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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Die Historienmalerei auf der Berliner Jubiläums-Kunstausstellung.

bisher nur kleine, wenig bedeutende und wenig versprechende Genrebilder von
diesem Künstler gesehen. Wie bei vielen andern, ist seine Kraft an der großen Auf¬
gabe gewachsen, deren überwiegend glückliche Bewältigung eine Fülle mühsamer
Vorstudien voraussetzt. Im Hintergrunde des Bildes steigt die Felswand empor,
welche der Tunnel durchbrochen hat. Eine dampfende Lokomotive ist in der
schwarzen Höhlung sichtbar, aus welcher sich soeben der Strom der von ihrem
Tagewerke heimkehrenden Tuunelarbeiter ergossen hat. Die Verheirateten werden
von ihren Frauen und Kindern erwartet, und dieses Wiedersehen nach der harten
Arbeit wirft einen verklärenden Schein auf die ernsten Gestalten. Die Cha¬
rakteristik der verschiednen Nationalitäten, der Italiener, Franzosen und
Deutschen, ist dem Künstler vortrefflich gelungen. Insbesondre hat er in den
Vordergrund ein paar Gestalten mit prächtigen Charakterköpfen gerückt. Man
kann vielleicht sagen, daß hie und da noch das Modellstudium etwas hervor¬
blickt, daß die durch Einzelarbeit gewonnenen Typen nicht ganz gleichmäßig der
Textur der Komposition eingefügt worden sind. Aber das sind Unebenheiten,
die sich durch die Größe der Aufgabe entschuldigen lassen und zum Teil auch
durch die Kraft der Farbe und die breite Energie der malerischen Behandlung
ausgeglichen werden. Bedenklicher ist es, daß die Komposition ungefähr in der
Mitte auseinanderklafft. Die linke Seite des Bildes wird nämlich von einer
vollkommen abgesonderten Genreszene ausgefüllt, welche, für sich betrachtet, von
pikantem Reize ist. Vor einem italienischen Wirtshause haben sich nämlich
einige jüngere Arbeiter niedergelassen, welche dem Mandolinenspiel und Gesänge
schwarzhaariger Italienerinnen lauschen. Es ist bei einem so ernsthaft durch¬
gearbeiteten Werke anzunehmen, daß sein Schöpfer den Riß in der Komposition
mit Absicht hergestellt hat. Er verband mit der Gegenüberstellung von so ver¬
schiedenartigen Szenen die moralische Tendenz, den veredelnden Einfluß des Fa¬
milienlebens auf die Männer der Arbeit im Gegensatz zu dem frivolen und ent¬
nervenden Wirtshaustreiben zu zeigen. So ist wenigstens ein geistiger Zu¬
sammenhang vorhanden, wenn auch die künstlerische Einheit darüber verloren
gegangen ist. Gleichwohl ist dieses Bild eine bedeutende Schöpfung, die einen
Platz in einer öffentlichen Sammlung verdient, schon deshalb, weil der Staat
sowie die einzelnen Sammlnngsvorstände die Pflicht haben, derartige, im besten
Sinne ideale Bestrebungen materiell zu unterstützen.

Ungleich einfacher in der Komposition, aber in: Motiv ergreifender und
dramatischer ist das Gemälde des Königsberger Akademieprofessors Emil Neide,
der übrigens durchaus nichts Akademisches an sich hat. Früher wohl, als er
der Meinung lebte, daß Mythologie und Allegorie die seiner Begabung am
meisten zusagenden Gebiete wären. In Wirklichkeit hat er mit seinen Bildern
dieser Gattung niemals einen rechten Erfolg erzielt, weil es seinem etwas düstern
Kolorit an Klarheit und olympischer Heiterkeit fehlt. Er ist vielmehr der be¬
rufene Maler und Darsteller tragischer Konflikte, unheimlicher Ereignisse, und


Grenzboten III. 1836. 28
Die Historienmalerei auf der Berliner Jubiläums-Kunstausstellung.

bisher nur kleine, wenig bedeutende und wenig versprechende Genrebilder von
diesem Künstler gesehen. Wie bei vielen andern, ist seine Kraft an der großen Auf¬
gabe gewachsen, deren überwiegend glückliche Bewältigung eine Fülle mühsamer
Vorstudien voraussetzt. Im Hintergrunde des Bildes steigt die Felswand empor,
welche der Tunnel durchbrochen hat. Eine dampfende Lokomotive ist in der
schwarzen Höhlung sichtbar, aus welcher sich soeben der Strom der von ihrem
Tagewerke heimkehrenden Tuunelarbeiter ergossen hat. Die Verheirateten werden
von ihren Frauen und Kindern erwartet, und dieses Wiedersehen nach der harten
Arbeit wirft einen verklärenden Schein auf die ernsten Gestalten. Die Cha¬
rakteristik der verschiednen Nationalitäten, der Italiener, Franzosen und
Deutschen, ist dem Künstler vortrefflich gelungen. Insbesondre hat er in den
Vordergrund ein paar Gestalten mit prächtigen Charakterköpfen gerückt. Man
kann vielleicht sagen, daß hie und da noch das Modellstudium etwas hervor¬
blickt, daß die durch Einzelarbeit gewonnenen Typen nicht ganz gleichmäßig der
Textur der Komposition eingefügt worden sind. Aber das sind Unebenheiten,
die sich durch die Größe der Aufgabe entschuldigen lassen und zum Teil auch
durch die Kraft der Farbe und die breite Energie der malerischen Behandlung
ausgeglichen werden. Bedenklicher ist es, daß die Komposition ungefähr in der
Mitte auseinanderklafft. Die linke Seite des Bildes wird nämlich von einer
vollkommen abgesonderten Genreszene ausgefüllt, welche, für sich betrachtet, von
pikantem Reize ist. Vor einem italienischen Wirtshause haben sich nämlich
einige jüngere Arbeiter niedergelassen, welche dem Mandolinenspiel und Gesänge
schwarzhaariger Italienerinnen lauschen. Es ist bei einem so ernsthaft durch¬
gearbeiteten Werke anzunehmen, daß sein Schöpfer den Riß in der Komposition
mit Absicht hergestellt hat. Er verband mit der Gegenüberstellung von so ver¬
schiedenartigen Szenen die moralische Tendenz, den veredelnden Einfluß des Fa¬
milienlebens auf die Männer der Arbeit im Gegensatz zu dem frivolen und ent¬
nervenden Wirtshaustreiben zu zeigen. So ist wenigstens ein geistiger Zu¬
sammenhang vorhanden, wenn auch die künstlerische Einheit darüber verloren
gegangen ist. Gleichwohl ist dieses Bild eine bedeutende Schöpfung, die einen
Platz in einer öffentlichen Sammlung verdient, schon deshalb, weil der Staat
sowie die einzelnen Sammlnngsvorstände die Pflicht haben, derartige, im besten
Sinne ideale Bestrebungen materiell zu unterstützen.

Ungleich einfacher in der Komposition, aber in: Motiv ergreifender und
dramatischer ist das Gemälde des Königsberger Akademieprofessors Emil Neide,
der übrigens durchaus nichts Akademisches an sich hat. Früher wohl, als er
der Meinung lebte, daß Mythologie und Allegorie die seiner Begabung am
meisten zusagenden Gebiete wären. In Wirklichkeit hat er mit seinen Bildern
dieser Gattung niemals einen rechten Erfolg erzielt, weil es seinem etwas düstern
Kolorit an Klarheit und olympischer Heiterkeit fehlt. Er ist vielmehr der be¬
rufene Maler und Darsteller tragischer Konflikte, unheimlicher Ereignisse, und


Grenzboten III. 1836. 28
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[0225] Die Historienmalerei auf der Berliner Jubiläums-Kunstausstellung. bisher nur kleine, wenig bedeutende und wenig versprechende Genrebilder von diesem Künstler gesehen. Wie bei vielen andern, ist seine Kraft an der großen Auf¬ gabe gewachsen, deren überwiegend glückliche Bewältigung eine Fülle mühsamer Vorstudien voraussetzt. Im Hintergrunde des Bildes steigt die Felswand empor, welche der Tunnel durchbrochen hat. Eine dampfende Lokomotive ist in der schwarzen Höhlung sichtbar, aus welcher sich soeben der Strom der von ihrem Tagewerke heimkehrenden Tuunelarbeiter ergossen hat. Die Verheirateten werden von ihren Frauen und Kindern erwartet, und dieses Wiedersehen nach der harten Arbeit wirft einen verklärenden Schein auf die ernsten Gestalten. Die Cha¬ rakteristik der verschiednen Nationalitäten, der Italiener, Franzosen und Deutschen, ist dem Künstler vortrefflich gelungen. Insbesondre hat er in den Vordergrund ein paar Gestalten mit prächtigen Charakterköpfen gerückt. Man kann vielleicht sagen, daß hie und da noch das Modellstudium etwas hervor¬ blickt, daß die durch Einzelarbeit gewonnenen Typen nicht ganz gleichmäßig der Textur der Komposition eingefügt worden sind. Aber das sind Unebenheiten, die sich durch die Größe der Aufgabe entschuldigen lassen und zum Teil auch durch die Kraft der Farbe und die breite Energie der malerischen Behandlung ausgeglichen werden. Bedenklicher ist es, daß die Komposition ungefähr in der Mitte auseinanderklafft. Die linke Seite des Bildes wird nämlich von einer vollkommen abgesonderten Genreszene ausgefüllt, welche, für sich betrachtet, von pikantem Reize ist. Vor einem italienischen Wirtshause haben sich nämlich einige jüngere Arbeiter niedergelassen, welche dem Mandolinenspiel und Gesänge schwarzhaariger Italienerinnen lauschen. Es ist bei einem so ernsthaft durch¬ gearbeiteten Werke anzunehmen, daß sein Schöpfer den Riß in der Komposition mit Absicht hergestellt hat. Er verband mit der Gegenüberstellung von so ver¬ schiedenartigen Szenen die moralische Tendenz, den veredelnden Einfluß des Fa¬ milienlebens auf die Männer der Arbeit im Gegensatz zu dem frivolen und ent¬ nervenden Wirtshaustreiben zu zeigen. So ist wenigstens ein geistiger Zu¬ sammenhang vorhanden, wenn auch die künstlerische Einheit darüber verloren gegangen ist. Gleichwohl ist dieses Bild eine bedeutende Schöpfung, die einen Platz in einer öffentlichen Sammlung verdient, schon deshalb, weil der Staat sowie die einzelnen Sammlnngsvorstände die Pflicht haben, derartige, im besten Sinne ideale Bestrebungen materiell zu unterstützen. Ungleich einfacher in der Komposition, aber in: Motiv ergreifender und dramatischer ist das Gemälde des Königsberger Akademieprofessors Emil Neide, der übrigens durchaus nichts Akademisches an sich hat. Früher wohl, als er der Meinung lebte, daß Mythologie und Allegorie die seiner Begabung am meisten zusagenden Gebiete wären. In Wirklichkeit hat er mit seinen Bildern dieser Gattung niemals einen rechten Erfolg erzielt, weil es seinem etwas düstern Kolorit an Klarheit und olympischer Heiterkeit fehlt. Er ist vielmehr der be¬ rufene Maler und Darsteller tragischer Konflikte, unheimlicher Ereignisse, und Grenzboten III. 1836. 28

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/225>, abgerufen am 22.07.2024.