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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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lind Unverletzliches vortrug. Hier lernten die Grimm den echten Volkston
kennen und vermochten nun auch die ihnen von anderswo zukommenden Sagen
demgemäß zu beurteilen und zu gestalten.

Daß diese Grimmschen Märchen ursprünglich in poetischer Form gelebt
haben wie alle Volksdichtung, kann garnicht zweifelhaft sein. Die vielen in
den Märchen an besonders prägnanten Stellen noch gebliebenen Verse legen
hierfür Zeugnis ab. Sie sind also in ihrem Kern und Ursprung identisch mit
den epischen und mythischen Volksliedern der Dentschen, welche gleichzeitig mit
den Grimm ihr Freund Achin von Arnim in des Knaben Wunderhorn sammelte.

Bei den alten Griechen stehen am Anfang der Literatur die beiden Helden¬
lieder Ilias und Odyssee. Sie sind großartige Bruchstücke der griechischen Volks¬
poesie, aber sie sind eben doch nur Bruchstücke davon. Später erfahren wir
wenig mehr von den Volksliedern oder Märchen der Griechen als solchen, aber
wir wissen, daß viele Dichter Volkssagen und Volkslieder benutzt haben zu
Kunstgedichten. In einer Zeit, die in vielfacher Beziehung der modernen ähnelt,
in der Zeit der Nachfolger Alexanders des Großen, entstand unter den ge¬
lehrten, verbildeten Dichtern das Bedürfnis, zurückzukehren zur Natur und
Naturpoesie. Da wurde" manche noch lebende Sagen gesammelt, aber von den
Dichtern kunstgerecht bearbeitet und mit vielen gelehrten Zuthaten versehen.
Wenn einem solchen Dichter lebendige Volksmärchen nicht zugänglich waren, so
nahm er einen im alten Epos berührten Stoff und fabulirte selbst hinzu, was
er für schön und passend hielt. So entstanden die zahlreichen Mythen und
Märchen, welche schließlich in der lateinischen Bearbeitung des Ovid auf uns
gekommen sind.

Nun hat sich das Wunder begeben, daß von jenen altgrichischen Märchen
oder Liedern so manches in deutschem Kleide und wohlbekannt nnter uns wan¬
delt, als wäre es ein echtes deutsches Kind, in deutschem Walde geboren.

Im fünfzehnten Jahrhundert schon sang man im deutschen Volle ein Lied
folgenden Inhalts: Eine Königstochter eilt, als der Abend herabsinkt, aus ihrer
.Kemenate hinaus an das Burgthor und bittet den Wächter, sie hinauszulassen.
Sie will einem stolzen Ritter ein Nosenkränzlein bringen, lüden am Holz, wo
an einem hohlen Steine unter der Linde ein Brünnlein quillt. Der Wächter,
durch einen Mantel und rotes Gold bestochen, läßt sie ziehen, und sie kommt
noch vor der verabredete" Zeit zur Stelle. Ihr Ritter ist noch nicht da. Fran
Nachtigall sitzt in der Linde und singt. Mit ihr läßt sich die edle Maid in
eine Zwiesprach ein. Das hört aber ein kleiner Zwerg tief in dem Walde,
er eilt herzu und führt die Königstochter um ihrer weißen Hand weit hinein
in den dunkeln Wald zu seiner Mutter:


Oh Mutter, die ist mein allein!
Ich fand sie "ächten späte
Bei einem hohlen Stein!

lind Unverletzliches vortrug. Hier lernten die Grimm den echten Volkston
kennen und vermochten nun auch die ihnen von anderswo zukommenden Sagen
demgemäß zu beurteilen und zu gestalten.

Daß diese Grimmschen Märchen ursprünglich in poetischer Form gelebt
haben wie alle Volksdichtung, kann garnicht zweifelhaft sein. Die vielen in
den Märchen an besonders prägnanten Stellen noch gebliebenen Verse legen
hierfür Zeugnis ab. Sie sind also in ihrem Kern und Ursprung identisch mit
den epischen und mythischen Volksliedern der Dentschen, welche gleichzeitig mit
den Grimm ihr Freund Achin von Arnim in des Knaben Wunderhorn sammelte.

Bei den alten Griechen stehen am Anfang der Literatur die beiden Helden¬
lieder Ilias und Odyssee. Sie sind großartige Bruchstücke der griechischen Volks¬
poesie, aber sie sind eben doch nur Bruchstücke davon. Später erfahren wir
wenig mehr von den Volksliedern oder Märchen der Griechen als solchen, aber
wir wissen, daß viele Dichter Volkssagen und Volkslieder benutzt haben zu
Kunstgedichten. In einer Zeit, die in vielfacher Beziehung der modernen ähnelt,
in der Zeit der Nachfolger Alexanders des Großen, entstand unter den ge¬
lehrten, verbildeten Dichtern das Bedürfnis, zurückzukehren zur Natur und
Naturpoesie. Da wurde» manche noch lebende Sagen gesammelt, aber von den
Dichtern kunstgerecht bearbeitet und mit vielen gelehrten Zuthaten versehen.
Wenn einem solchen Dichter lebendige Volksmärchen nicht zugänglich waren, so
nahm er einen im alten Epos berührten Stoff und fabulirte selbst hinzu, was
er für schön und passend hielt. So entstanden die zahlreichen Mythen und
Märchen, welche schließlich in der lateinischen Bearbeitung des Ovid auf uns
gekommen sind.

Nun hat sich das Wunder begeben, daß von jenen altgrichischen Märchen
oder Liedern so manches in deutschem Kleide und wohlbekannt nnter uns wan¬
delt, als wäre es ein echtes deutsches Kind, in deutschem Walde geboren.

Im fünfzehnten Jahrhundert schon sang man im deutschen Volle ein Lied
folgenden Inhalts: Eine Königstochter eilt, als der Abend herabsinkt, aus ihrer
.Kemenate hinaus an das Burgthor und bittet den Wächter, sie hinauszulassen.
Sie will einem stolzen Ritter ein Nosenkränzlein bringen, lüden am Holz, wo
an einem hohlen Steine unter der Linde ein Brünnlein quillt. Der Wächter,
durch einen Mantel und rotes Gold bestochen, läßt sie ziehen, und sie kommt
noch vor der verabredete» Zeit zur Stelle. Ihr Ritter ist noch nicht da. Fran
Nachtigall sitzt in der Linde und singt. Mit ihr läßt sich die edle Maid in
eine Zwiesprach ein. Das hört aber ein kleiner Zwerg tief in dem Walde,
er eilt herzu und führt die Königstochter um ihrer weißen Hand weit hinein
in den dunkeln Wald zu seiner Mutter:


Oh Mutter, die ist mein allein!
Ich fand sie »ächten späte
Bei einem hohlen Stein!

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[0031] lind Unverletzliches vortrug. Hier lernten die Grimm den echten Volkston kennen und vermochten nun auch die ihnen von anderswo zukommenden Sagen demgemäß zu beurteilen und zu gestalten. Daß diese Grimmschen Märchen ursprünglich in poetischer Form gelebt haben wie alle Volksdichtung, kann garnicht zweifelhaft sein. Die vielen in den Märchen an besonders prägnanten Stellen noch gebliebenen Verse legen hierfür Zeugnis ab. Sie sind also in ihrem Kern und Ursprung identisch mit den epischen und mythischen Volksliedern der Dentschen, welche gleichzeitig mit den Grimm ihr Freund Achin von Arnim in des Knaben Wunderhorn sammelte. Bei den alten Griechen stehen am Anfang der Literatur die beiden Helden¬ lieder Ilias und Odyssee. Sie sind großartige Bruchstücke der griechischen Volks¬ poesie, aber sie sind eben doch nur Bruchstücke davon. Später erfahren wir wenig mehr von den Volksliedern oder Märchen der Griechen als solchen, aber wir wissen, daß viele Dichter Volkssagen und Volkslieder benutzt haben zu Kunstgedichten. In einer Zeit, die in vielfacher Beziehung der modernen ähnelt, in der Zeit der Nachfolger Alexanders des Großen, entstand unter den ge¬ lehrten, verbildeten Dichtern das Bedürfnis, zurückzukehren zur Natur und Naturpoesie. Da wurde» manche noch lebende Sagen gesammelt, aber von den Dichtern kunstgerecht bearbeitet und mit vielen gelehrten Zuthaten versehen. Wenn einem solchen Dichter lebendige Volksmärchen nicht zugänglich waren, so nahm er einen im alten Epos berührten Stoff und fabulirte selbst hinzu, was er für schön und passend hielt. So entstanden die zahlreichen Mythen und Märchen, welche schließlich in der lateinischen Bearbeitung des Ovid auf uns gekommen sind. Nun hat sich das Wunder begeben, daß von jenen altgrichischen Märchen oder Liedern so manches in deutschem Kleide und wohlbekannt nnter uns wan¬ delt, als wäre es ein echtes deutsches Kind, in deutschem Walde geboren. Im fünfzehnten Jahrhundert schon sang man im deutschen Volle ein Lied folgenden Inhalts: Eine Königstochter eilt, als der Abend herabsinkt, aus ihrer .Kemenate hinaus an das Burgthor und bittet den Wächter, sie hinauszulassen. Sie will einem stolzen Ritter ein Nosenkränzlein bringen, lüden am Holz, wo an einem hohlen Steine unter der Linde ein Brünnlein quillt. Der Wächter, durch einen Mantel und rotes Gold bestochen, läßt sie ziehen, und sie kommt noch vor der verabredete» Zeit zur Stelle. Ihr Ritter ist noch nicht da. Fran Nachtigall sitzt in der Linde und singt. Mit ihr läßt sich die edle Maid in eine Zwiesprach ein. Das hört aber ein kleiner Zwerg tief in dem Walde, er eilt herzu und führt die Königstochter um ihrer weißen Hand weit hinein in den dunkeln Wald zu seiner Mutter: Oh Mutter, die ist mein allein! Ich fand sie »ächten späte Bei einem hohlen Stein!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/31>, abgerufen am 22.07.2024.