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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Antike Märchen in deutschem Gewände.

gerüsteten Schiffen; und so hat sich die Sage von den Phäaken, wie wir sie
in der Odyssee finden, gleichsam als eine Seitenlinie der alten Mythe ausgebildet.

Später aber sank die schöne Sage tiefer herab. Die athenischen Komiker,
denen nichts heilig war, zogen die Beschreibung von den Gefilden der Seligen
ins Lächerliche, satirische, freilich sicherlich nicht, ohne durch volkstümliche
Lieder, die sie benutzten, dazu veranlaßt zu sein. Lucian endlich, der Münch-
hausen des Altertums, erzählt im zweiten nachchristlichen Jahrhundert nach
volkstümlichen Quellen in seiner "Wunderbaren Reise" folgendes: "Als ich der
Insel der Seligen nahe kam, drang mir eine wunderliebliche, mit tausend Wohl¬
gerüchen durchwürzte Luft entgegen, und bald hörte ich ein Getön von vielen
Stimmen, demjenigen ähnlich, das fernher von einem großen Gastmahle kommt,
wenn die einen Musik machen und die andern den Flötenbläsern und Zither¬
spielern ihren Beifall bezeugen. In der Stadt selbst angekommen, sah ich, daß
sie von reinem Golde war, und hindurch fließt ein Strom von Rosenöl. Das
Land umher ist immer grün, und seiue Bäume tragen zwölfmal Frucht im
Jahre. Statt des Weizens treiben die Ähren fertige kleine Brötchen. Im
Lande sind drcihnndertfünfundsechzig Quellen mit Honig, und sieben Flüsse mit
Milch und acht mit Wein. Die Bewohner liegen statt auf Decken auf Blumen,
und neben ihnen stehen gläserne Bäume, die statt der Früchte Trinkgläser tragen.
Wenn nun jemand trinken will, so bricht er einige Gläser ab und stellt sie
neben sich hin: alsbald füllen sie sich von selbst mit den köstlichsten Weinen."

Das ist das reine Schlaraffenland, und das alte deutsche Märchen dieses
Namens unterscheidet sich davon in der That nur durch deu etwas derbern
nordischen Geschmack. Dieses Märchen hat sich ganz wunderbar analog dem
griechischen aus uralten mythologischen Vorstellungen entwickelt. Das wird uns
klar, wenn wir andre verwandte Märchen, die, ernstern Tones, des mythischen
Grundes noch mehr behielten, zur Vergleichung heranziehen. Ein Mädchen,
welches in einen Brunnen fiel, gelangte auch an jenen seligen Ort, durch weite
grüne Wiesen in Frau Huldas oder Holles schönes Reich, wo sie es sehr gut
hatte, viel besser als je daheim, wo weite Gurten voll Wunderblumen, ewig
grüne Hügel und Haine rings um den herrlichen goldnen und krystallnen Palast
waren, und über dem allen der Hauch eines ewigen Frühlings wehte. Ein
andres Mädchen, dem die Hände abgehauen waren, kam über ein breites Wasser
in einen großen prachtvollen Garten, von dessen schönen Früchten es aß. Der
Fall in den Brunnen, sowie das Abhauen der Hände sind wiederum nur Sym¬
bole des Todes, und der Ort, wohin jene Mädchen gelangen, ist nichts andres
als der Aufenthalt der Seligen. Oft wird dieser Ort als ein Berg gedacht
und der Freude Berg genannt, und die Erde im Gegensatze dazu des Jammers
Thal. Als ein solcher Berg der Seligkeit stellt sich die in so großartiger Weise
besungene Gralsburg dar, in der ja auch Speise und Trank von selbst durch
den Gral entstehen. Und gehen wir noch weiter ins Heidentum zurück, so


Antike Märchen in deutschem Gewände.

gerüsteten Schiffen; und so hat sich die Sage von den Phäaken, wie wir sie
in der Odyssee finden, gleichsam als eine Seitenlinie der alten Mythe ausgebildet.

Später aber sank die schöne Sage tiefer herab. Die athenischen Komiker,
denen nichts heilig war, zogen die Beschreibung von den Gefilden der Seligen
ins Lächerliche, satirische, freilich sicherlich nicht, ohne durch volkstümliche
Lieder, die sie benutzten, dazu veranlaßt zu sein. Lucian endlich, der Münch-
hausen des Altertums, erzählt im zweiten nachchristlichen Jahrhundert nach
volkstümlichen Quellen in seiner „Wunderbaren Reise" folgendes: „Als ich der
Insel der Seligen nahe kam, drang mir eine wunderliebliche, mit tausend Wohl¬
gerüchen durchwürzte Luft entgegen, und bald hörte ich ein Getön von vielen
Stimmen, demjenigen ähnlich, das fernher von einem großen Gastmahle kommt,
wenn die einen Musik machen und die andern den Flötenbläsern und Zither¬
spielern ihren Beifall bezeugen. In der Stadt selbst angekommen, sah ich, daß
sie von reinem Golde war, und hindurch fließt ein Strom von Rosenöl. Das
Land umher ist immer grün, und seiue Bäume tragen zwölfmal Frucht im
Jahre. Statt des Weizens treiben die Ähren fertige kleine Brötchen. Im
Lande sind drcihnndertfünfundsechzig Quellen mit Honig, und sieben Flüsse mit
Milch und acht mit Wein. Die Bewohner liegen statt auf Decken auf Blumen,
und neben ihnen stehen gläserne Bäume, die statt der Früchte Trinkgläser tragen.
Wenn nun jemand trinken will, so bricht er einige Gläser ab und stellt sie
neben sich hin: alsbald füllen sie sich von selbst mit den köstlichsten Weinen."

Das ist das reine Schlaraffenland, und das alte deutsche Märchen dieses
Namens unterscheidet sich davon in der That nur durch deu etwas derbern
nordischen Geschmack. Dieses Märchen hat sich ganz wunderbar analog dem
griechischen aus uralten mythologischen Vorstellungen entwickelt. Das wird uns
klar, wenn wir andre verwandte Märchen, die, ernstern Tones, des mythischen
Grundes noch mehr behielten, zur Vergleichung heranziehen. Ein Mädchen,
welches in einen Brunnen fiel, gelangte auch an jenen seligen Ort, durch weite
grüne Wiesen in Frau Huldas oder Holles schönes Reich, wo sie es sehr gut
hatte, viel besser als je daheim, wo weite Gurten voll Wunderblumen, ewig
grüne Hügel und Haine rings um den herrlichen goldnen und krystallnen Palast
waren, und über dem allen der Hauch eines ewigen Frühlings wehte. Ein
andres Mädchen, dem die Hände abgehauen waren, kam über ein breites Wasser
in einen großen prachtvollen Garten, von dessen schönen Früchten es aß. Der
Fall in den Brunnen, sowie das Abhauen der Hände sind wiederum nur Sym¬
bole des Todes, und der Ort, wohin jene Mädchen gelangen, ist nichts andres
als der Aufenthalt der Seligen. Oft wird dieser Ort als ein Berg gedacht
und der Freude Berg genannt, und die Erde im Gegensatze dazu des Jammers
Thal. Als ein solcher Berg der Seligkeit stellt sich die in so großartiger Weise
besungene Gralsburg dar, in der ja auch Speise und Trank von selbst durch
den Gral entstehen. Und gehen wir noch weiter ins Heidentum zurück, so


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/92>, abgerufen am 22.07.2024.