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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Die Meineidpest,

Die erste Erwägung verdient Beachtung, wenn der Inhalt der bekämpften
Neuerung der sein sollte, daß (nach amerikanischem Muster) die Partei das Recht
haben soll, ihre eigne zeugeneidliche Vernehmung zu verlangen, welchem Rechte
auf seiten der Partei das Recht des Richters entsprechen müßte, auf Grund
der von der Partei beantragten zeugeneidlichen Vernehmung zu Gunsten eben
dieser Partei zu erkennen. Eine solche Neuerung wäre zweifellos mit der
deutschen Rechtsanschauung unvereinbar; ich habe oben als die Aufgabe des
Richters bei der freien Beweiswürdigung bezeichnet: ein Urteil zu fällen, welches
derjenige, gegen den es ergeht, wenn er ein gerecht denkender Mann ist, selbst
als gerecht anerkennen muß. Ein Urteil aber als gerecht anzuerkennen, welches
lediglich mit dem Ausspruche des Richters begründet ist: "So sagt dein Gegner,
dem ich glaube," dies kann keinem Menschen zugemutet werden, ein solches
Urteil schilt der Unterliegende mit vollem Rechte parteiisch. Eine solche Neuerung
also weise ich entschieden zurück; eine andre Frage aber ist es, ob nicht an die
Stelle der Eideszuschiebung und der richterlichen Eidesauslage in Zweifelsfällen
(bei unvollständigem Beweise) die Benennung der Gegenpartei (und ihr würde
ich die nächsten Verwandten u. s. w., die sich jetzt des Zeugnisses entschlagen
können, durchaus gleichstellen) als Zeuge und die vom Richter nach seinem Er¬
messen angeordnete Vernehmung der einen oder der andern Partei treten kann
und soll. Welcher Gewinn in Bezug auf die Vermeidung von Meineiden sich
aus dieser Änderung ergeben würde, dürfte durch das oben über die Wirkungen
des Schiedseides und des cidbedingten Urteils gesagte erwiesen sein; und daß
diese Neuerung mit dem deutschen Rechtsbewußtsein unvereinbar wäre, läßt sich
sicherlich nicht behaupten; hier handelt es sich wesentlich um eine technische
Frage, eine Frage der Zweckmäßigkeit, worüber ein Rechtsbewußtsein des Volkes
überhaupt nicht besteht.

Oder soll es, um zum zweiten Einwände überzugehen, dem Rechtsbewußtsein
des deutschen Volkes widerstreben, wenn eine Partei angehalten wird, ausführlich
und umständlich die Wahrheit über den Gegenstand des Streites zu sagen?
Ohne alles Bedenken räumt das Gesetz den Parteien das Recht ein, jeden be¬
liebigen Dritten durch Benennung als Zeugen vor Gericht zu bringen und ihn
der "Inquisition" des Richters zu unterwerfen; und wenn eine Partei sagt:
"Mein Gegner selbst soll über die Sache Auskunft geben, ich lasse es auf sein
Zeugnis wie das eines Dritten ankommen," das soll "dem Wesen des deutschen
Zivilprozesses widersprechen"? Wahrlich, diese Behauptung ist für das deutsche
Volk wenig schmeichelhaft, sie läuft auf den Satz hinaus: es ist ein Recht der
Partei, selbst oder dnrch den Mund ihres Anwaltes das Gericht nach Herzens¬
lust zu belügen, und in dieses heilige Grundrecht darf der Gesetzgeber nicht mit
roher Hand eingreifen. Will eine Partei sich der "Inquisition" nicht unter¬
werfen, so mag sie, wie sie seither den zugeschobenen Eid zurückschob, die Ver¬
nehmung des beweispflichtigen Gegners beantragen.


Die Meineidpest,

Die erste Erwägung verdient Beachtung, wenn der Inhalt der bekämpften
Neuerung der sein sollte, daß (nach amerikanischem Muster) die Partei das Recht
haben soll, ihre eigne zeugeneidliche Vernehmung zu verlangen, welchem Rechte
auf seiten der Partei das Recht des Richters entsprechen müßte, auf Grund
der von der Partei beantragten zeugeneidlichen Vernehmung zu Gunsten eben
dieser Partei zu erkennen. Eine solche Neuerung wäre zweifellos mit der
deutschen Rechtsanschauung unvereinbar; ich habe oben als die Aufgabe des
Richters bei der freien Beweiswürdigung bezeichnet: ein Urteil zu fällen, welches
derjenige, gegen den es ergeht, wenn er ein gerecht denkender Mann ist, selbst
als gerecht anerkennen muß. Ein Urteil aber als gerecht anzuerkennen, welches
lediglich mit dem Ausspruche des Richters begründet ist: „So sagt dein Gegner,
dem ich glaube," dies kann keinem Menschen zugemutet werden, ein solches
Urteil schilt der Unterliegende mit vollem Rechte parteiisch. Eine solche Neuerung
also weise ich entschieden zurück; eine andre Frage aber ist es, ob nicht an die
Stelle der Eideszuschiebung und der richterlichen Eidesauslage in Zweifelsfällen
(bei unvollständigem Beweise) die Benennung der Gegenpartei (und ihr würde
ich die nächsten Verwandten u. s. w., die sich jetzt des Zeugnisses entschlagen
können, durchaus gleichstellen) als Zeuge und die vom Richter nach seinem Er¬
messen angeordnete Vernehmung der einen oder der andern Partei treten kann
und soll. Welcher Gewinn in Bezug auf die Vermeidung von Meineiden sich
aus dieser Änderung ergeben würde, dürfte durch das oben über die Wirkungen
des Schiedseides und des cidbedingten Urteils gesagte erwiesen sein; und daß
diese Neuerung mit dem deutschen Rechtsbewußtsein unvereinbar wäre, läßt sich
sicherlich nicht behaupten; hier handelt es sich wesentlich um eine technische
Frage, eine Frage der Zweckmäßigkeit, worüber ein Rechtsbewußtsein des Volkes
überhaupt nicht besteht.

Oder soll es, um zum zweiten Einwände überzugehen, dem Rechtsbewußtsein
des deutschen Volkes widerstreben, wenn eine Partei angehalten wird, ausführlich
und umständlich die Wahrheit über den Gegenstand des Streites zu sagen?
Ohne alles Bedenken räumt das Gesetz den Parteien das Recht ein, jeden be¬
liebigen Dritten durch Benennung als Zeugen vor Gericht zu bringen und ihn
der „Inquisition" des Richters zu unterwerfen; und wenn eine Partei sagt:
„Mein Gegner selbst soll über die Sache Auskunft geben, ich lasse es auf sein
Zeugnis wie das eines Dritten ankommen," das soll „dem Wesen des deutschen
Zivilprozesses widersprechen"? Wahrlich, diese Behauptung ist für das deutsche
Volk wenig schmeichelhaft, sie läuft auf den Satz hinaus: es ist ein Recht der
Partei, selbst oder dnrch den Mund ihres Anwaltes das Gericht nach Herzens¬
lust zu belügen, und in dieses heilige Grundrecht darf der Gesetzgeber nicht mit
roher Hand eingreifen. Will eine Partei sich der „Inquisition" nicht unter¬
werfen, so mag sie, wie sie seither den zugeschobenen Eid zurückschob, die Ver¬
nehmung des beweispflichtigen Gegners beantragen.


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[0408] Die Meineidpest, Die erste Erwägung verdient Beachtung, wenn der Inhalt der bekämpften Neuerung der sein sollte, daß (nach amerikanischem Muster) die Partei das Recht haben soll, ihre eigne zeugeneidliche Vernehmung zu verlangen, welchem Rechte auf seiten der Partei das Recht des Richters entsprechen müßte, auf Grund der von der Partei beantragten zeugeneidlichen Vernehmung zu Gunsten eben dieser Partei zu erkennen. Eine solche Neuerung wäre zweifellos mit der deutschen Rechtsanschauung unvereinbar; ich habe oben als die Aufgabe des Richters bei der freien Beweiswürdigung bezeichnet: ein Urteil zu fällen, welches derjenige, gegen den es ergeht, wenn er ein gerecht denkender Mann ist, selbst als gerecht anerkennen muß. Ein Urteil aber als gerecht anzuerkennen, welches lediglich mit dem Ausspruche des Richters begründet ist: „So sagt dein Gegner, dem ich glaube," dies kann keinem Menschen zugemutet werden, ein solches Urteil schilt der Unterliegende mit vollem Rechte parteiisch. Eine solche Neuerung also weise ich entschieden zurück; eine andre Frage aber ist es, ob nicht an die Stelle der Eideszuschiebung und der richterlichen Eidesauslage in Zweifelsfällen (bei unvollständigem Beweise) die Benennung der Gegenpartei (und ihr würde ich die nächsten Verwandten u. s. w., die sich jetzt des Zeugnisses entschlagen können, durchaus gleichstellen) als Zeuge und die vom Richter nach seinem Er¬ messen angeordnete Vernehmung der einen oder der andern Partei treten kann und soll. Welcher Gewinn in Bezug auf die Vermeidung von Meineiden sich aus dieser Änderung ergeben würde, dürfte durch das oben über die Wirkungen des Schiedseides und des cidbedingten Urteils gesagte erwiesen sein; und daß diese Neuerung mit dem deutschen Rechtsbewußtsein unvereinbar wäre, läßt sich sicherlich nicht behaupten; hier handelt es sich wesentlich um eine technische Frage, eine Frage der Zweckmäßigkeit, worüber ein Rechtsbewußtsein des Volkes überhaupt nicht besteht. Oder soll es, um zum zweiten Einwände überzugehen, dem Rechtsbewußtsein des deutschen Volkes widerstreben, wenn eine Partei angehalten wird, ausführlich und umständlich die Wahrheit über den Gegenstand des Streites zu sagen? Ohne alles Bedenken räumt das Gesetz den Parteien das Recht ein, jeden be¬ liebigen Dritten durch Benennung als Zeugen vor Gericht zu bringen und ihn der „Inquisition" des Richters zu unterwerfen; und wenn eine Partei sagt: „Mein Gegner selbst soll über die Sache Auskunft geben, ich lasse es auf sein Zeugnis wie das eines Dritten ankommen," das soll „dem Wesen des deutschen Zivilprozesses widersprechen"? Wahrlich, diese Behauptung ist für das deutsche Volk wenig schmeichelhaft, sie läuft auf den Satz hinaus: es ist ein Recht der Partei, selbst oder dnrch den Mund ihres Anwaltes das Gericht nach Herzens¬ lust zu belügen, und in dieses heilige Grundrecht darf der Gesetzgeber nicht mit roher Hand eingreifen. Will eine Partei sich der „Inquisition" nicht unter¬ werfen, so mag sie, wie sie seither den zugeschobenen Eid zurückschob, die Ver¬ nehmung des beweispflichtigen Gegners beantragen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/408>, abgerufen am 23.07.2024.