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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Die Meineidxest.

rühre sie die freie Beweiswürdigung. Diese subtile Unterscheidung verliert schon
durch die Zusätze "zunächst" und "indirekt" jeden Wert. Weiter sagt das Reichs¬
gericht: "es wäre gewiß eine nicht weniger auffällige Konsequenz, wenn man
den Zeugen, bei welchem die nachträgliche Vereidigung durch das Gesetz unter¬
sagt ist sKinder, wegen Meineids bestrafte Personen^, Bedeutung beilegen, eine
solche aber den Zeugen, deren Vereidigung nach dem Ermessen des Proze߬
gerichts unterblieben ist, versagen wollte." Die eine verkehrte Gesetzesbestimmung
wird doch nicht dadurch gerechtfertigt, daß das Gesetz an einem andern Orte
eine vielleicht noch verkehrtere Vorschrift giebt.

Betrachten wir gerade den Fall des eidesunfähigen Zeugen etwas näher:
die Aussage des unbescholtenen Mannes vor dem Zivil- wie vor dem Straf¬
richter, wenn sie nicht vereidigt ist, gilt einfach nichts; wieviel Gewicht er der
Aussage des wegen Meineids bestraften beilegen will, steht in dem Ermessen
des Richters: wenn er erklärt, durch diese Aussage von der Wahrheit einer
Thatsache vollständig überzeugt zu sein, so ist dieser Ausspruch unanfechtbar.
Und nicht bloß dies: der Richter kann nicht bloß der Aussage des cidesnnfähigen
Zeugen vollen Beweiswert beilegen, er kann anch der eidlichen Aussage des eides¬
fähigen Zeugen jeden Beweiswcrt absprechen! Es ist dies die einfache Konsequenz
aus dem Prinzip der freien Beweiswürdigung, und ich will das Prinzip um der
Konsequenz willen nicht anfechten; denn die eine und die andre Entscheidung
des Richters kann sachlich richtig sein: wenn ein vor zwanzig oder dreißig Jahren
wegen Meineids bestrafter Zeuge, der seither tadellos gelebt hat, in durchaus
glaubwürdiger Weise über eine für ihn unerhebliche Sache aussagt, so kann der
Richter dieses Zeugnis mit Recht für vollständig beweisend halten (die Ver¬
kehrtheit liegt hier auf feiten des Gesetzes, welches die Vereidigung des Zeugen
verbietet, als ob die Pflicht, eidliches Zeugnis abzulegen, ein Ehrenrecht wäre;
daneben darf dieser Zeuge als Partei im Zivilprozeß jeden zugeschobeneu oder
vom Richter auferlegten Eid in eigner Sache schwören!); wenn anderseits von
zwei eidesfähigen, noch nie bestraften Zeugen der eine ein motorischer Lump
oder Trunkenbold, der andre ein in Feindschaft mit dem Angeklagten lebender
Nachbar ist, so wird man es dem Richter nicht verübeln dürfen, wenn er trotz
der eidlichen Aussagen dieser beiden Zeugen Bedenken trägt, gegen den Ange¬
klagten ein "Schuldig" auszusprechen.

Wohl aber ist es dem Gesetzgeber sehr zu verübeln, daß er den Richter
zwingt, Zeugen zu vereidigen, die er für unglaubwürdig erklärt; es ist ihm zu
verübeln mit Rücksicht aus den Richter, und es ist ihm noch vielmehr zu ver¬
übeln mit Rücksicht auf die Parteien und vor allem auf die Zeugen; denn dieser
Zwang enthält eine Herabwürdigung des Eides, wie sie stärker kaum gedacht
werden kann. Dem Richter liegen zwei beeidigte Zeugenaussagen vor, nach
deren Inhalt der Angeklagte der ihm zur Last gelegten That schuldig sein muß;
hält er die Aussagen für wahr, so muß er den Angeklagten verurteilen; spricht


Die Meineidxest.

rühre sie die freie Beweiswürdigung. Diese subtile Unterscheidung verliert schon
durch die Zusätze „zunächst" und „indirekt" jeden Wert. Weiter sagt das Reichs¬
gericht: „es wäre gewiß eine nicht weniger auffällige Konsequenz, wenn man
den Zeugen, bei welchem die nachträgliche Vereidigung durch das Gesetz unter¬
sagt ist sKinder, wegen Meineids bestrafte Personen^, Bedeutung beilegen, eine
solche aber den Zeugen, deren Vereidigung nach dem Ermessen des Proze߬
gerichts unterblieben ist, versagen wollte." Die eine verkehrte Gesetzesbestimmung
wird doch nicht dadurch gerechtfertigt, daß das Gesetz an einem andern Orte
eine vielleicht noch verkehrtere Vorschrift giebt.

Betrachten wir gerade den Fall des eidesunfähigen Zeugen etwas näher:
die Aussage des unbescholtenen Mannes vor dem Zivil- wie vor dem Straf¬
richter, wenn sie nicht vereidigt ist, gilt einfach nichts; wieviel Gewicht er der
Aussage des wegen Meineids bestraften beilegen will, steht in dem Ermessen
des Richters: wenn er erklärt, durch diese Aussage von der Wahrheit einer
Thatsache vollständig überzeugt zu sein, so ist dieser Ausspruch unanfechtbar.
Und nicht bloß dies: der Richter kann nicht bloß der Aussage des cidesnnfähigen
Zeugen vollen Beweiswert beilegen, er kann anch der eidlichen Aussage des eides¬
fähigen Zeugen jeden Beweiswcrt absprechen! Es ist dies die einfache Konsequenz
aus dem Prinzip der freien Beweiswürdigung, und ich will das Prinzip um der
Konsequenz willen nicht anfechten; denn die eine und die andre Entscheidung
des Richters kann sachlich richtig sein: wenn ein vor zwanzig oder dreißig Jahren
wegen Meineids bestrafter Zeuge, der seither tadellos gelebt hat, in durchaus
glaubwürdiger Weise über eine für ihn unerhebliche Sache aussagt, so kann der
Richter dieses Zeugnis mit Recht für vollständig beweisend halten (die Ver¬
kehrtheit liegt hier auf feiten des Gesetzes, welches die Vereidigung des Zeugen
verbietet, als ob die Pflicht, eidliches Zeugnis abzulegen, ein Ehrenrecht wäre;
daneben darf dieser Zeuge als Partei im Zivilprozeß jeden zugeschobeneu oder
vom Richter auferlegten Eid in eigner Sache schwören!); wenn anderseits von
zwei eidesfähigen, noch nie bestraften Zeugen der eine ein motorischer Lump
oder Trunkenbold, der andre ein in Feindschaft mit dem Angeklagten lebender
Nachbar ist, so wird man es dem Richter nicht verübeln dürfen, wenn er trotz
der eidlichen Aussagen dieser beiden Zeugen Bedenken trägt, gegen den Ange¬
klagten ein „Schuldig" auszusprechen.

Wohl aber ist es dem Gesetzgeber sehr zu verübeln, daß er den Richter
zwingt, Zeugen zu vereidigen, die er für unglaubwürdig erklärt; es ist ihm zu
verübeln mit Rücksicht aus den Richter, und es ist ihm noch vielmehr zu ver¬
übeln mit Rücksicht auf die Parteien und vor allem auf die Zeugen; denn dieser
Zwang enthält eine Herabwürdigung des Eides, wie sie stärker kaum gedacht
werden kann. Dem Richter liegen zwei beeidigte Zeugenaussagen vor, nach
deren Inhalt der Angeklagte der ihm zur Last gelegten That schuldig sein muß;
hält er die Aussagen für wahr, so muß er den Angeklagten verurteilen; spricht


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[0365] Die Meineidxest. rühre sie die freie Beweiswürdigung. Diese subtile Unterscheidung verliert schon durch die Zusätze „zunächst" und „indirekt" jeden Wert. Weiter sagt das Reichs¬ gericht: „es wäre gewiß eine nicht weniger auffällige Konsequenz, wenn man den Zeugen, bei welchem die nachträgliche Vereidigung durch das Gesetz unter¬ sagt ist sKinder, wegen Meineids bestrafte Personen^, Bedeutung beilegen, eine solche aber den Zeugen, deren Vereidigung nach dem Ermessen des Proze߬ gerichts unterblieben ist, versagen wollte." Die eine verkehrte Gesetzesbestimmung wird doch nicht dadurch gerechtfertigt, daß das Gesetz an einem andern Orte eine vielleicht noch verkehrtere Vorschrift giebt. Betrachten wir gerade den Fall des eidesunfähigen Zeugen etwas näher: die Aussage des unbescholtenen Mannes vor dem Zivil- wie vor dem Straf¬ richter, wenn sie nicht vereidigt ist, gilt einfach nichts; wieviel Gewicht er der Aussage des wegen Meineids bestraften beilegen will, steht in dem Ermessen des Richters: wenn er erklärt, durch diese Aussage von der Wahrheit einer Thatsache vollständig überzeugt zu sein, so ist dieser Ausspruch unanfechtbar. Und nicht bloß dies: der Richter kann nicht bloß der Aussage des cidesnnfähigen Zeugen vollen Beweiswert beilegen, er kann anch der eidlichen Aussage des eides¬ fähigen Zeugen jeden Beweiswcrt absprechen! Es ist dies die einfache Konsequenz aus dem Prinzip der freien Beweiswürdigung, und ich will das Prinzip um der Konsequenz willen nicht anfechten; denn die eine und die andre Entscheidung des Richters kann sachlich richtig sein: wenn ein vor zwanzig oder dreißig Jahren wegen Meineids bestrafter Zeuge, der seither tadellos gelebt hat, in durchaus glaubwürdiger Weise über eine für ihn unerhebliche Sache aussagt, so kann der Richter dieses Zeugnis mit Recht für vollständig beweisend halten (die Ver¬ kehrtheit liegt hier auf feiten des Gesetzes, welches die Vereidigung des Zeugen verbietet, als ob die Pflicht, eidliches Zeugnis abzulegen, ein Ehrenrecht wäre; daneben darf dieser Zeuge als Partei im Zivilprozeß jeden zugeschobeneu oder vom Richter auferlegten Eid in eigner Sache schwören!); wenn anderseits von zwei eidesfähigen, noch nie bestraften Zeugen der eine ein motorischer Lump oder Trunkenbold, der andre ein in Feindschaft mit dem Angeklagten lebender Nachbar ist, so wird man es dem Richter nicht verübeln dürfen, wenn er trotz der eidlichen Aussagen dieser beiden Zeugen Bedenken trägt, gegen den Ange¬ klagten ein „Schuldig" auszusprechen. Wohl aber ist es dem Gesetzgeber sehr zu verübeln, daß er den Richter zwingt, Zeugen zu vereidigen, die er für unglaubwürdig erklärt; es ist ihm zu verübeln mit Rücksicht aus den Richter, und es ist ihm noch vielmehr zu ver¬ übeln mit Rücksicht auf die Parteien und vor allem auf die Zeugen; denn dieser Zwang enthält eine Herabwürdigung des Eides, wie sie stärker kaum gedacht werden kann. Dem Richter liegen zwei beeidigte Zeugenaussagen vor, nach deren Inhalt der Angeklagte der ihm zur Last gelegten That schuldig sein muß; hält er die Aussagen für wahr, so muß er den Angeklagten verurteilen; spricht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/365>, abgerufen am 22.07.2024.