch über finanzielle
Dinge gehört worden wäre; dies erklärt sich aber daraus, daß das Staats-
Wescn dieser Zeit noch ganz auf Naturalwirtschaft beruht und daß es ein


Der Entwicklungsgang des englischen Parlaments.

großem Gefolge und Troß erscheinen konnten. Die großen Versammlungen der
karolingischen Monarchie beschränkten sich demgemäß auf eine Heerschau über
einen Teil der bewaffneten Macht und eine damit verbundene Versammlung von
Magnaten. In etwas verkleinerten Maßstabe gelten alle diese Grundverhältnisse
auch für England seit der Vereinigung der Kleinstaaten zu einer nationalen
Monarchie. In einem Lande, bedeckt mit Waldungen, durchschnitten durch tiefe
Ströme oder durch ausgedehnte Sümpfe und nur schlecht versehen mit Verkehrs¬
mitteln, muß der Dienst sogar bei der Grafschaftsversammlung mit den not¬
wendigen Geschäften des Ackerbaues schwer vereinbar gewesen sein; völlig un¬
ausführbar erschien es, eine Versammlung des Gesamtvolkcs zu stände zu bringen
und jeden freien Mann an einen möglicherweise von seinem Wohnsitze sehr ent¬
fernten Ort zu laden. So geschieht es mit Naturnotwendigkeit, daß auch die
angelsächsischen Landesversammlungen ein aristokratisches Gepräge tragen, daß
nur die höhern Klassen an ihnen teilnehmen können, und daß auch hier der
Besuch dieser Versammlungen, der „Witenagemote," der vouveutuL L-Mvuluur
('tvitiui angelsächsisch ^ Lg-pions) oder oousllnr un^u^um, ^rovLruur u. s. w.
nicht sowohl als ein kostbares Recht aufgefaßt wird, sondern als eine lästige
Pflicht. Deshalb sind die Landesversammlungen auch nicht zahlreich besucht
gewesen; beispielsweise ergiebt eine volle Laudesvcrsammlung, welche 934 zu
Winchester gehalten wurde, als anwesend: den König, vier Häuptlinge von
Wales, zwei Erzbischöfe, siebzehn Bischöfe, vier Äbte, zwölf Ealdvrmcn, zwci-
nndfttnfzig Thaue, zusammen also zwciundncnnzig Personen. Das Volk übte bei
diesen Versammlungen so gut wie leinen wirklichen Einfluß; aber wie mau auch
bei der Kaiserwahl in Deutschland den zustimmenden Zuruf der versammelte,?
Volksmasse zur Wahl der Kurfürsten nicht entbehren mochte, so bestand diese
rein formelle Einwirkung des Volks auch in England fort; der „Umstand,"
die Corona der freien Männer, welche beim Witenagemot zugegen war, ließ
es sich schwerlich nehmen, populäre Beschlüsse der „Weisen" mit Beifall zu be¬
grüßen, mißliebigen aber auch Zeichen des Unmuth entgegenzusetzen. Als Gegen¬
stände der Beratung dieser Versammlungen lassen sich bezeichnen: 1. die etwa
notwendig werdenden Änderungen des überkommenen Volksrechtes, d. h. der
Grundsätze über Vermögens-, Familien- und Hausrecht, der Besetzung des Ge¬
richts, der Rechtspflege; 2. die wichtigsten Einrichtungen des weltlichen Gemein¬
wesens, namentlich Anordnungen über das Heerwesen, über die Aufrechthaltung
des Friedens, die Verwaltung des Gerichts u. s. w.; 3. die Gesetzgebung über
die kirchlichen Angelegenheiten. So sind die Einführung des Kirchcnzchntens,
die Heilighaltung des Sabbath, die strengere Beobachtung von Festtagen und
Fastengeboten, die Zulassung des Mönchtums von den Witenagemoteu behandelt
worden. Wir vermissen dabei, daß die Landesversammlung auch über finanzielle
Dinge gehört worden wäre; dies erklärt sich aber daraus, daß das Staats-
Wescn dieser Zeit noch ganz auf Naturalwirtschaft beruht und daß es ein


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[0021] Der Entwicklungsgang des englischen Parlaments. großem Gefolge und Troß erscheinen konnten. Die großen Versammlungen der karolingischen Monarchie beschränkten sich demgemäß auf eine Heerschau über einen Teil der bewaffneten Macht und eine damit verbundene Versammlung von Magnaten. In etwas verkleinerten Maßstabe gelten alle diese Grundverhältnisse auch für England seit der Vereinigung der Kleinstaaten zu einer nationalen Monarchie. In einem Lande, bedeckt mit Waldungen, durchschnitten durch tiefe Ströme oder durch ausgedehnte Sümpfe und nur schlecht versehen mit Verkehrs¬ mitteln, muß der Dienst sogar bei der Grafschaftsversammlung mit den not¬ wendigen Geschäften des Ackerbaues schwer vereinbar gewesen sein; völlig un¬ ausführbar erschien es, eine Versammlung des Gesamtvolkcs zu stände zu bringen und jeden freien Mann an einen möglicherweise von seinem Wohnsitze sehr ent¬ fernten Ort zu laden. So geschieht es mit Naturnotwendigkeit, daß auch die angelsächsischen Landesversammlungen ein aristokratisches Gepräge tragen, daß nur die höhern Klassen an ihnen teilnehmen können, und daß auch hier der Besuch dieser Versammlungen, der „Witenagemote," der vouveutuL L-Mvuluur ('tvitiui angelsächsisch ^ Lg-pions) oder oousllnr un^u^um, ^rovLruur u. s. w. nicht sowohl als ein kostbares Recht aufgefaßt wird, sondern als eine lästige Pflicht. Deshalb sind die Landesversammlungen auch nicht zahlreich besucht gewesen; beispielsweise ergiebt eine volle Laudesvcrsammlung, welche 934 zu Winchester gehalten wurde, als anwesend: den König, vier Häuptlinge von Wales, zwei Erzbischöfe, siebzehn Bischöfe, vier Äbte, zwölf Ealdvrmcn, zwci- nndfttnfzig Thaue, zusammen also zwciundncnnzig Personen. Das Volk übte bei diesen Versammlungen so gut wie leinen wirklichen Einfluß; aber wie mau auch bei der Kaiserwahl in Deutschland den zustimmenden Zuruf der versammelte,? Volksmasse zur Wahl der Kurfürsten nicht entbehren mochte, so bestand diese rein formelle Einwirkung des Volks auch in England fort; der „Umstand," die Corona der freien Männer, welche beim Witenagemot zugegen war, ließ es sich schwerlich nehmen, populäre Beschlüsse der „Weisen" mit Beifall zu be¬ grüßen, mißliebigen aber auch Zeichen des Unmuth entgegenzusetzen. Als Gegen¬ stände der Beratung dieser Versammlungen lassen sich bezeichnen: 1. die etwa notwendig werdenden Änderungen des überkommenen Volksrechtes, d. h. der Grundsätze über Vermögens-, Familien- und Hausrecht, der Besetzung des Ge¬ richts, der Rechtspflege; 2. die wichtigsten Einrichtungen des weltlichen Gemein¬ wesens, namentlich Anordnungen über das Heerwesen, über die Aufrechthaltung des Friedens, die Verwaltung des Gerichts u. s. w.; 3. die Gesetzgebung über die kirchlichen Angelegenheiten. So sind die Einführung des Kirchcnzchntens, die Heilighaltung des Sabbath, die strengere Beobachtung von Festtagen und Fastengeboten, die Zulassung des Mönchtums von den Witenagemoteu behandelt worden. Wir vermissen dabei, daß die Landesversammlung auch über finanzielle Dinge gehört worden wäre; dies erklärt sich aber daraus, daß das Staats- Wescn dieser Zeit noch ganz auf Naturalwirtschaft beruht und daß es ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/21>, abgerufen am 20.10.2024.