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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Hellespont nämlich, nahe bei der Stadt Schlof, wurde noch in späten Jahr¬
hunderten der "Turm der Hero" am Meere gezeigt, in welchem die Jungfrau
einsam und abgeschlossen von den Menschen gelebt haben sollte. Dies einsame
Wohnen der Jungfran ist ein uraltes, häufig wiederkehrendes Märchenmotiv;
so wohnt Danae in einem einsamen Turme, so auch Mcmdane, die Mutter des
Cyrus, so Rhea Silvia, die Mutter des Romulus und Remus. Ebenso wird
auch in dem Grimmschen Märchen die schöne Rapunzel in deu Turm gesperrt,
genest aber, mit dem Königssohne heimlich vermählt, eines Zwillingspaares.
Das breite Wasser, durch welches Leander zu seiner Hero kommt, sind hier die
langen goldnen Haare Rapunzels, die sie vom Turme herabläßt und an denen
der Königssohn zu ihr gelangt, bis eines Tages die böse Zauberin, die falsche
Nonne der Herosage, dieselben abschneidet. Da fällt der Königssohn vom Turme
herab, und die Dornen stechen ihm die Augen aus. Dies Blindwerden ist, wie
überhaupt das Verlieren eines Körperteiles, ein häufig in den Märchen wieder¬
kehrendes Symbol für den Tod. Es kann sonnt keinem Zweifel unterliegen,
daß auch das Märchen von Rapunzel mit der Sage von Hero und Leander
im Grunde übereinstimmt.

Es würde Verlorne Mühe sein, wollte man versuchen, hier wiederum eine
Entstehung der deutscheu Bearbeitungen dieser Sage unmittelbar aus antiken
Quellen nachzuweisen. Die Wege, auf denen die Völker ihre poetischen Geheim¬
nisse sich mitteilen, sind dunkel, niemand ist sie noch gewandelt. Und je mehr
man derartige Sagen vergleichend betrachtet, umso näher tritt die Vermutung,
daß dieselben ein unberechenbares Alter haben und wohl zurückgehen in jene
Zeit, da die Völker, welche seit Jahrtausenden schon ihre eigne Geschichte
haben, noch in einem Stamme vereint zusammenwohnten. Am wahrschein¬
lichsten ist dies der Fall bei den Sagen, welche an religiöse Vorstellungen
anknüpfen.

Juppiter wanderte einst -- so erzählt Ovid -- mit Merkur in sterblicher
Gestalt über die Erde. Sie kamen vor der Menschen Wohnungen; tausend
waren verschlossen, nur eine nahm sie auf, die arme, kleine Hütte des alten
Paares Philemon und Baucis, welche zum Lohne dafür ein paar Wünsche thun
dürfen, während ihre reichern Nachbarn bestraft werden. Diese Geschichte kehrt
bei den Brüdern Grimm im Märchen von dem Armen und dem Reichen wieder:
Vor alten Zeiten, als der liebe Gott noch selber auf Erden wandelte, trug es
sich zu, daß er müde ward, ehe er eine Herberge erreichen konnte. Er wendet
sich an den Reichen mit der Bitte um Aufnahme für die Nacht, wird aber ab¬
gewiesen. Darauf geht er in die Hütte des Armen, der ihn verpflegt und
daher am folgenden Tage drei Wünsche thun darf. Und wie Philemons Hütte
in einen herrlichen Tempel verwandelt wurde, so erhält auch im deutschen
Märchen der Arme ein neues Haus. Die darauf folgende Bestrafung des
Reichen ist durch Einwirkung andrer Märchen weiter ausgemalt als bei Ovid.


Grenzboten III. 1886. 4

Hellespont nämlich, nahe bei der Stadt Schlof, wurde noch in späten Jahr¬
hunderten der „Turm der Hero" am Meere gezeigt, in welchem die Jungfrau
einsam und abgeschlossen von den Menschen gelebt haben sollte. Dies einsame
Wohnen der Jungfran ist ein uraltes, häufig wiederkehrendes Märchenmotiv;
so wohnt Danae in einem einsamen Turme, so auch Mcmdane, die Mutter des
Cyrus, so Rhea Silvia, die Mutter des Romulus und Remus. Ebenso wird
auch in dem Grimmschen Märchen die schöne Rapunzel in deu Turm gesperrt,
genest aber, mit dem Königssohne heimlich vermählt, eines Zwillingspaares.
Das breite Wasser, durch welches Leander zu seiner Hero kommt, sind hier die
langen goldnen Haare Rapunzels, die sie vom Turme herabläßt und an denen
der Königssohn zu ihr gelangt, bis eines Tages die böse Zauberin, die falsche
Nonne der Herosage, dieselben abschneidet. Da fällt der Königssohn vom Turme
herab, und die Dornen stechen ihm die Augen aus. Dies Blindwerden ist, wie
überhaupt das Verlieren eines Körperteiles, ein häufig in den Märchen wieder¬
kehrendes Symbol für den Tod. Es kann sonnt keinem Zweifel unterliegen,
daß auch das Märchen von Rapunzel mit der Sage von Hero und Leander
im Grunde übereinstimmt.

Es würde Verlorne Mühe sein, wollte man versuchen, hier wiederum eine
Entstehung der deutscheu Bearbeitungen dieser Sage unmittelbar aus antiken
Quellen nachzuweisen. Die Wege, auf denen die Völker ihre poetischen Geheim¬
nisse sich mitteilen, sind dunkel, niemand ist sie noch gewandelt. Und je mehr
man derartige Sagen vergleichend betrachtet, umso näher tritt die Vermutung,
daß dieselben ein unberechenbares Alter haben und wohl zurückgehen in jene
Zeit, da die Völker, welche seit Jahrtausenden schon ihre eigne Geschichte
haben, noch in einem Stamme vereint zusammenwohnten. Am wahrschein¬
lichsten ist dies der Fall bei den Sagen, welche an religiöse Vorstellungen
anknüpfen.

Juppiter wanderte einst — so erzählt Ovid — mit Merkur in sterblicher
Gestalt über die Erde. Sie kamen vor der Menschen Wohnungen; tausend
waren verschlossen, nur eine nahm sie auf, die arme, kleine Hütte des alten
Paares Philemon und Baucis, welche zum Lohne dafür ein paar Wünsche thun
dürfen, während ihre reichern Nachbarn bestraft werden. Diese Geschichte kehrt
bei den Brüdern Grimm im Märchen von dem Armen und dem Reichen wieder:
Vor alten Zeiten, als der liebe Gott noch selber auf Erden wandelte, trug es
sich zu, daß er müde ward, ehe er eine Herberge erreichen konnte. Er wendet
sich an den Reichen mit der Bitte um Aufnahme für die Nacht, wird aber ab¬
gewiesen. Darauf geht er in die Hütte des Armen, der ihn verpflegt und
daher am folgenden Tage drei Wünsche thun darf. Und wie Philemons Hütte
in einen herrlichen Tempel verwandelt wurde, so erhält auch im deutschen
Märchen der Arme ein neues Haus. Die darauf folgende Bestrafung des
Reichen ist durch Einwirkung andrer Märchen weiter ausgemalt als bei Ovid.


Grenzboten III. 1886. 4
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[0033] Hellespont nämlich, nahe bei der Stadt Schlof, wurde noch in späten Jahr¬ hunderten der „Turm der Hero" am Meere gezeigt, in welchem die Jungfrau einsam und abgeschlossen von den Menschen gelebt haben sollte. Dies einsame Wohnen der Jungfran ist ein uraltes, häufig wiederkehrendes Märchenmotiv; so wohnt Danae in einem einsamen Turme, so auch Mcmdane, die Mutter des Cyrus, so Rhea Silvia, die Mutter des Romulus und Remus. Ebenso wird auch in dem Grimmschen Märchen die schöne Rapunzel in deu Turm gesperrt, genest aber, mit dem Königssohne heimlich vermählt, eines Zwillingspaares. Das breite Wasser, durch welches Leander zu seiner Hero kommt, sind hier die langen goldnen Haare Rapunzels, die sie vom Turme herabläßt und an denen der Königssohn zu ihr gelangt, bis eines Tages die böse Zauberin, die falsche Nonne der Herosage, dieselben abschneidet. Da fällt der Königssohn vom Turme herab, und die Dornen stechen ihm die Augen aus. Dies Blindwerden ist, wie überhaupt das Verlieren eines Körperteiles, ein häufig in den Märchen wieder¬ kehrendes Symbol für den Tod. Es kann sonnt keinem Zweifel unterliegen, daß auch das Märchen von Rapunzel mit der Sage von Hero und Leander im Grunde übereinstimmt. Es würde Verlorne Mühe sein, wollte man versuchen, hier wiederum eine Entstehung der deutscheu Bearbeitungen dieser Sage unmittelbar aus antiken Quellen nachzuweisen. Die Wege, auf denen die Völker ihre poetischen Geheim¬ nisse sich mitteilen, sind dunkel, niemand ist sie noch gewandelt. Und je mehr man derartige Sagen vergleichend betrachtet, umso näher tritt die Vermutung, daß dieselben ein unberechenbares Alter haben und wohl zurückgehen in jene Zeit, da die Völker, welche seit Jahrtausenden schon ihre eigne Geschichte haben, noch in einem Stamme vereint zusammenwohnten. Am wahrschein¬ lichsten ist dies der Fall bei den Sagen, welche an religiöse Vorstellungen anknüpfen. Juppiter wanderte einst — so erzählt Ovid — mit Merkur in sterblicher Gestalt über die Erde. Sie kamen vor der Menschen Wohnungen; tausend waren verschlossen, nur eine nahm sie auf, die arme, kleine Hütte des alten Paares Philemon und Baucis, welche zum Lohne dafür ein paar Wünsche thun dürfen, während ihre reichern Nachbarn bestraft werden. Diese Geschichte kehrt bei den Brüdern Grimm im Märchen von dem Armen und dem Reichen wieder: Vor alten Zeiten, als der liebe Gott noch selber auf Erden wandelte, trug es sich zu, daß er müde ward, ehe er eine Herberge erreichen konnte. Er wendet sich an den Reichen mit der Bitte um Aufnahme für die Nacht, wird aber ab¬ gewiesen. Darauf geht er in die Hütte des Armen, der ihn verpflegt und daher am folgenden Tage drei Wünsche thun darf. Und wie Philemons Hütte in einen herrlichen Tempel verwandelt wurde, so erhält auch im deutschen Märchen der Arme ein neues Haus. Die darauf folgende Bestrafung des Reichen ist durch Einwirkung andrer Märchen weiter ausgemalt als bei Ovid. Grenzboten III. 1886. 4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/33>, abgerufen am 22.07.2024.