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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Alexander von Roberts.

einem Gehalte von 2400 Franks, weit draußen in einem stillen Vororte von
Paris, seine Familie schlecht und recht, in glücklicher Genügsamkeit ernährt, tritt
einmal die Versuchung in seltsamer Weise heran. Sein Nachbar, ein einsiedlerischer,
kränklicher Greis, will ihn zum Erben seines ganzen großen Vermögens im
Betrage von 800 000 Franks einsetzen. Zwar hat der Alte selbst Kinder, doch
hat er keine Freude an ihnen erlebt, er will ihnen kein Geld hinterlassen. "Das
Geld macht nicht glücklich, sagt der Greis. Ihr Glück ist echt und stark, und
es wird sich doch von dem bischen Mammon nicht unterdrücken lassen, nicht
wahr?" Nur eine Bedingung stellt der Greis an das große Geschenk: eine
Schildkröte, an der er mit abergläubischer Liebe hängt, soll nach seinem Tode
so gut gehalten werden, wie sie es bisher bei ihm selbst gehabt habe. Der
glückliche Familienvater geht natürlich mit Freuden auf diese lächerliche Be¬
dingung ein. Durch eine inzwischen nötig gewordene Reise des Alten wird der
sür die Giltigkeit des Testaments nötige Notariatsakt jedoch verschoben bis zu
seiner Rückkehr; unterdessen soll die Schildkröte in der Obhut des zukünftigen
Erben bleiben. Der Alte will sich vor seinem Tode vergewissern, daß der Beamte
die Schildkröte in Wahrheit gut halten werde; darum die Reise. Nun entwickelt
sich das Schicksal der kleinen Familie in Gestalt dieser Schildkröte. Die Probe¬
zeit giebt eine Reihe der drolligsten Auftritte und Verwicklungen. Welche Mühe
kostet es dem Beamten, bei Weib und Kindern znnüchst überhaupt einige Rücksicht
auf das dumme Tier zu erringen! Und dann hat er Mühe, ihnen begreiflich zu
macheu, daß von der Existenz dieser Pensionärin der Besitz von achtmalhnndert-
tausend Franks abhänge, welche die bescheidnen, in ihrer Genügsamkeit zu¬
friedenen und glücklichen Wesen anfänglich garnicht zu würdigen wissen. Als
ihm jedoch dies alles gelungen ist, da muß er mit seinen Kindern die kostbare
Pensionärin aus tiefster Seele verwünschen; denn sie ist ihnen zum Hausthrcmn
geworden, und an Stelle der glücklichen Zufriedenheit mit ihren bescheidenen
Verhältnissen ist der Neid und die Habgier getreten. Die Sorgfalt aller kon-
zentrirt sich auf die abscheuliche Pensionärin, die sie durch allerlei Tücken neckt
und ängstigt, sie vor der Welt lächerlich macht und alle ihre Beziehungen zu
zerstören droht. Oft stellt sie sich tot und erschreckt sie; aber einmal wird sie
wirklich tot, die höchste Wissenschaft kann sie nicht lebendig macheu und der
Beamte gerät in Verzweiflung. Nun fällt ihm ein, sich durch Unterschiebung
eines neuen Tieres den Besitz des Erbes zu sichern; er werde -- meint er --
in dem großen Paris eine genau gleiche Schildkröte doch wohl auftreiben
können. Es gelingt ihm dies auch in der That. sophistisch sucht er sich zu
überreden, daß der seltsame Alte so sehr an seiner Schildkröte hänge, daß er
den Verlust derselben kaum überleben werde, daß es also eine sehr fromme
Lüge, eine That rechten Mitleids sei, wenn er ihm den Tod des übergebenen
Tieres verheimliche. Allein im letzten Augenblick siegt doch das gute Ge¬
wissen in ihm; zwar giebt er dem heimgekehrten Greis die neue lebendige


Alexander von Roberts.

einem Gehalte von 2400 Franks, weit draußen in einem stillen Vororte von
Paris, seine Familie schlecht und recht, in glücklicher Genügsamkeit ernährt, tritt
einmal die Versuchung in seltsamer Weise heran. Sein Nachbar, ein einsiedlerischer,
kränklicher Greis, will ihn zum Erben seines ganzen großen Vermögens im
Betrage von 800 000 Franks einsetzen. Zwar hat der Alte selbst Kinder, doch
hat er keine Freude an ihnen erlebt, er will ihnen kein Geld hinterlassen. „Das
Geld macht nicht glücklich, sagt der Greis. Ihr Glück ist echt und stark, und
es wird sich doch von dem bischen Mammon nicht unterdrücken lassen, nicht
wahr?" Nur eine Bedingung stellt der Greis an das große Geschenk: eine
Schildkröte, an der er mit abergläubischer Liebe hängt, soll nach seinem Tode
so gut gehalten werden, wie sie es bisher bei ihm selbst gehabt habe. Der
glückliche Familienvater geht natürlich mit Freuden auf diese lächerliche Be¬
dingung ein. Durch eine inzwischen nötig gewordene Reise des Alten wird der
sür die Giltigkeit des Testaments nötige Notariatsakt jedoch verschoben bis zu
seiner Rückkehr; unterdessen soll die Schildkröte in der Obhut des zukünftigen
Erben bleiben. Der Alte will sich vor seinem Tode vergewissern, daß der Beamte
die Schildkröte in Wahrheit gut halten werde; darum die Reise. Nun entwickelt
sich das Schicksal der kleinen Familie in Gestalt dieser Schildkröte. Die Probe¬
zeit giebt eine Reihe der drolligsten Auftritte und Verwicklungen. Welche Mühe
kostet es dem Beamten, bei Weib und Kindern znnüchst überhaupt einige Rücksicht
auf das dumme Tier zu erringen! Und dann hat er Mühe, ihnen begreiflich zu
macheu, daß von der Existenz dieser Pensionärin der Besitz von achtmalhnndert-
tausend Franks abhänge, welche die bescheidnen, in ihrer Genügsamkeit zu¬
friedenen und glücklichen Wesen anfänglich garnicht zu würdigen wissen. Als
ihm jedoch dies alles gelungen ist, da muß er mit seinen Kindern die kostbare
Pensionärin aus tiefster Seele verwünschen; denn sie ist ihnen zum Hausthrcmn
geworden, und an Stelle der glücklichen Zufriedenheit mit ihren bescheidenen
Verhältnissen ist der Neid und die Habgier getreten. Die Sorgfalt aller kon-
zentrirt sich auf die abscheuliche Pensionärin, die sie durch allerlei Tücken neckt
und ängstigt, sie vor der Welt lächerlich macht und alle ihre Beziehungen zu
zerstören droht. Oft stellt sie sich tot und erschreckt sie; aber einmal wird sie
wirklich tot, die höchste Wissenschaft kann sie nicht lebendig macheu und der
Beamte gerät in Verzweiflung. Nun fällt ihm ein, sich durch Unterschiebung
eines neuen Tieres den Besitz des Erbes zu sichern; er werde — meint er —
in dem großen Paris eine genau gleiche Schildkröte doch wohl auftreiben
können. Es gelingt ihm dies auch in der That. sophistisch sucht er sich zu
überreden, daß der seltsame Alte so sehr an seiner Schildkröte hänge, daß er
den Verlust derselben kaum überleben werde, daß es also eine sehr fromme
Lüge, eine That rechten Mitleids sei, wenn er ihm den Tod des übergebenen
Tieres verheimliche. Allein im letzten Augenblick siegt doch das gute Ge¬
wissen in ihm; zwar giebt er dem heimgekehrten Greis die neue lebendige


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/613>, abgerufen am 25.08.2024.